Flutlicht aus dem Jenseits
Als der Lohengrin, Richard Wagners dritte und letzte »romantische Oper«, am 28. August 1850 unter Franz Liszt uraufgeführt wird, strömt die europäische Intelligenzia nach Weimar: Giacomo Meyerbeer, Bettina von Arnim, der Schriftsteller Karl Gutzkow, Kritiker aus London und Paris und viele mehr. Die Erwartungen sind hoch, die Reaktionen verhalten. Der Einzige, der dem Ereignis nicht beiwohnen kann, ist der Komponist selbst. Als Königlich Sächsischer Hofkapellmeister hatte er 1849 an den Dresdner Mai-Aufständen teilgenommen (die nach vier Tagen blutig niedergeschlagen wurden), er ließ Flugblätter drucken, transportierte Handgranaten, kurz: er war »freischaffend für die Revolution tätig«. Wagners letzte Amtshandlung ist ein Konzert am 1. April 1849 mit Beethovens
9. Symphonie. »Alle Menschen werden Brüder«? Das Pathos, die aufgewühlte Theatralik dieser Aufführung kann man sich wohl vorstellen. Bis heute streiten sich die Gelehrten darüber, was Wagner in der Revolution von 1848/49 wohl sah: ein echtes Politikum, die Chance zur Verwirklichung radikaldemokratischer Ideen? Oder doch mehr die Erhebung einer kollektiven, in der Kunst sich bündelnden Leidenschaft, wie er sie wenig später in seinen theoretischen Schriften formulieren und fordern sollte? Ich bin da unschlüssig. […].
Die erste Beschäftigung Wagners mit der Lohengrin-Sage reicht in die Zeit seines ersten Paris-Aufenthalts 1839 zurück. Als Quellen gelten Wolfram von Eschenbachs Parzival, den Wagner während einer Kur in Marienbad 1845 studiert (in der Übersetzung von Karl Simrock), sowie Texte von Joseph Görres und Jacob Grimm. Die Genese des Werks ist einigermaßen zerrissen: Das Libretto liegt bereits Ende 1845 fertig vor, erste Kompositionsskizzen entstehen bis Sommer 1847 (als Letztes das Vorspiel).
Um sich besser konzentrieren zu können, zieht Wagner zwischenzeitlich aufs Land, nach Graupa in der Nähe von Pirna, in das sogenannte Schäfersche Gut (heute ein Richard-Wagner-Museum). Die Ausarbeitung der Partitur erfolgt dann in einem euphorischen Schaffensrausch von Januar bis Ende April 1848, der Uraufführung in Dresden steht scheinbar nichts im Wege.
Musik
Die Lohengrin-Partitur ist von großer Schlichtheit und größter Raffinesse, sie ist naiv und sentimentalisch, melodiös und avanciert. Mit dem Tannhäuser mag Wagner sein Leben lang hadern; der Lohengrin glückt ihm auf Anhieb. Im Tannhäuser nimmt Wagner von der Spieloper Abschied; im Lohengrin setzt er der deutschen romantischen Oper ein Denkmal und überwindet sie zugleich. Ein Held, der seinen Namen nicht nennen darf, der Gral als eine übergeordnete Instanz, die im Unsagbaren, Unerreichbaren, ja, Göttlichen siedelt – all das trägt bereits so viel von der Kunstmythologie des Parsifal in sich, dass man sich nicht wundert, wie ratlos das Weimarer Premierenpublikum 1850 reagierte.
Formal ist der Lohengrin Wagners erstes wirklich durchkomponiertes Werk. Stärker als im Tannhäuser setzt er hier auf die Kunst des Übergangs: Das motivische und harmonische Material der drei Akte ist so dicht miteinander verwoben, der Orchestersatz so symphonisch organisiert, dass sich allfällige »Nummern« wie Elsas traumwandlerischer Auftritt im ersten Akt oder der Hochzeitsmarsch, das Liebesduett und die Gralserzählung im dritten Akt wie von selbst daraus ergeben. Darüber hinaus trifft Wagner charakteristische Zuordnungen: Lohengrin und der Gralswelt gehört in ihrer »blau-silbernen Schönheit« (Thomas Mann) die Tonart A-Dur, dem Antagonistenpaar Ortrud/Telramund das finstere, wilde fis-Moll (die Paralleltonart), und alles, was den König meint, tritt in ebenso plakativem wie letztlich leerem C-Dur hervor. Verschränkt wird dies mit der Instrumentation: Der König hat die Blechbläser auf seiner Seite, Ortrud/ Telramund werden von Holzbläsern und tiefen Streichern grundiert und Lohengrin umgibt ein gleißender Strahlenkranz aus vielfach geteilten Geigen. Gleichzeitig spiegeln sich die Motive Lohengrins und Elsas ineinander, ja, sogar Ortruds Sphäre findet sich darin geborgen. Es ist eine Welt, in der wir leben, sagt Wagner – das Gute wird niemals ohne das Böse, der Himmel nie ohne die Hölle zu haben sein.
