© Peter Mayr
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»Ich bin ein öffentlicher Bekenner«

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Florian Boesch zählt nicht nur in Österreich, sondern international zu den wichtigsten Interpreten quer durch alle Genres. Seine Liederabende können ebenso bestechend intensive Erlebnisse bieten, wie er im Musiktheater charismatische Impulse setzt. Im Mahler-Projekt Von der Liebe Tod übernimmt er die Bariton-Partie und gibt damit sein Debüt an der Wiener Staatsoper. Doch ist er nicht nur ein großer Sänger, sondern auch ein brillanter Gesprächspartner, der im Nachdenken über Welt und Kultur einen großen Bogen zu spannen versteht.

Singen ist einerseits eine physische, andererseits eine psychische Herausforderung. Im Falle der Kindertotenlieder, die Teil des Mahler-Abends sind: welche wiegt schwerer?

FLORIAN BOESCH Ich habe es immer vermieden, diese Lieder aufgrund der ihnen innewohnenden Thematik zu singen, ja, ich habe sie aus diesem Grund für unsingbar gehalten – zumindest für mich. Das hat mit meiner Auffassung von Interpretation zu tun. Ich arbeite aus der Identifikation heraus und kann nicht den Blickwinkel eines nur berichtenden Dritten einnehmen. Ich kann also die Lieder nicht einfach »schön« singen, das ist keine Option für mich. Es wäre übrigens auch nicht im Sinne Mahlers, der aus dem damals herrschenden Kanon ausbrach und Artikulationen wie »Mit äußerster Kraft« oder »An die Grenze gehen« forderte. Also: Ich unterwerfe das Material nicht dem Singen, sondern mache es genau umgekehrt, ich nehme es in den Körper und dann macht es etwas mit mir. Was dabei genau passieren wird, das kann ich noch nicht sagen. Fest steht, dass ich mich mit dieser Produktion weit hinauslehne. Aber das gehört zu meinem Temperament und zu meiner Einstellung: das öffentliche Bekennen meiner Menschlichkeit ist mein zentrales Thema und es ist nicht etwas, was mir nur zufällig passiert. Und die mentale Herausforderung bei den Kindertotenliedern ist eine Dimension, die selbst jene großen Lied-Zyklen, die »ans Eingemachte« gehen, sogar noch in den Schatten stellt.

Doch braucht es nicht so etwas wie eine schützende Barriere, die Sie vor dem radikalen Zugriff des Werkes auf Ihre Seelenwelt schützt? Weil sonst ein Verglühen im Raum steht? Ich kenne Dirigenten, die ganz bewusst eine diesbezügliche Schranke errichten.

FB Sie kennen aber wie ich auch Dirigenten, die sich während einer Aufführung der Tränen nicht erwehren können. Es ist ohne Zweifel ein Borderlinen: einen Teil der Herstellungsnotwendigkeiten über die Grenze zu schicken und einen anderen doch noch sichern. Schon beim Erarbeiten und Üben stellt sich genau diese Frage: Wie viel kann ich noch singen, wie viel von meiner sogenannten klassischen Tonherstellung und Artikulation bleibt noch, wenn ich all das Tragische der Kindertotenlieder in meinen Körper hineinlasse? In den letzten Jahren machte ich mehrere Arbeiten, bei denen ich die Regeln der genannten klassischen Artikulation klar überschritten habe. Wozzeck etwa. Aber auch bei Händels Saul zeigte ich den Verfall des Protagonisten stimmlich: Mein sterbender König war weit von einer historisch informierten Händel-Praxis entfernt. Doch dramaturgisch und musikdramatisch war dieser Zugang gerechtfertigt.

Dieses intensive Ausloten des Menschlichen – liegt für Sie gerade auch darin ein Anreiz Ihrer Arbeit?

FB Das ist eben wieder die Frage nach dem Temperament. Ich bin ein öffentlicher Bekenner: Ich verstehe meinen Beruf so, dass es meine Aufgabe ist, mich zur tiefen Menschlichkeit zu bekennen. Durchaus auch stellvertretend für viele andere, denen dies nicht möglich ist. Denn wer geht schon herum und spricht an: Ich habe etwas verloren, ich liebe etwas, ich habe Angst? Das aber sind alles Kategorien unserer Humanität, die uns allen zu eigen sind. Und in diesen Kategorien spielt sich meine Arbeit ab. Ich spreche das alles an, ermögliche Empathie, Resonanz. Und kann womöglich Menschen dazu bewegen, dass sie sagen: »Ja, auch ich!« Und damit sind sie nicht mehr allein. Ich stelle mich also zur Verfügung, in den Abgrund zu schauen und mich auch Aspekten des Horrors unserer Existenz zu stellen. Denn wozu brauchte man uns Künst- lerinnen und Künstler sonst?

