© Timofey Kolesnikov – Alpha Classics

Ich bin immer ich

Wenn sie die Bühne betritt, scheint die Zeit stehen zu bleiben. Asmik Grigorian singt nicht, spielt nicht, sie lebt die Kunst und ist mit jeder Faser ihres Daseins ganz Bühnenwesen, Theaterwesen. In der Premiere von Verdis Don Carlo singt sie erstmals in ihrem Leben die Rolle der Elisabetta. Was sie sich vom Regisseur erwartet, über echte und selbstinszenierte Diven und woran sie auf der Bühne mitunter denkt, das erzählt sie Oliver Láng im Interview.


ol Fangen wir mit Ihrem letzten Soloabend an der Wiener Staatsoper an, A Diva is Born. Viele haben sich ja bezüglich des Titels gefragt: Wie sieht sich Asmik Grigorian? Ist sie eigentlich eine Diva?

ag Ja und nein. Es hängt davon ab, worüber wir sprechen: Wenn Sie mich fragen, ob ich Dinge wie Fotoshootings, Interviews, Mich-daneben-Benehmen mag, dann lautet die Antwort ganz klar: Nein! Ich mag diese Selbstinszenierungen und Maskierungen nicht, und ich brauche sie auch nicht, ich bin ja ohnedies eine Diva! (lacht)

ol Aber braucht der Opernbetrieb Diven?

ag Ich glaube, dass die Oper solche wie die oben beschriebenen Diven nicht braucht. Aber vielleicht brauchen die selbstinszenierten Diven die Oper? Denn sie ist ein guter Ort, um all seine Eitelkeiten zeigen zu können. Es ist natürlich auch eine Sache der persönlichen Einstellung, ob man das alles mag oder nicht. Es ist wie beim Dresscode, den manche einfordern und als wichtig erachten, also die Frage, was man als Sängerin tragen soll oder angeblich muss. Ich war immer eine, die das gebrochen hat, einfach, weil ich keinen Sinn hinter all dem sehe.

ol Aber vielleicht hilft eine gewisse Form der Selbstinszenierung den Künstlerinnen und Künstlern? Es ist wie eine Verkleidung, die das Private verbirgt.

ag Ich weiß nicht… Ich habe einmal mit einer Regisseurin, die mich mein ganzes Leben lang kennt, sehr intensiv darüber diskutiert. Sie meinte höchst eindringlich, dass ich Asmik Grigorian von Asmik trennen muss, also die öffentlich agierende Sängerin von der Privatperson, weil ich sonst im Opernbetrieb nicht überleben könnte. Aber… ich habe das nie getan, nicht in meinem Opernleben und nicht in meinem echten Leben. Immer bin ich Asmik und gleichzeitig die Sängerin Asmik Grigorian. Diese beiden gehören einfach zusammen, haben sich gemeinsam entwickelt und sind miteinander verbunden. Niemals habe ich versucht, mich dadurch zu schützen, dass ich etwas vorspiele. Ich bin immer ich. Das ist etwas, das vielleicht besonders ist und das die intensive Beziehung, die mich mit meinem Publikum verbindet, ausmacht. Denn die Zuhörerinnen und Zuhörer verstehen und schätzen diese Ehrlichkeit. Keine Masken! Ich denke, es ist mutiger, sich zu zeigen, wie man ist. Und das ist letztendlich auch viel wichtiger als das ganze Drumherum.



 

ol Hat sich das Divo/Diva-Selbstverständnis in den letzten Jahrzehnten geändert? Ich kann mich an den Wiener Abschiedsabend von Carlo Bergonzi erinnern, da war er ganz ein Divo – aber im guten Sinne.

ag Ich denke, da geht es auch um unterschiedliche Arten von Persönlichkeiten. Ich bin ja nicht gegen Diven – denken Sie nur an Maria Callas. Wenn sie einen Raum betrat, veränderte sich alles, einfach nur, weil sie war, wer sie war und wie sie war. Sie spielte keine Diva, sie war eine. Ich bin aber gegen den heutigen Trend, dass jede Zweite auf Insta­gram ihren Busen herzeigt und zu einer »Diva« wird. Diese Art von Diven meine ich. Die wahre Diva, das ist die, die eine besondere Energie hat und nicht vorgeben muss, etwas zu sein, was sie nicht ist. Denken Sie an Karita Mattila, sie hat es nicht nötig, etwas zu spielen. Neben ihr werden alle anderen ganz klein, ohne dass sie etwas Besonderes tut. Das sind die echten Diven für mich!

