Große Debüts zum Jubiläum von Rudolf Nurejews »Schwanensee«
Am 15. Oktober 2024 feiert Rudolf Nurejews Schwanensee sein 60. Jubiläum an der Wiener Staatsoper. Wie die junge Generation auf diese legendäre Inszenierung blickt und an das Rollenstudium herangeht, sollen in der Folge Gedanken von drei Debütant*innen dieser Spielzeit näherbringen. Die Erste Solotänzerin Ioanna Avraam und Solotänzer Arne Vandervelde sind am 5. Oktober erstmals als Odette/Odile bzw. Prinz Siegfried zu erleben, der Erste Solotänzer Davide Dato feierte bereits am 20. September sein erfolgreiches Debüt als Prinz Siegfried.
IF Welche Bedeutung hat Rudolf Nurejew für junge Tänzerinnen und Tänzer wie euch?
DD Rudolf Nurejew hat mich bereits in meiner Jugend tief inspiriert, und das tut er auch heute noch. Er war ein Mensch, der in relativ kurzer Zeit unglaublich viel erreicht hat. Immer wieder habe ich seine Ballettvideos fasziniert angeschaut und Interviews von ihm angehört oder gelesen. Seine Persönlichkeit hat mich genauso in den Bann gezogen wie seine virtuose Tanzkunst. Darin liegt auch eine besondere Magie, die das Publikum tief berührt.
AV Ich erinnere mich, dass ich etwa mit zwölf Jahren ein Buch über Nurejew las und erstaunt darüber war, was die Leute über ihn schrieben sowie jene Dinge, die er durch seine große Leidenschaft zum Tanzen erreichte. Ich ahnte nicht, dass ich einmal seine Choreographien auf jener Bühne tanzen würde, auf der er selbst so oft aufgetreten war.
IF Es gibt unzählige Versionen von Schwanensee. Was ist das Besondere an jener von Nurejew?
IA Nurejews Schwanensee ist etwas Besonderes, weil er sich auf die psychologische Komplexität der Figuren konzentriert, insbesondere auf Prinz Siegfried. Im Gegensatz zu anderen Versionen hat Nurejew den Schwerpunkt auf den inneren Kampf des Prinzen gelegt und ihn als eine eher introspektive und konfliktreiche Figur dargestellt. Dies verleiht dem Ballett eine dunklere, nuanciertere Dimension und macht es nicht nur zu einer Liebesgeschichte, sondern auch zu einer tieferen Erforschung menschlicher Gefühle und des Schicksals. Er kreierte etwa auch die »Wiener Version« des »Schwarzen Schwan-Pas de deux« von Prinz und Odile im dritten Akt, die aufgrund der extremen technischen Präzision, der komplizierten Partnerarbeit und der schnellen Richtungswechsel in den Schrittkombinationen eine besondere Herausforderung ist. In der Verschmelzung von Athletik und Kunstfertigkeit zeigt sich Nurejews wahres Genie, das seinen Schwanensee zu einer dauerhaften und fesselnden Herausforderung für Tänzerinnen und Tänzer macht.
IF Ihr habt alle bereits in mehreren Choreographien Nurejews getanzt, darunter Hauptrollen in Don Quixote. Wie empfindet ihr die Herausforderungen generell bzw. im Speziellen bei Schwanensee?
DD Auch wenn man mit der Zeit seine »Sprache« und Art des Choreographierens besser versteht, ist es nie einfach, ein Ballett von Nurejew einzustudieren, vor allem aufgrund der technischen und musikalischen Komplexität. Nurejews Werke sind in ihrer Reinheit und Präzision unvergleichlich und äußerst anspruchsvoll zu tanzen – oft gibt es viele kleine, präzise Schritte und es erfordert ein tiefes Verständnis für Musikalität. Sie verlangen von den Tänzerinnen und Tänzern daher ein hohes technisches Niveau, das unerlässlich ist, um seine Geschichten auf der Bühne zu erzählen.
AV Für mich besteht die große Herausforderung in diesem Ballett darin, die richtige Interpretation für Siegfried zu finden und diese durch das Ballett zu zeigen. Natürlich sind die Schritte und die Partnerarbeit sehr schwierig, aber letztendlich möchte das Publikum Schwanensee sehen, um eine Geschichte und Emotionen zu erleben. Als Basil in Don Quixote kann man manche Fehler verbergen oder »überspielen«. In Schwanensee gibt es keine Möglichkeit dafür, alles ist so sichtbar und verzeiht nichts.
IF Ein großes Verdienst Nurejews ist, wie zuvor angesprochen, die Aufwertung der Rolle des Prinzen Siegfried und somit des Tänzers. Welche Anforderungen bringt dies mit sich?
DD Rudolf Nurejew hat in der Tat einen enormen Einfluss auf die männliche Rolle in klassischen Balletten, vor allem in Schwanensee, ausgeübt. Er hat nicht nur die Präsenz des Tänzers gestärkt, sondern auch die technischen Anforderungen auf ein neues Niveau gehoben. Siegfried ist eine komplexe Figur, die sowohl lyrische Feinfühligkeit als auch dramatische Intensität verlangt. Das Adagio-Solo am Ende des ersten Aktes etwa ist ein bemerkenswerter Moment, der die perfekte Balance zwischen Technik, Ausdruck und physischer Ausdauer erfordert. Es stellt eine immense Herausforderung dar, da es nicht nur technische Präzision, sondern auch außergewöhnliche Kraft und Körperbeherrschung verlangt und eine intensive Belastung für die Waden und Füße bedeutet. Dennoch muss die Darbietung anmutig und scheinbar mühelos wirken. Nurejews Interpretationen haben somit nicht nur die physische, sondern auch die künstlerische Messlatte für Tänzer in klassischen Balletten deutlich angehoben.
