Ich besitze gar kein Regiebuch
Die Premiere Ihrer Rosenkavalier-Produktion – 1968 – liegt nun Jahrzehnte zurück. Blicken Sie ab und zu ins damalige Regiebuch?
Otto Schenk: Ich besitze gar kein Regiebuch. Nie gehabt. Denn gearbeitet habe ich immer nur an Menschen, mit Menschen. Alles, was ich bei einer Inszenierung erfinde, erfinde ich dank jener, mit denen ich arbeiten darf. Wobei der Rosenkavalier ein sehr „gegebenes“ Werk ist. Vieles ist durch Musik und Text vorgezeichnet und braucht nur noch nachvollzogen werden. Es gibt ein Rokoko- Milieu, das vom Jugendstil patiniert ist; es gibt eine (erfundene) Sprache, die sehr realistisch bedient werden muss. Und es gibt die Momente, in denen die reine Schönheit regelrecht ausartet. In meinen fünf Inszenierungen dieser Oper habe ich immer versucht, diese Gegebenheiten zu erfüllen, es war nie meine Art, etwas Gegenteiliges zu erfinden – dieses Talent besitze ich nicht. Meine Sucht war es immer, in das Werk hineinzuhören, etwas herauszuhören, nicht etwas darüberzustülpen oder eine Fantasie wuchern zu lassen, die das Werk nur benützt.
Wieweit nähern Sie sich generell einem Werk mit einem fertigen Konzept, wie viel entsteht während der Proben?
Otto Schenk: Mein Konzept ist immer das jeweilige Stück. Zuallererst muss ich einen Ort haben, der es mir ermöglicht, die Geschichte zu erzählen. So stehen stets lange Gespräche mit dem Bühnenbildner am Anfang, denn es ist jedes Mal ein anderer Weg, der eingeschlagen werden muss. Bei einem Stück wie dem Rosenkavalier braucht es eine seltsame Genauigkeit, weil die Musik so genau ist. Andere Werke benötigen vielleicht nur einzelne Indizien, Andeutungen eines Ortes, hier aber muss auch das Detail stimmen.
Und dann geht es an die Menschen – das ist die Hauptarbeit. Man muss alle Darsteller dazu bringen, dass alles, was sie tun, selbstverständlich wird. Obwohl – oder besser – weil Musik da ist! Denn wenn man liebt, wird alles zur Musik, es ist fast eine neue Sprache. Man hat dann das Gefühl, nicht mehr nur sprechen zu können, sondern alles singen zu müssen. Genau dieser Zustand ist auch Oper! Und wenn das aufgeht, wird man reich beschenkt! Wenn die Sänger, der Chor angesteckt werden, wenn Sängerinnen und Sänger zu einer Horde von Wirklichkeitsfanatikern werden, wenn einzelne Figuren und Persönlichkeiten auf der Bühne stehen, kurz: wenn alle vom Theaterbazillus angesteckt werden – dann ist das Wunder Oper entstanden!
Und wieweit erhalten diese einzelnen Persönlichkeiten eigene Biografien? Wie viel Hintergrundinformationen zu diesen Figuren muss es geben?
Otto Schenk: Ich bin ein Detaillist: eine Haltung, ein Gang, die Art, wie sich einer hinsetzt, alles verrät von seiner Biografie mehr, als ein Gerede von drei Stunden über das Thema, was er für ein Mensch ist und wo er herkommt. Einer, der in der Nase bohrt, wird keine gute Erziehung genossen haben – das muss man nicht ausführlich besprechen. Die Biografie vermittelt sich im Detail! Einmal wurde in einer Rezension kritisch angemerkt, dass es in einer meiner Inszenierungen „gemenschelt“ hat. Menscheln, was heißt das überhaupt? Was sonst soll auf dem Theater passieren? Wenn der Kritiker damit gemeint hat, dass sich die Figuren wie Menschen benehmen, dann ist mir gelungen, was ich wollte ...
Wieweit ist der Rosenkavalier tatsächlich, wie im Untertitel gesagt, eine Komödie?
Otto Schenk: Das ist geradezu eine Fachfrage, die man nicht einfach mit Ja oder Nein beantworten kann. Jede große Komödie enthält tragische und lyri- sche Momente. Wenn man das Ende der Oper anschaut, dann geht die Sache für fast alle relativ gut aus, für die Marschallin allerdings mit einem wehmütigen, wunderschönen, gigantischen Verzicht, den Richard Strauss in einem herrlichen Terzett auskomponiert hat. Es ist zuletzt ein Sieg der Jugend, der jungen Lei- denschaft gegen eine reife Leidenschaft. Es liegt aber natürlich auch sehr viel Humor in diesem Werk, mitunter in einzelnen Details, etwa allein schon in der Namensgebung des Ochs, dessen Geilerei am Ende ja bestraft wird: Ochs ist ja bekanntlich das Neutrum der Rinderfamilie ... So etwas ist kein Zufall!
