Fremde sind wir auf der Erde alle...
Die Mixtur aus märchenhafter Fremdheit und bizarrer Grausamkeit, der Wechsel von Faszination und Abgestoßensein, von neugierigem Interesse und unaufhebbarer Differenz, von fragiler Empathie und letztendlichem Unverständnis: all dies repräsentierte vor unserer alles egalisierenden Epoche des Globalitätsdenkens und seit Marco Polos fantastischen Vorstellungen von Japan als Paradies den Blick des Westens auf das Dasein des Ostens. Von der imaginären Inversion des Anderen in das eigene Bezugsfeld existieren seit Jahrhunderten die verschiedensten Zeugnisse. Darunter die aus Indonesien stammende österreichische Komponistin Linda Bandará mit ihren erstmals 1922 von den Wiener Symphonikern aufgeführten Versuchen, javanische und klassische europäische Musik zu vermitteln. Und noch Christoph Ransmayrs poetische Erkundung Chinas, worin der Kaiser den Gesang der Chöre und das Geklirr der Orchester, aber auch das Geräusch des Windes im Rosenlaub „gleichzeitig mit den Sensationen einer Oper“ zu hören glaubt, bedient sich solcher Vermittlungsstrategien. Sein Roman Cox oder der Lauf der Zeit beginnt dort, wo auch Puccinis unvollendete Oper Turandot anhebt: auf einem chinesischen Richt- platz, wo inmitten der gaffenden Zuschauermenge die an Pfähle geketteten Verurteilten ihr Schmer- zensgebrüll ausstoßen.
MADAMA BUTTERFLY – Im Reich des ästhetischen Scheins hat es die Alltagsexistenz nicht eben leicht. Die wirklichen und oft so desolaten Vorgänge aus einer niederen sozialen Schicht darzustellen, nahm sich der Naturalismus vor. Ihm entsprach der auf Götter, Zwerge, Riesen und dergleichen ebenso beherzt verzichtende musikalische Verismus. Zu ihm zählen Puccinis kranke und in die Enge getriebenen Frauenfiguren, darunter die geflüchtete Manon, die schwindsüchtige Mimì, die aus Eifersucht ermordete Giorgetta und noch die Seelen der toten Mädchen in seiner ersten Oper erste Oper Le Villi. Zu ihnen gehören ebenso die unglückseligen Frauen, die Hand an sich legen, die Opernsängerin Floria Tosca, die Ordensschwester Angelica und schließlich auch deren mittel- und ostasiatische Leidensgenossinnen, die junge tatarische Sklavin Liù und Cio-Cio-San, die verlassene junge Mutter, genannt auch Madama Butterfly. Einzig Minnie, die mutige Gastwirtin aus dem freilich nicht sehr gol- denen Westen, darf wie Shakespeares Miranda am Ende auf eine schöne neue Welt hoffen.
Puccini und seine beiden stark, ja unerbittlich in Anspruch genommenen Librettisten Giuseppe Giacosa und Luigi Illica konnten sich auf einige, den Stoff des Werkes behandelnde literarische Ideengeber stützen. Eines Werks übrigens, das bei seiner Mailänder Uraufführung Buhsalven erntete. Der pennsylvanische Erzähler John Luther Long, der kalifornische Dramatiker David Belasco sowie – nicht zu vergessen – der aus Rochefort-sur-Mer stammende abenteuerlustige Marineoffizier und Reiseschriftsteller Pierre Loti mit seiner vielgelesenen Erzählung Madame Chrysanthème: sie alle wussten um die im Freitod terminierende und authentische Geschichte jener unglücklichen Geisha Chink Okichi, deren Schicksal – „Was für eine Geschichte! Welch eine Heldin“ – zu Beginn des Zweiten Weltkriegs auch Bertolt Brecht einmal inspirieren sollte.
