© Elisa Haberer

Gegen das Glatte und Verniedlichte

Ist Ihnen als Dirigent der Freischütz schon einmal untergekommen?

Tomáš Netopil: Nicht die Oper als gesamtes, aber natürlich die Ouvertüre, die ja oft in Konzerten gegeben wird und auch einige der zentralen Arien – und nicht zu vergessen den Jägerchor, der ebenfalls „ausgekoppelt“ immer wieder zu erleben ist.

Handelt es sich um eine Oper (wie man heute sagt) oder um ein Singspiel, als das der Freischütz im 19. Jahrhundert gerne gesehen wurde? Macht es einen Unterschied?

Tomáš Netopil: Es gibt eine große Anzahl an Dialogen, aber für mich schafft das Werk eine so ungebrochene, schöne Linie, einen solch übergreifenden Bogen, dass es mir ganz wichtig ist, diese Einheit, diesen kontinuierlichen Fluss zu betonen. Ich sehe also das Werk lieber als Oper an – und als solche wird sie ja, wie Sie sagten, heute auch allgemein gesehen.

Nun wurde über lange Zeit von der zentralen deutschen Oper gesprochen, wenn vom Freischütz die Rede war. Es stellt sich die Frage: Was ist das „Deutsche“ am Freischütz?

Tomáš Netopil: Ich würde sagen, es handelt sich um eine besondere Kombination der unterschiedlichsten Elemente und Aspekte. Einerseits die Geschichte – die entstammt ja aus dem deutschen Erzählschatz, dann die Musik, auch wenn da die Quellen bis ins Französische reichen, die Instrumentation, die typisch für die Zeit und den deutschen Sprachraum ist, die Verwendung der Hörner, die mir spezifisch scheint – und natürlich die Sprache. Der Freischütz ist eben auf Deutsch und nicht auf Italienisch oder Französisch, letztere beide Sprachen waren damals im Opernangebot stark vertreten. Dazu kommt, dass der Freischütz schon zu Lebzeiten Webers eine sehr erfolgreiche Oper war: Durch die genannten Eigenschaften und die Tatsache, dass sie intensiv rezipiert wurde, entstand das Bild der deutschen, erfolgreichen, wichtigen Oper. Und andere Kollegen richteten sich an diesem Werk aus, was seine Bedeutung weiter steigerte.

Was war das Neue, das Außergewöhnliche am Freischütz? Die deutsche Opernwelt wurde ja damals unter anderem durch Rossini und Spontini dominiert, der „deutsche“ Schubert lag mit seinem weniger erfolgreichen Musiktheaterschaffen abgeschlagen. Was war der Freischütz- Erfolgsfaktor?

Tomáš Netopil: Ich würde sagen, das Timing all der vorhin genannten Aspekte. Wir könnten zum Beispiel über das Melodram sprechen, das im Freischütz eine wichtige Rolle spielt – damals aber durchaus nicht neu war. Hier schien es jedoch besonders! Es war die Gleichzeitigkeit und Kombination aus vielem: Der Stoff, die Verwendung des Orchesters, das zuvor mehr eine begleitende Rolle gespielt hatte und nun Nummern präsentierte, in denen es die Hauptrolle übernahm, Atmosphäre, Instrumentation, musikalisches Material. All das machte den Freischütz attraktiv und neu.

Wieweit stellen Sie Weber trotz des Neuen in einen Traditionsfluss? Der Freischütz wurde ja nur wenige Jahre nach Beethovens Fidelio uraufgeführt.

Tomáš Netopil: Ich kann deutlich den Bogen einer Tradition erkennen, also von Beethoven zu Weber. Es gibt in der Orchesterbesetzung, in der Verwendung der Dialoge, in der Form Ähnlichkeiten. Also neu auf der einen Seite, aber verwandt auf der anderen. Manches ist augenfällig vertraut in seiner Beziehung zu Beethoven, anderes ein wenig verdeckter. Aber die Verbindung ist da.

Ist es schwer, den Freischütz nur als Freischütz aus 1821 zu dirigieren und nicht mit dem Wissen, was später kam, vor allem also ohne Richard Wagner im Kopf?

Tomáš Netopil: Exakt darum geht es mir! Das ist genau der Aspekt, unter den ich meinen Zugang stelle. Ich habe mir ein Faksimile des Autographen der Partitur besorgt und es ist ungemein spannend, dieses zu studieren. Davon ausgehend versuche ich, die musikalische Freischütz-Welt etwas heller, leichter zu präsentieren als aus Sicht der massiver klingenden Kompositionswelt, die danach kam. Es ist eine zentrale Aufgabe für mich, nicht in die damalige Zukunft zu schauen, sondern zu versuchen, ganz in der Zeit zu sein, in der Weber die Oper komponierte. Ja, sogar noch mehr: In der Zeit sein – und einen Blick in die davorliegende Geschichte zu werfen.