Sie ermöglichen also dem Publikum eine Katharsis?

FB Das könnte ich mir vorstellen. Wobei das ganz an den Zuschauerinnen und Zuschauern liegt, die mit dem Erlebten machen dürfen, was sie wollen. Natürlich kenne ich auch die andere Seite, nämlich wenn ich Publikum bin. Dann werde ich mit der Möglichkeit beschenkt, in mich hineinzugehen und an einer Stelle nachzuspüren, nachzuforschen, wo ich zuvor vielleicht noch nie war. Unlängst las ich einen Satz, der in Renate Welshs Buch Hoffnung lebt vom Trotzdem steht. Nach einer Schreibwerkstätte, die sie veranstaltet hat, schrieb ihr ein zwölfjähriger Schüler folgenden Satz: »Was Sie da schreiben, habe ich auch schon fast gedacht. Nur hätte ich nicht gewusst, dass ich es gedacht habe, wenn Sie es nicht geschrieben hätten.« Das ist doch gigantisch! Das macht einen ganz großen Teil unserer künstlerischen Arbeit aus! Wir stellen uns mit Eichendorff, Da Ponte, Goethe, Rückert, Schubert, Schumann, Mozart, Mahler hin und im Zuschauerraum sitzt jemand, der sich denkt: Ja, genau das habe ich schon fast gedacht und gespürt, aber jetzt weiß ich es. Jetzt habe ich es erkannt, jetzt bin ich erkannt. Ich bin in meiner Menschlichkeit verstanden worden. Ergo dessen bin ich nicht allein...

Das Publikum hat also die Funktion des Ansprechpartners?

FB Aus meiner Sicht hat das Publikum eine ganz wichtige Aufgabe, es nimmt mein Singen, mein Sprechen an und hört zu. So wird es mir ermöglicht, dass ich mir selbst nicht zuhören muss und ich dadurch ganz im Moment, in der Gegenwart bleiben kann. Die Gegenwärtigkeit meines Tuns ist also bedingt durch ein zuhörendes Gegenüber. Würde ich mir selber zuhören, dann geriete ich augenblicklich in die Vergangenheit. Das merke ich bereits, wenn ich eine CD aufnehme und keine Zuhörer vor mir habe.

Sie sprachen von der völligen Freiheit der Zuhörenden. Gibt es auch die völlige Freiheit des Interpretierenden?

FB Absolut! Ich als Interpret darf machen, was ich will. Diese Freiheit ist ganz wichtig in der nachschaffenden Kunst! Das Werk eines Komponisten ist wie ein Gefäß, aus dem wir herausholen dürfen, was wir darin finden. Und was immer es ist: es war darin. Wenn also jemand nach hunderten Aufführungen eines Liederzyklus quer durch die Musikgeschichte etwas ganz Neues entdeckt, dann war es immer schon da. Das ist das Magische an einem Kunstwerk. Der Gradmesser, ob das nun gerechtfertigt ist oder nicht, liegt allein in der Ehrlichkeit. Die eitle Pose, das Tun-als-Ob ist der Untergang dieses Prinzips.

Und diese Ehrlichkeit ist es, die das Publikum erkennt?

FB Ich glaube, dass unsere evolutionäre Erziehung dazu führt, dass wir Echtes erkennen. Das ist seit Millionen von Jahren so. Wenn Sie auf der Straße gehen und Ihr Bruder geht 60 Meter vor Ihnen, dann erkennen Sie ihn in einer halben Sekunde. Und das erstaunliche ist, dass Sie sogar wissen, wie es ihm geht. Das brachte uns die Evolution, die uns zwang zu spüren: Das in der Ferne, ist das gefährlich? Gut? Wahr? Mit Michael Haneke sprach ich einmal sehr lange darüber, wie man in einem Opernhaus einem Publikum Gefühle und Zustände verständlich machen kann. Die einfache, große Pose – die ist gar nichts, die kann alles bedeuten. Aber wenn jemand auf der Bühne etwas Echtes macht und eine Atmosphäre schafft, in der sich das Publikum einen Zentimeter nach vorne beugt: dann ist jede Distanz überwunden. Dann kann man auf der Bühne flüstern, ganz klein spielen – und dennoch wird alles verstanden.

Und dieses Echte ist zeitlos?