Um beim Ochs zu bleiben: Worin unterscheidet sich seine Zuneigung zur jüngeren Sophie von jener der Marschallin zum jüngeren Octavian?
Otto Schenk: Der Ochs geht nicht den Weg der Liebe, sondern den Weg der Geilheit. Ihm ist es fast wurscht, wen er da ins Bett kriegt. Die Heirat ist eine reine
Geldangelegenheit, er nimmt das hübsche Mädl, das Schultern wie ein Henderl hat, als Zuwaage zu den zwölf Häusern. Die Marschallin bekommt ja Skrupel und Bedenken, weil sie eine Sekunde lang das Gefühl hat, sie begibt sich auf einen ähnlichen Weg, auf dem es nur um Erotik geht: und so schwört sie am Ende des ersten Aktes von der Erotik ab. Sie spürt einen üblen Wind aufkommen, ein Hautgout des Überschätzens der Sinnlichkeit und zweifelt an der Erlaubtheit ihres Ausflugs in eben diese Erotik. Sie ist ja die geistig Überlegene, an Octavian, den sie Bub nennt, kann sie nichts Geistiges lieben, an ihm liebt sie die Jugend. Wobei sie ja keine alte Frau ist, das wird oft falsch gesehen. Sie hat durchaus Erfahrungen, es ist nicht ihre erste Affäre, das verrät sie. Ich denke aber, dass Octavian der erste ist, der sie verlässt, die anderen hat sie hinausgeschmissen.
Wird er der Letzte sein?
Otto Schenk: Das müssen Sie sie fragen. Aber sie würde es, glaube ich, auch nicht wissen.
Sympathieträger ist jedenfalls die Marschallin. Woran liegt das eigentlich? Im Grunde hintergeht sie ja auch ihren Mann.
Otto Schenk: Man wundert sich, wie sehr dieses Werk vorausschauend eine Befreiung der Frau darstellt. Die Marschallin lässt sich durch das vermeintliche Sakrament einer Ehe, in die sie hineinkommandiert wurde, die Liebe nicht ausreden. Das ist freilich ein Freibrief für den Ehebruch im ersten Akt. Es ist jedoch ein Ehebruch, der aus Liebe passiert, im Gegensatz zu der verordneten und diktierten Ehe – ein erstaunliches Moment, das zu großen Verrissen geführt hat.
Von der Marschallin noch einmal zum Ochs: Wie unsympathisch darf oder muss er sein?
Otto Schenk: Er ist ja kein böser Mensch. Er ist schwach und eine Renaissancefigur, ein Ausläufer aus einer anderen Zeit. Und er ist oversexed, vielleicht nicht so sehr in der Erfüllung, sondern eher im Wunsch: er würde bei der Mariandl, auch wenn sie eine Frau wäre, wohl nichts zustande bringen. Weil er sich in einer Überreiztheit befindet und richtiggehend einen erotischen Schwächeanfall erleidet.
Und Sophie?
Otto Schenk: Die Frage ist ja immer, wie gescheit oder dumm die kleine Sophie ist. Vielleicht ist sie nur ungebildet, weil sie nicht erzogen wurde und direkt aus dem Kloster kommt? Sie findet ja sehr gescheite Worte der Liebe und spürt, was es mit der Marschallin auf sich hat, die etwas gibt und nimmt. Und sie hält in dem Liebesterzett wacker mit. Zumindest ist sie also herzensbegabt und probiert eine große dramatische und ihr kaum zuzutrauende Auflehnung gegen ihren Vater und den Ochs.
Wird sie später zu einer Marschallin reifen?
Otto Schenk: Das glaube ich nicht. Ob die Marschallin eine bürgerliche Her- kunft hat, weiß man nicht, aber die Ehe mit dem Feldmarschall ist jedenfalls eine gänzlich andere als jene von Octavian und Sophie.
Bei der Uraufführung wurde Richard Strauss kritisiert, dass er mit dem Rosenkavalier den Weg der Moderne verlassen hat.
Otto Schenk: Ja, man sagte, dass er, nach Elektra, einen Verrat an der Moderne begangen hat und einen Schritt rückwärts gegangen ist. Das beweist aber nur, wie sehr die Kritiker damals auf ihren Ohren gesessen sind und nicht erkannt haben, wie differenziert und komplex diese Partitur ist, mindestens ebenso kompliziert wie jene von Salome oder Elektra. Der Rosenkavalier ist jedenfalls keine Simplifizierung oder Vervolkstümlichung der Oper. Und das Publikum hat von Anfang an die Kritiker zurechtgewiesen!