Das einstige Fischermädchen aus ärmsten Verhältnissen war das Urbild der Cio-Cio-San. Für eine kurze Zeit war sie als „Gastgeschenk“ die Konkubine des ersten in Japan akkreditierten amerikanischen Generalkonsuls. Danach begann der Abstieg der alkoholsüchtigen, auf den Stand einer Bordellwirtin herabgesunkenen Frau, der im Freitod endete. – Bei Puccini erklingt bei Cio-Cio-Sans zutiefst erregtem Abschied von ihrem Kind ein sich im Tempo verzögerndes Andante. Eine Musik mit dezidiert chromatischen Zügen, als wolle die Protagonistin sich hier nicht nur von ihrem Sohn, sondern auch von der durch sie charakterisierten westlichen Welt verabschieden. Dies geschieht, nachdem sie betend vor der Buddha-Statue niedergekniet ist und auf dem Harakiri-Messer ihres Vaters leise dessen Inschrift gelesen hat: „Con onor muore chi non può serbar vita con onore.“ („Ehrenvoll stirbt der, der das Leben nicht mit Ehre wahren kann.“). Sie singt litaneihaft diesen Satz – eine Variante des berühmten Samurai-Samadhi von der mystischen Versenkung in den Tod – auf dem gleichen Ton, einem eingestrichenen F. Sie singt ihn genau sechzehnmal, als wolle sie die Verbindlichkeit der sechzehn Gesetze der buddhistischen Mythologie und zugleich die sechzehn Vorhersagen des Siddhattha Gotama eigens ansprechen. „Wer sein Leben nicht hingeben und den Tod nicht erwählen mag, der sei kein wahrer Samurai“, so lautet der alte codice d’onore. Den im Harakiri-Ritual vorgeschriebenen tödlichen Stoß von vorn in den Hals vollzieht sie erst, nachdem sie sich in einem symbolischen Akt von ihrem Kind verabschiedet hat. Als ob es sich um die alljährliche Tango no Sekku-Feier, das „Knabenfest“ handele, bei dem man den Jungen eine Puppe des legendären Heldenkindes Kintaro schenkte, überreicht auch Cio-Cio-San ihrem Sohn traditionsgemäß eine kleine Puppe. Sie stellt diesem traditionsverankerten Element ihres piccolo amor ein modernes Emblem gegenüber, das auf den Anfang der Oper mit ihrem Wechsel von fernöstlicher und transatlantischer Musik zurückverweist. Der dort zu hörenden Marinehymne der USA, erst sieben Jahre nach Puccinis Tod zur Nationalhymne erhoben, entspricht als Bild das Abschiedsgeschenk des amerikanischen Wimpels. Solcherart, als stumme symbolische Handlung, bringt Puccini die Motivik der schönen Vision von der Verschmelzung des Getrennten zum tragischen Abschluss.
TURANDOT – Die ursprünglich persische, im Laufe der Jahrhunderte aber mitteleuropäisch adaptierte Märchensage des Prinzen Kalaf und der schönen Turandot kann auf eine lange und erstaunlich vielgestaltige Geschichte unterschiedlichster Transformationen zurückblicken. Darunter Schillers psychologisch motiviertes Interesse an der Legende, die er nach Carlo Gozzis tragikomischem Märchen von 1762 gestaltete. Die grausame Geschichte der Prinzessin, die die Todesstrafe über alle verhängte, die die ihnen gestellten Rätsel nicht zu lösen vermochten, rief auch die Tonkunst auf den Plan. Kompositorisch nahmen sich, um nur eine sehr kleine Auswahl anzuführen, Carl Maria von We- ber, Ferruccio Busoni und Gottfried von Einem auf höchst unterschiedliche Weise des Stoffes an. Interessant auch, dass Jahre nach Puccinis zwei ostasiatischen Opern Bertolt Brecht in Die Judith von Shimoda und in Turandot oder Der Kongress der Weißwäscher sowohl den Butterfly- als auch den Turandotstoff bearbeitete. Puccinis dreiaktiges Werk wurde post mortem im April 1926 unter Toscaninis auswendig bewerkstelligter Leitung an der Scala uraufgeführt. Unvergessen bis heute die Worte, mit welchen der Dirigent nach dem unendlich bewegenden Lamento der Sklavin Liù die Hände senkte und sich dem Publikum mit den Worten zuwandte: „Hier endet die Oper, weil der Maestro an dieser Stelle verstorben ist.“
Puccini zeigt sich in diesem letzten Werk souverän auf der Höhe des neuen, in den zwanziger Jahren als Großstadtoper sich entwickelnden modernen europäischen Genres. Das dem polyrhythmisch durchsetzten Gewirre des anfänglichen Volksauflaufs folgende expressive Intermezzo der Wiederbegegnung der drei Geflüchteten währt nur einen kurzen Augenblick, präsentiert sich aber sogleich als humane Gegenwelt. Puccinis Werk ist alles andere als ein Beispiel gängiger Chinoiserie, es ist keine Glorifikation des Fremdkulturellen, kein Paradefall des eingeschliffenen Exotismus um des Flairs des ganz Anderen willen, kein in Klänge transferiertes Akkulturationsprojekt.