ol Diese besondere Energie, von der Sie sprachen – die besitzen gerade Sie ja auch! Ist dieses Charisma erlernbar? Oder ist es angeboren?

ag Zunächst: Vielen Dank! Und zweitens: Beides ist der Fall. Charisma ist ein Geschenk, eine Gabe, die man bekommen hat. Aber es ist wie mit allen Gaben, man muss sich um sie kümmern, sie pflegen, entwickeln und wachsen lassen.

»Inzwischen habe ich glücklicherweise
gelernt, mich nicht nur als Objekt
des Zweifels zu sehen, sondern ich beginne
auch zu erkennen, dass es einige Dinge
im Leben gibt, die ich beherrsche.«

ol Bei Ihrem A Diva is Born-Abend haben Sie auch sehr harte Kritik zitiert, die Sie sich anhören mussten. Wie gehen Sie mit solcher um? Macht sie Sie stärker? Sie verletzt Sie aber natürlich auch?

ag Wiederum ist beides der Fall. Sie verletzt mich, weil ich eine super-sensible Person bin. Und daher hat diese Art von Kritik eine wirklich große Zerstörungskraft. Gleichzeitig ist es so, dass ich eine Superkraft habe und die in so einem Fall jedes Mal aktiviert wird. Ich bin nämlich eine sehr gute Sammlerin meiner selbst. Das bedeutet: Selbst wenn ich in 1000 Stücke zerberste, weiß ich, wie ich alle Teile aufsammeln und wieder zusammensetzen kann. Und das macht mich stärker!

ol Alle Künstlerinnen und Künstler leiden an Selbstzweifel…

ag … naja, nicht alle!

ol Also: Viele Künstlerinnen und Künstler leiden an Selbstzweifel. Sind diese im Laufe Ihrer Karriere größer oder kleiner geworden? Heute haben Sie einerseits mehr Erfahrung, andererseits auch mehr Einblick in die Komplexität des Opernbetriebs.

ag Als ich jung war, bestand ich ausschließlich aus Selbstzweifeln, etwas anderes gab es gar nicht! Inzwischen habe ich glücklicherweise gelernt, mich nicht nur als Objekt des Zweifels zu sehen, sondern ich beginne auch zu erkennen, dass es einige Dinge im Leben gibt, die ich beherrsche. Und dass ich diesem Wissen und Können vertrauen kann. Beim Diva-Projekt hatte ich freilich schon meine Zweifel. Es war ja etwas ganz Neues! Es standen alle Möglichkeiten offen: Dass es gut wird – oder dass es danebengeht. Alleine schon die Lady-Gaga-Lieder waren eine große Sache. Viele akademische Sängerinnen und Sänger glauben ja, dass es keine Musik gibt, die sie nicht singen können. Es ist jedoch eine ganz andere Technik, und man muss viel Energie darauf verwenden, das zu lernen.

ol Apropos Lady Gaga: Sie sangen bei Ihrem Abend Puccini und Lady Gaga. Was macht für Sie gute Musik aus?

ag Man kann diese Dinge, Verdi, Puccini, die heutige Pop-Musik nicht miteinander vergleichen. Puccini… Wenn Sie nur eine seiner Opern, Madama Butterfly etwa, nehmen, so enthält diese so viel, dass Sie daraus die nächsten fünf Jahre Pop-Songs auf dem höchsten Level produzieren könnten. Für mich zählt aber in erster Linie nur eine Frage: Berührt es einen oder nicht? Das ist für mich die generelle Frage aller Kunst: Geht mir das Erlebte nahe?



