FRANZ WELSER MÖST ÜBER DIE LEIDENSCHAFT FÜR »SEINE« ELEKTRA
Es gibt sie: Die hochpersönlichen, kurzen Momente in Opern, die für Künstler zum besonderen Angelpunkt ihrer Arbeit werden, die als Nukleus Interpretationswege eröffnen und für die jeweilige Sichtweise auf ein Werk besondere Kernaussagen beinhalten. Im Folgenden Franz Welser-Mösts Ausführungen zu seiner »besonderen Stelle« in der von ihm zur Wiederaufnahme gebrachten Elektra.
Spricht man mit unterschiedlichen Menschen über Richard Strauss’ Elektra, dreht sich das Gespräch immer wieder um die Erkennungsszene zwischen Orest und der Titelheldin. Kein Wunder, zählt diese Passage doch zu den berührendsten, bewegendsten und »stärksten« der Opernliteratur.
Für mich gibt es allerdings einen Moment in der Oper, der noch direkter auf den Kern des Dramas, auf die Charakterstruktur Elektras und die Grundfragen des Werkes Bezug nimmt und in vielem der Schlüssel zum Verständnis der gesamten Oper ist. Nämlich: Ein Satz Elektras am Ende des Stücks, die Antwort auf die Frage der Chrysothemisʼ, ob sie denn den Lärm, die allgemeine Begeisterung über Orests Wiederkehr nicht höre? Elektra darauf: »Ob ich die Musik nicht höre? Sie kommt doch aus mir!« Eine Zentralstelle! Denn alles, was sich an diesem Abend ereignet, alles was an Drama passiert, entsteht ja mit ihr, entspringt in ihr, in ihrem Kopf. Das meinte Hofmannsthal in seinem Libretto, als er Elektra diese finalen Worte gab, und das meinte Strauss in der Musik, die folgt: Ein dionysischer, rauschhafter Tanz, der alles über Elektra und ihre obsessive Liebe zu ihrem Vater erzählt, aber auch über die unglaubliche innere Kraft, die diese Figur hat – nicht nur bei Strauss, sondern seit jeher, seit der griechischen Antike.
Was aber ist nun dieser Tanz? Pures Glück? Befreiung? Eine Entrückung? Und: Gibt es Trübungen? Wenn man genau hinhört, merkt man, wie das Motiv des Schlachtopfers auftaucht und dominanter und dominanter wird. Es beginnt in den Kontrabässen und Celli, erfasst mehr und mehr das ganze Orchester: Elektra wird zum Schlachtopfer ihrer eigenen zwanghaften Rachelust. Daher findet sich am Ende der Oper auch die Regiebemerkung »Elektra stürzt zusammen« – sie hat ihre sich selbst auferlegte Aufgabe vollbracht, ihr einziges Sehnen, die Rache, ist erfüllt. Was also bleibt ihr noch, als zu sterben?
Und dass Strauss in einem gleißenden C-Dur endet, ist nichts anderes, als das musikalisch beschriebene Verglühen der Protagonistin. Die Sprachlosigkeit im Tanz am Ende der Oper verweist wiederum nicht nur darauf, dass dem Getanen nichts mehr hinzugefügt werden kann, sondern auch auf den Aspekt des Logikverzichts im Mythos generell. Es muss nichts erklärt werden, weil es intuitiv verständlich ist oder aber gar nicht erklärt werden könnte: Denn was ist ein Mythos? Er ist der Traum eines Volkes. Und Träume sind vielleicht deutbar, man kann Licht ins Dunkel bringen, aber sie sind zunächst einmal nicht an die Logik eines wachen Tages gebunden, sondern frei. Diese Freiheit von Logik in logisch-schlüssige Worte zu fassen: das wollten die Autoren der Oper nicht. Daher spricht an dieser Stelle die Musik, und nur die Musik.
Die Nähe der Oper zu den bahnbrechenden Studien über Hysterie von Sigmund Freud und Josef Breuer, erstmals veröffentlicht 1895, ist nicht nur offensichtlich, sondern gehört zum innersten Wesenskern des Werks. Denn was ist Elektra anderes, als Sigmund Freud in Musik gesetzt? Denken wir nur daran, was zwischen Klytämnestra und Elektra verhandelt wird, was sich zwischen Chrysothemis und Elektra abspielt, selbst die Mägde-Szene ist mit ihrer psychologischen Unterfütterung spannend. Im Grunde ist ja die ganze Oper ein Psycho-Krimi! Gerade darum finde ich auch die obengenannte Passage so wesentlich! Und wäre ich ein Regisseur, so inszenierte ich die ganze Oper in einem riesigen Kopf, als Innensicht des Gehirns, der Psyche, des Geistes der Elektra. Dieser psychologische Grundimpuls bleibt nicht nur auf die Bühne beschränkt, sondern greift über die Figuren der Handlung hinaus, ergreift auch uns Ausführenden. Im Studienprozess, der mich tief ins Innere des Werks hineinführt, muss ich mich den intensiv wirkenden Kräften der Oper stellen und befinde mich in einer intime Nähe zu den Charakteren, ihren Wünschen, Trieben, Hoffnungen und Motivationen: Ich bin gefangen von dem Werk, von seinen Figuren, lebe in dieser Schein-Realität, sie kreist ständig um mich. Einfach die Partitur weglegen und aus dem Zusammenhang heraustreten: das kann ich nicht. Ein fruchtbarer, aber auch zuweilen belastender Zustand, wenn es eben um beklemmende Themen wie in Elektra geht. Diese Oper greift das Nervenkostüm an, vor allem auch im Nachhinein. Die schlaflosen Nächte hat also nicht nur Klytämnestra, sondern auch der Dirigent.
Nun stellt sich freilich vor allem in solchen Momenten die Frage, wie sich ein Dirigent zum Rauschhaften verhält? Distanziert er sich? Oder darf er sich mitreißen lassen? Ich zitierte da immer gerne den großen Fritz Kortner, der einmal zu seinen Schauspielern sagte: »Auf der Bühne müsst ihr nicht weinen – aber das Publikum.« Ein weiser Satz! Denn wir sind ja dazu da, dem Publikum ein Werk so nahe zu bringen, dass es von ihm ergriffen wird. Zwar müssen auch wir Ausführenden berührt werden, doch darf uns das nicht im Weg stehen. Immer muss klar sein: Ich habe als Dirigent eine Funktion, und diese muss ich auch erfüllen. Ganz besonders bei Strauss! Zwischen den ekstatischen Momenten und dem zuweilen großen Orchesterapparat mit all seinen Farben sind die genaue Einhaltung der Form, das Ordnen und das Grenzen-Setzen unabdingbare Bedingungen, wenn man nicht Gefahr laufen will, dass das Werk durch seinen intensiven Ausdruck außer Rand und Band gerät und alles in einem unkontrollierten Klangeindruck untergeht. Ganz nebenbei: Eine ungemein kräfteraubende Oper, auch für den Dirigenten! Kein Wunder, dass Karajan in Hinblick auf die psychischen und physischen Herausforderungen meinte, dass man sie mit 60 aus der Hand legen soll. Ich werde diesem Ratschlag folgen, zwar nicht mit 60, doch nicht viel später. Mit ein bisschen Wehmut, aber dem tröstlichen Wissen, dass sich durch die Erkenntnis, dass jedes Ding seine Zeit hat, eine höhere Konzentration auf den aktuellen Moment ergibt.