Puccinis Rückgriffe auf unterschiedliche Arten chinesischer Musik sollte schon deshalb nicht als gleichsam ethnografischer Versuch verstanden werden, Lokalkolorit als Mittel authentischer Darstellung einer spezifisch fremden Wirklichkeit zu schaffen. Viel zu divergent sind die zum Teil Schweizer Spieluhren abgelauschten Interpolationen jener wiederum höchst heterogenen Tradition, die – wie auch die okzidentale Klangwelt – über Jahrhunderte hinweg extrem verschiedene Klangformen und Tonsprachen hervorgebracht hat. Es gibt die chinesische Musik schlechterdings nicht. Das weit mehr als zweieinhalbtausend Jahre zurückliegende Shıjıng, das so facettenreiche Buch der Lieder, die sehr viel spätere Musik etwa des Han-Kaiserreichs, die noch spätere Gesangsartistik der Song-Zeit, das nochmals gut um ein halbes Jahrhundert jüngere, von Puccini übernommene, mit zwei Altsaxophonen von ihm instrumentierte, je nach Region zudem sich unterscheidende Jasminblüten-Volkslied Mo Li Hua, das Erkennungsmotiv der Prinzessin, und noch die 1912 eingesetzte Kaiserhymne Ai tuoi piedi ci prostriam am Schluss des zweiten Aktes – all diese Anleihen mannigfaltigster chinesischer Musikidiome dienen nicht dem gleichsam folkloristisch-mimetischen Zweck einer ostasiatischen tinta musicale, sondern der Absicht, überhaupt Fremdheit als zum Bewusstsein gelangte Differenz zum Anderen zu suggerieren; eine Differenz zu schaffen, die den Blick auf das Eigene zu eröffnen hilft. Puccini, wohl wissend, dass dieser Blick auf das befremdend Fremde ein stets kulturell eingeschränkter Blick ist, will auf die Spiegelung von eigener Vertrautheit und fremden Welten in uns selbst hinaus, entdeckt das andere als das eigenes Unbewusste.
Dem korrelieren aus eben diesem Grunde die in dem Spätwerk Turandot vom Komponisten übernommenen Elemente der zeitgenössischen Moderne mit ihren zahlreichen und nicht selten tabuverletzenden Transgressionen in Harmonik, Rhythmik, Orchesterfarbe und Instrumentation. Weder Puccinis so polymorphe Musik noch die Worte zu ihr zielten auf das Klangbildnis eines Reichs, das seine Zivilisation und Kultur einst mit der Welt gleichsetzte und den Kaiser als deren Personifikation apotheotisierte. Das Land der Mitte: Für den toskanischen Komponisten war es die so märchenhaft entrückte wie plastisch stimmige Folie einer Parabel über das Erwachen der Liebe aus dem Aggregatzustand der Gefühlskälte. Der Gefühlkälte einer Titelfigur, die sich als Abwehr eines traumatischen Urgrundes transformiert hat in das Psychogramm eines manischen Abwehrmechanismus. Genauer: in das Muster der Adaption vergangener Grausamkeit als Strategie gegen die Gewalt einer ebenso grausamen Erinnerung.
Des Komponisten Notiz im Zusammenhang der entscheidenden Situation, als Turandot den Namen des unbekannten Prinzen erfährt, sagt viel über das wahrscheinliche Ende der Oper, vielleicht auch über das zähe Ringen damit aus. „E poi Tristano ...“, ist dort zu lesen. Diese Tristan-Referenz – zugleich die Umkehrung der Namensnennungsszene der Brautgemachszene des Lohengrin – zielt auf das wohl älteste Thema tragischer Liebe: die unzertrennbare Einheit von Eros und Thanatos.
Norbert Abels
Madama Butterfly | Giacomo Puccini
26., 29. Februar,
2. März, 24., 27. April, 1. Mai 2020
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Turandot | Giacomo Puccini
27. Februar,
1., 5.*, 9. März 2020
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*Die OMV lädt Sie zum Livestream am 5. März ein: www.staatsoperlive.com