 

ol Bleiben wir bei der Kunst im Allgemeinen. Sie sind eine brillante Sängerin, eine Ausnahme-Darstellerin, den Abendzettel Ihres Konzerts im Mai 2024 haben Sie – augenzwinkernd – auch selbst gestaltet. Ist Kunst unteilbar? Würden Sie gerne auch inszenieren?

ag Ich denke, dass jeder künstlerische Ausdruck etwas Eigenes ist. Aber, ja, ich könnte mir durchaus vorstellen zu inszenieren. Aber wenn, dann müsste ich viel Zeit damit verbringen, das wirklich zu erlernen und zu beherrschen. Ich kann singen, weil ich 20 Jahre Erfahrung habe, 20 Jahre! Daher könnte ich heute oder morgen nicht einfach eine gute Regisseurin sein, nur weil ich eine gute Künstlerin bin – es fehlt mir die Zeit des Lernens. Es ist ein eigenständiger Beruf, zu dem es so viel braucht: Kenntnisse, Wissen, Handwerk – und auch noch mehr: Man muss ein Team finden, man muss das »Geschäft« beherrschen. Ein Riesending!

ol In der Staatsopern-Turandot-Inszenierung sitzen Sie vor Ihrem ersten Ton etwa eine Viertelstunde lang fast regungslos am Bett und blicken vielsagend schräg nach unten. Woran denken Sie in diesen 15 Minuten eigentlich? An Ihren ersten Ton?

ag (lacht) Ach, das ist ganz unterschiedlich. Manchmal höre ich den anderen auf der Bühne einfach nur zu, manchmal denke ich an ganz alltägliche Dinge: Habe ich für die Abreise alles eingepackt? Was gebe ich meiner Tochter morgen zum Frühstück?

ol Und wie viel Schauspiel steckt in dem, was Sie auf der Bühne machen? Wie viel Turandot, um ein Beispiel zu nennen, sind Sie?

ag Ich denke überhaupt nicht ans Spielen. Ich bringe mich einfach in Stimmung – und dann macht mein Körper von selbst, was die Szene braucht. Ich habe einfach Spaß!

ol In der Neuproduktion von Don Carlo arbeiten Sie erstmals mit Kirill Serebrennikov zusammen. Was erwarten Sie sich von ihm?

ag Ich erwarte niemals etwas. Ich freue mich einfach darauf und bin glücklich.

ol Sie singen die Elisabetta erstmals in Ihrem Leben. Inwiefern entwickeln Sie noch vor Beginn der Proben ein szenisches Rollenbild, eine Charakterdefinition der Figur, die Sie darstellen?

ag Im Allgemeinen versuche ich genau das zu vermeiden. Ich bemühe mich, vorab den Charakter einer Figur so wenig wie möglich mit meinen eigenen Vorstellungen anzureichern. Denn was tun, wenn die Proben beginnen und der Regisseur einen komplett anderen Charakter im Kopf und entwickelt hat? Ich warte also die Proben ab und konzentriere mich darauf, die musikalische Seite zu studieren und mir das entsprechende Material anzueignen.

ol Und warum die Elisabetta als neue Partie? Weil sich die Gelegenheit ergab? Weil die Umgebungsvariablen stimmen?

ag Ganz einfach: Weil es eine wunderschöne Musik ist und Don Carlo meine liebste Verdi-Oper.

ol Don Carlo ist ein Werk mit zahlreichen Schichten: Es geht um Verantwortung, Freundschaft, Liebe, Vernunft und vieles mehr. Was spricht Sie am meisten an? Elisabettas Konflikt? Die Politik?

ag Ich interessiere mich eigentlich immer mehr für das zutiefst Menschliche als für die politischen Aspekte einer Oper.

ol Ich möchte zuletzt noch einmal aufs Selbstvertrauen zurückkommen: Macht es Sie stolz, dass der Name Asmik Grigorian für ausverkaufte Häuser sorgt? Schenkt es Glück?

ag Ich würde es so sagen: Der gute Kartenverkauf macht mich extrem glücklich. Nicht stolz, denn es sind an diesen Abenden so viele Personen beteiligt, die für das Zustandekommen arbeiten, dass ich den Erfolg nicht nur als den meinen bezeichnen kann. Glücklich macht es mich aber, weil ich keine sozialen Medien bediene – und dennoch für ausverkaufte Säle sorgen kann. So kann ich mit der Vorstellung brechen, dass man, um überhaupt sichtbar zu sein, täglich online sein Mittagessen teilen muss. So ist es aber nicht! Wenn man erfolgreich sein will, muss man in dem gut sein, das man macht. Verstehen Sie mich richtig: Ich habe überhaupt nichts gegen soziale Medien, sie haben auch viele positive Seiten. Aber man darf nicht glauben, dass der persönliche Erfolg von ihnen abhängt.