Aquarell von Hans Werner Henze zur 4. Szene von »Das verratene Meer« (1987)

Hans Werner Henze über »Das verratene Meer«

Die Wiener Staatsoper streamt die Premiere von Das verratene Meer am 14. Dezember 2020 um 19.00 Uhr auf play.wiener-staatsoper.at weltwelt live und kostenlos. Ö1 stahlt Das verratene Meer am 15. Dezember 2020 um 19.30 Uhr aus. 

Am 13. Dezember erlebt Hans Werner Henzes 1990 uraufgeführtes Musikdrama Das verratene Meer seine Erstaufführung an der Wiener Staatsoper. In seinen 1996 erschienenen biographischen Aufzeichnungen Reiselieder mit böhmischen Quinten berichtet der Kom­ponist, von dem auch das Aquarell stammt.

Im Frühling 1986. Immer wieder kam ich auf Mishima und auf seinen Roman Gogo no eiko (Titel der deut schen Druckübersetzung: Der Seemann, der die See verriet) zurück und stellte mir die Vorgänge in der Novelle in dramatisierter Gestalt vor. Es handelt sich um eine große Liebestragödie von klassischen, archa­ischen Ausmaßen. Sie spielt in der Gegenwart, im heutigen modernen Yokohama, unter ganz normalen Leuten wie du und ich, »er« ist Seemann, Schiffs­ offizier bei der japanischen Handelsmarine, »sie« ist eine reiche, schöne, junge (wahrscheinlich Krieger­) Witwe. Die beiden verlieben sich natürlicher und middle class gemäßer Weise ineinander. Er will des­wegen sogar banalerweise abmustern und sie heiraten – wer aber dagegen ist, intensiv und mit Hass und Verachtung und aus verschiedenen kindlich­puber­tären Gründen, das ist Noboru, Madame Fusakos halbwüchsiger Sohn. Hieraus entsteht der Konflikt, der noch seine besondere Würze dadurch bekommt, dass unser kleiner Gymnasiast einem puerilen, aber ideologisch gemeingefährlichen, aus einer Handvoll überzüchteter und verwöhnter Mustersöhnchen und Klassenkameraden zusammengesetzten Geheimbund angehört, von dem nichts Gescheites und nur das Schlimmste zu erwarten ist. Es fiel mir auf, dass in der Geschichte von Fusako und Ryuji seltsame Par­allelen zu der Mär von Odysseus und Penelope vor­ zufinden sind – als ob ich nun so ein Heimkehrer­drama ein zweites Mal erzählen müsste, wenn auch diesmal in einer unheroischen, negativen, stark pes­simistisch gehaltenen modernen Lesart.

Madame Mishima im fernen Tokio wünscht, dass der Originaltitel Gogo no eiko in der Opernfassung besser respektiert wird als bisher in Film­und Buch­ übersetzungen: Statt Der Seemann, der die See verriet möchte sie gern etwas wie Spätnachmittags das Boot ins Schlepptau nehmen oder Lotsendienste am späten Nachmittag oder gar Die Barkasse.

14. März. Reinschrift der ersten Szene: Fusako hat ihren dreizehnjährigen Sohn Noboru zu Bett gebracht und hat ihn eingeschlossen, damit er nicht wieder des Nachts ausbüchst und sich mit seinen Klassen­kameraden trifft. Dann sehen wir, wie sie sich ent­kleidet und wie Sohnemann sie heimlich beobachtet durch ein Loch in der Wand. Kantilenen. Fis-­Moll oder ­-Dur wird der Anfang von Szene zwei sein, ganz geblendet von so viel Sonnenlicht, morgens im Hafen von Yokohama, wenn Mama und Sohn den großarti­gen, hochmodernen Frachter Rakuyo-Maru besich­tigen und bei dieser Gelegenheit den 2. Offizier, Ryuji Tsukazaki, kennenlernen. Das 1. Zwischenspiel stellt einen Traum Noborus dar: Er träumt von der Rakuyo- Maru, die er morgen besichtigen wird, träumt von der schönen nackten Mama, die er allabendlich heimlich beobachtet, träumt von Manneszucht, Härte, von den Schulkameraden, die ihm so imponieren. [...]

Mitte Juni saß ich aufrecht an der Partitur des Zwischenspiels von Szene zwei zu drei, entwickelt aus der Saxophonmelodie in der Musette, dem galan­ten Schluss der zweiten Szene, an der Stelle, wo Fu­sako den jungen Seemann zum Abendessen einlädt, natürlich in ein französisches Restaurant, wo man, wie sie verspricht, sehr gut speisen kann. Es wird eine Sturmflut daraus, die erzürnte Flut, the enchafèd flood (Shakespeare, Othello) [...] Ich komponierte sieben oder neun Wellenanstürme. Mein Schüler Glanert [...] wusste und machte mich darauf aufmerksam, dass bei Sturm die siebente (oder neunte?) Welle immer die höchste und stärkste ist und dass der Ruhemoment nach ihrem Aufprall der am besten geeignete ist, um einen Kanister wellenbesänftigenden Petroleums aufs ausatmende Wasser zu entleeren, ihm nachzusprin­gen und flink dem Rettungsboot entgegenzukraulen. Ich übertrug diesen siebenköpfigen Wellengang in meine Partitur.

Hatte gehofft, dass Mishimas New Yorker Agenten The enchafèd flood als englischen Titel akzeptieren würden, weil er so schön ist und 1949 von Auden als Motto einer [...] Vorlesung verwendet wurde, The Enchafèd Flood or the Romantic Iconography of the Sea, die sich in drei wundervollen Untersuchungen [...] auf die Behandlung eines einzigen Themas konzentriert: die See. Aber die Agenten lehnten ab, weil das Wort enchafèd in der (amerikanischen) Umgangssprache nicht mehr vorkommt (vielleicht nie vorgekommen ist).

Am 12. Juli begann ich mit der Komposition der dritten Szene: Fusako und Ryuji genießen die Nacht­ luft in einem Park, von dem aus man unten den hell erleuchteten Hafen sieht. Die Liebe, der Verrat am Meer, beginnt.

Aus: Hans Werner Henze, Reiselieder mit böhmischen Quinten.

Autobiographischen Mitteilungen 1926–1995


Musik Hans Werner Henze
Text Hans­-Ulrich Treichel nach Yukio Mishima
Musikalische Leitung Simone Young
Inszenierung Jossi Wieler & Sergio Morabito
Bühne und Kostüme Anna Viebrock
Licht Phoenix
Mit Boecker, Skovhus, Lovell, Van Heyningen, Kim, Astakhov, Häßler