Hans Pfitzner meinte, der Hauptcharakter der Oper sei der Wald. Wir wissen, was kam, der deutsche Wald wurde in einer sehr dunklen Zeit als ein deutscher Topos verstanden. Wieweit ist der Wald, oder allgemeiner die Natur ein Charakter?

Tomáš Netopil: Ohne Zweifel kann man – alleine schon aus dem romantischen Kontext des 19. Jahrhunderts – die Natur als ein zentrales Element sehen. Das hat seine Reflexion auch im Orchester, in der Instrumentierung. Die Natur ist hier etwas Dunkles, Verschattetes, gespiegelt in den tiefen Streichern, die für eine besondere Atmosphäre sorgen.

Für Weber war ja das Dunkle das Grundelement des Werkes. Ist der Freischütz eine dunkle Oper?

Tomáš Netopil: Man spürt, dass es einfach eine düstere Grundierung gibt – und das sogar häufig. Man muss allerdings aufpassen, dass man es mit dem Düsteren nicht übertreibt! Denn es ist ja schon in der Partitur, und wenn man sich da als Dirigent besonders draufsetzt und es betont, wird es zu viel.

Weber war selbst Dirigent und leitete die Uraufführung. Spürt man in der Art, wie die Partitur geschrieben ist, die Kenntnisse des Kapellmeisters? Im Gegensatz zu jenen Komponisten, die keinen Dirigentenstab in die Hand nahmen?

Tomáš Netopil: Sie meinen im Gegensatz zu einem Puccini? Ich würde nicht sagen, dass die Partitur einfacher ist, nur weil Weber wusste, was ein Dirigent braucht. Das Gegenbeispiel wäre hier ja Richard Strauss, der dirigierte, aber dessen Partituren alles andere als einfach sind. Dieser Zusammenhang besteht interessanterweise nicht. Aber besonders „schwierig“ ist der Freischütz, rein technisch, für einen Dirigenten nicht.

Weber verwendete im Freischütz Erinnerungsmotive. Hat das leitmotivische Funktion?

Tomáš Netopil: Nicht wirklich, vor allem nicht im Sinne Wagners. Natürlich gibt es zum Beispiel ein Samiel-Motiv, aber das hat bei Weitem nicht die Komplexität eines Leitmotivs. Diese komplexe Personalisierung der Musik existiert beim Freischütz nicht.

Was ist das musikalisch Romantische? Sujet, Handlung, Stimmung, Figuren: da findet man die deutsche Romantik. Aber was macht eine romantische Musik aus?

Tomáš Netopil: Ich denke, es ist die große Kraft der Kontraste – das hat in der damaligen Zeit gewirkt und ist bis heute ungemein wirkungsvoll. Melodie, Rhythmik, Harmonik, die Effekte: hier verwendet Weber starke Gegensätze. Dazu kommt eine Freiheit in den melodischen Linien. Auch der Einsatz von Volksmusik-Klängen spielt in diese Richtung: dadurch wird das Menschliche unterstrichen, aber auch das romantische Sujet unterstützt.

Wenn man eine gewachsene Freischütz-Interpretationstradition annimmt – ist das etwas, an das Sie andocken wollen, oder versuchen Sie, das bewusst zu ignorieren?

Tomáš Netopil: Es gibt natürlich eine diesbezügliche Tradition, aber mich – und jetzt bin ich wieder beim Autographen – interessiert eher der Ursprung dieser Tradition, also wie sie entstanden ist. Daraus resultiert die Frage: Wie gehe ich mit der Tradition um und wie kann ich ihr folgen? Ich habe das vorhin angedeutet: Den Freischütz möchte ich am liebsten nicht aus dem interpretieren, was die nachfolgenden Generationen aus ihm gemacht haben, sondern aus seiner Zeit heraus. Mit anderen Worten: Mich interessiert die Weber’sche Romantik, die „klassische“ Romantik und nicht die späteren Steigerungsstufen. Die im Laufe der Jahre entstandenen Ausgaben enthalten ja oft Zusätze, die nach und nach angefügt wurden, die aber nicht auf den Komponisten zurückgehen. Die Tendenz war, alles zu glätten und zu verniedlichen, alles etwas kontrastärmer zu gestalten. Man merkt das auch in vielen Details, zum Beispiel in Begleitfiguren der Streicher, die nach und nach mit Bögen verbunden wurden. Das machte sie weicher, schummriger. Im Original stehen die Noten aber unverbunden und für sich allein: dadurch sind sie klarer, leichter, prononcierter!

Das Gespräch führte Oliver Láng


Carl Maria von Weber
Der Freischütz

Premiere: 11. Juni 2018
Reprisen: 14., 17., 20., 25., 28. Juni 2018


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