FB Selbst das Echte macht einen Wandel durch. Denken wir zum Beispiel an Alexander Moissi, wie faszinierend er war und wie sich unsere Hörgewohnheit – es gibt ja Aufnahmen von ihm – geändert hat. Auch das Heutige wird irgendwann als nicht mehr treffend angesehen werden, denn nur ganz Wenigen gelingt durch ihre herausragende, radikale Gültigkeit ein Sprung aus dem engen Rahmen der Gegenwart: einer Callas, einem Oskar Werner. Wie sagte Nikolaus Harnoncourt? In 15 Jahren lachen alle darüber, was wir machen.

Stört Sie das?

FB Überhaupt nicht. Ich versuche in meiner Zeit, für meine Zeit die Aufgabe, die ich mir gestellt habe, zu lösen. Damit bin ich glücklich.

In und für die eigene Zeit: bedeutet das, dass Sie bewusst versuchen, die Zeit einzufangen?

FB Ich bin ja ein Produkt meiner Zeit. Ich kann mich ihr nicht entziehen oder aus meinem Kontext heraustreten. Das, was aus der mich umgebenden Welt in meine Arbeit einfließt, ist nicht gesteuert, sondern passiert automatisch. Sonst wäre ich ja Regisseur.

Und dieses Brennen auf höchstem Ehrlichkeitslevel: laugt es nicht aus? Auf lange Sicht?

FB Nicht jede Produktion, nicht jedes Werk fordert in gleichem Maße. Manches kostet mich auf der Brenn-Ebene weniger, manches mehr, mitunter geht es nur darum, etwas mit allen Mitteln gut zu machen. Eine Winterreise aber, eine Dichterliebe, das geht immer ans Eingemachte. Sollte ich einmal die Energie, Neugierde, Spontaneität nicht mehr haben und eines dieser Stücke nur noch routiniert singen, ist es Zeit, damit aufzuhören. Die Gefahr sehe ich allerdings nicht. Denn wann immer ich eines dieser besonderen Werke anrühre, beginnt es mich nach wenigen Takten so maßlos zu interessieren, dass ich nichts mehr möchte als mich darauf einzulassen. Insofern brenne ich gerne von beiden Seiten. Ich fordere mich gerne und habe zum Glück kein Problem damit, was die moderne Kindererziehung Anstrengungsbereitschaft nennt. Ich strenge mich in der Hoffnung und dem Glauben an, dass etwas dabei herauskommt.

All das, was Sie beschreiben, ist ein Gegengewicht zu vielem, was uns heute auf diversen Medien- und Unterhaltungsplattformen berieselt. Oper, Theater, Musik kann etwas, was andere nicht können?

Wenn es nicht so wäre, gäbe es uns ja nicht. Zum Beispiel: Das Genre des Liedgesangs wird seit jeher totgesagt, aber es ist immer noch da. Ebenso die Oper. Sie ist ja eigentlich das Absurdeste, das man sich nur denken kann. Und dennoch: Wir alle arbeiten uns seit Jahrhunderten immer und immer wieder daran ab, ein paar Seiten von Mozart und Da Ponte neu zu befragen und darüber nachzudenken, ob sie noch für uns gültig sind. Und was sie für unsere Identität bedeuten. Absurd! Aber das Absurde an sich hat im Beschreibungsversuch unserer Humanität eine funktionierende Sonderstellung. Nicht nur im Bereich der Kunst. Denken Sie nur: Menschen hängten irgendwann ein Gewicht an ein Seil und schleuderten es mit einer Drehbewegung möglichst weit: der Hammerwurf. Und im Laufe der Geschichte haben viele ihre besten Jahre darauf verwendet, dieses Gewicht noch einen Zentimeter weiter zu werfen. Alles muss sich dem unterwerfen: was man isst, wie man lebt, wie viel man schläft. Alles nur für einen Zentimeter! Und genauso ist es mit der Kunst. Immer aufs Neue versuchen wir uns zum Beispiel an einem Zyklus von 24 Liedern von Schubert und an dem Text von Wilhelm Müller und probieren, es noch besser, noch ehrlicher zu gestalten. Stellen immer weiter Fragen an uns und die Welt. Das scheint absurd, ist aber zutiefst wertvoll und menschlich!


VON DER LIEBE TOD
Das klagende Lied. Kindertotenlieder.

29. September / 2. / 5. / 7. / 10. / 13. Oktober 2022
Musikalische Leitung Lorenzo Viotti
Inszenierung Calixto Bieito
Bühne Rebecca Ringst
Kostüme Ingo Krügler
Licht Michael Bauer
Bühnenbildassistenz Annett Hunger
Mit Vera-Lotte Böcker / Tanja Ariane Baumgartner / Daniel Jenz / Florian Boesch