AV Das von Davide erwähnte Solo ist eine meiner Lieblingsstellen in diesem Ballett. Siegfried ist gerade volljährig geworden und soll eine Partnerin finden, aber er fragt sich, ob er jemals seine einzige wahre Liebe finden wird. Es ist ein so lyrischer und verletzlicher Moment, den man nicht so oft in männlichen Soli findet und ein guter Weg, um zu zeigen, was in ihm vorgeht und so auch eine Verbindung zum Publikum herzustellen.
IF Ioanna, du hast bereits die Besonderheit der Doppelrolle Odette/Odile angesprochen. Wie vollzieht man diese Verwandlung und welcher Charakter liegt dir näher?
IA Die Rolle der Odette/Odile in der Dualität des weißen und des schwarzen Schwans erfordert ein Gleichgewicht zwischen Anmut und Verletzlichkeit sowie Stärke und Macht, wofür eine tiefere Ebene der Kunstfertigkeit erforderlich ist, um die Verwandlung in diese gegensätzlichen Charaktere zu vermitteln. Beide Rollen sind für mich gleichermaßen faszinierend. Ich liebe den Kontrast, diese emotionale und psychologische Reise zwischen diesen, und wie sie die Komplexität der menschlichen Natur widerspiegeln, in der sowohl Licht als auch Dunkelheit in ein und derselben Person existieren. Die Verwandlung von der unschuldigen, zerbrechlichen Odette zur feurigen, berechnenden Odile und wieder zurück ist einer der spannendsten und zugleich anspruchsvollsten Aspekte von Schwanensee und wie ein Wechsel zwischen zwei Welten: eine geprägt von reiner Liebe, aber auch Tragödie und Schmerz, die andere von Macht und Täuschung. Bei Odette konzentriere ich mich auf ihre Anmut, Weichheit und ätherische Qualität – jede Bewegung muss fließend und zart sein, so, als würde sie durch das Wasser oder die Luft gleiten. Dabei hilft mir auch ein gezieltes Pilates-Training. Die Darstellung der Odile hingegen erfordert eine ganz andere Energie sowie besondere technische Präzision.
IF Was bedeuten diese ikonischen Rollen von Odette/Odile bzw. Prinz Siegfried für eure Karrieren?
IA Als Odette/Odile in Schwanensee zu debütieren ist wie ein wahr gewordener Traum. Es ist die Rolle, die jede Ballerina anstrebt. Ich empfinde große Demut und gehe mit tiefem Respekt vor dem Erbe, das diese in sich trägt, an sie heran. Gleichzeitig ist es eine Chance, sowohl technisch als auch künstlerisch an meine Grenzen zu gehen.
AV Schwanensee ist das erste klassische Ballett, das ich je gesehen habe, und es hat mich dazu gebracht, mit Ballett zu beginnen. Nun die Rolle des Prinzen Siegfried in diesem ikonischen Ballett zu tanzen ist eine Ehre und künstlerisch gesehen eine der anspruchsvollsten Partien für mich.
DD Die Rolle des Prinzen Siegfried stellt einen bedeutenden Höhepunkt meiner Karriere dar und ist eine Art Vollendung meines bisherigen Weges. Sie verkörpert die Essenz des klassischen Balletts und ist gleichzeitig eine große Herausforderung sowohl technischer als auch interpretativer Art. Die jahrelange Erfahrung und das Studium der Nurejew-Choreographien, gepaart mit meinem eigenen künstlerischen Wachstum, machen diesen Moment zu einem sehr persönlichen und bedeutenden Ereignis.
IF Warum übt Schwanensee und Nurejews Fassung im Speziellen eurer Meinung nach auch gegenwärtig noch so eine Faszination bei Tänzerinnen und Tänzern, aber auch dem Publikum aus?
IA Der anhaltende Zauber von Nurejews Schwanensee liegt in seinem zeitlosen Reiz und seiner emotionalen Tiefe. Für Tänzer*innen stellt das Ballett die ultimative technische und künstlerische Herausforderung dar. Für das Publikum evoziert Schwanensee universelle Themen wie Liebe, Verrat und Erlösung, unterlegt mit Tschaikowskis einzigartiger Partitur. Nurejews Interpretation verleiht dem Ballett eine psychologische Komplexität, die es nicht nur zu einem visuellen Spektakel, sondern auch zu einer tief bewegenden Erzählung macht.
AV Ich würde sagen, dass die Musik Tschaikowskis einen großen Teil des Erfolges ausmacht. Jeder kennt das Leitmotiv von Schwanensee, und unser Orchester spielt die Partitur wunderbar. Auch die Geschichte dieses Balletts, die Tatsache, dass es von Nurejew speziell für das Wiener Staatsballett geschaffen wurde, ist etwas Besonderes. Zudem stehen in dieser Inszenierung 32 Ballerinen als Schwäne auf der Bühne, was wirklich beeindruckend ist, wenn man sieht, wie sich ihre Formationen wie ein Schwarm auf dem Wasser bewegen. Und natürlich Drama, Liebe und Verrat!
DD Zunächst ist Schwanensee ein weltweit bekannter Klassiker. Ein weiterer Aspekt ist Rudolf Nurejew selbst – eine charismatische und weltberühmte Persönlichkeit, die diese besondere Inszenierung für Wien geschaffen hat. Sie ist ein kulturelles Erbe von unschätzbarem Wert. Schließlich ist es die einzigartige Kombination aus der Magie des Stücks und der Bedeutung dieser Produktion, die den Ruf Wiens als Ballettstadt weltweit gefestigt und sogar verstärkt hat. Der Wiener Schwanensee ist für mich ein Juwel unseres Theaters und es ist von großer Bedeutung, diese Tradition auch in Zukunft zu bewahren.