Lohengrin ist auch die erste Oper, für die Wagner keine »Ouvertüre« mehr schreibt, sondern ein »Vorspiel«. Ich möchte diesen Begriffswechsel nicht überbewerten, die Abkehr aber von der italienischen und französischen Opernkonvention, die darin zum Ausdruck kommt, ist deutlich. Wagner möchte eine eigene Tradition begründen und befindet sich auf dem besten Wege dahin. Außerdem hat das Lohengrin-Vorspiel – im Gegensatz zu den Ouvertüren des Holländer und des Tannhäuser –
alles andere als ein effekthascherisches Ende.
»Ohne Pause weitergehen«, schreibt Wagner unter die transzendierenden Streicher des Schlusses, und schon geht es weiter: mit König Heinrich und seinen Mannen, mit der ersten Szene des ersten Aktes.
Das Flutlicht aus dem Jenseits, mit dem dieses Vorspiel beginnt, ist rückhaltlos bewundert worden. Franz Liszt sprach von »einer Art Zauberformel«, Pjotr I. Tschaikowski sah darin Giuseppe Verdi vorweggenommen, »das letzte Schmachten der sterbenden Traviata«, und Thomas Mann rief gar die ganze Oper zum »Gipfel der Romantik« aus. Wer die Partitur studiert, merkt, mit welcher unglaublichen Vorstellungskraft Wagner hier zu Werke geht, mit wie viel Poesie, Handwerk und Chuzpe! Bei den Geigen spielen einige Flageolett, andere nicht, nach und nach setzen die übrigen Streicher ein, ebenfalls geteilt, dann schleichen sich Oboen und Flöten dazu – und alles zusammengenommen ergibt ein silbriges Geglitzer und Geflirre, als würde man auf sonnenbeschienene Wellen schauen und geblendet werden. Bei einem guten Dirigenten übrigens hört man den Einsatz der Holzbläser nicht, das ist wie mit den Fagotten und Hörnern im Pilgerchor des Tannhäuser.
Wagner wollte keine Stufen erklimmen, sondern Farben mischen. Das macht er im Lohengrin mit dem großen Orchesterpedal, dem Rauschen aller Instrumente, von ganz oben bis nach ganz unten und wieder hinauf, von den Haar- bis in die Zehenspitzen und über die Eingeweide wieder zurück – einzigartig!
Ähnlich grandios gestaltet er den Schluss der Szene im Brautgemach. »Weh! Nun ist all unser Glück dahin!«, singt Lohengrin, »tief erschüttert«, nachdem Elsa ihm die verbotene Frage gestellt hat und der Attentäter Telramund gefallen ist. Den aufmerksamen Hörer wird dieses »Weh! Nun ist all unser Glück dahin!« an etwas erinnern, nämlich an Lohengrins »Woher ich kam der Fahrt,/noch wie mein Nam’ und Art!« im ersten Akt, an den zweiten Teil von »Nie sollst du mich befragen« also. Gleiches Motiv, gleiche Harmonien, nur doppelt so langsam – und eine völlig andere Stimmung. Mehr Tiefenlage, mehr Requiem, nur fahles Cello. Und dann diese Glocke, die wie eine Totenglocke aus galaktischer Ferne herüberspukt. Überhaupt, immer wenn bei Wagner die Spannung auf dem absoluten Siedepunkt angekommen ist, passiert plötzlich gar nichts mehr. Nur ein einsamer Glockenschlag noch oder ein Paukenwirbel, wie nach Telramunds Tod.
Erst Riesentumult, Elsa schreit »Rette dich! Dein Schwert! Dein Schwert!«, und dann nur Stille, Stille, Stille. Vier Takte Pauke allein. Da denkt man, das Herz bleibt einem stehen. Und was setzt Wagner gegen diese lastende, lähmende Depression? Den Reitermarsch, schmetternde Fanfaren, »Heil, König Heinrich!/ König Heinrich Heil!«, mit zehn, zwölf Trompeten auf der Bühne. Was für ein verrückter, toller Kontrast! Wie im Film! Dieser Hund.
Das Wort zu Bayreuth ist oben schon gefallen: Mit dem Lohengrin strebt Wagner Effekte an, Klangwirkungen, die sich für ihn erst viel später auf dem Grünen Hügel haben verwirklichen lassen. So gesehen ist der Lohengrin ein Stück Utopie –
was leider nicht heißt, dass er besonders gut ins Festspielhaus passt. Vor allem im Vorspiel zum dritten Akt machen sich die Grenzen des Bayreuther Grabens doch arg bemerkbar.
»Sehr feurig, doch nie übereilt«, schreibt Wagner, und das sollte man unbedingt beherzigen. Das schwere Blech, die Virtuosität des ganzen Orchesters, das ist fulminant, das muss rasen, es muss auch mal knallen mit den vielen Triolen und Punktierungen, nur darf man’s nicht überziehen. Der versierte Kapellmeister wird immer sagen, in Bayreuth dirigiere ich dieses Vorspiel um drei Prozent langsamer als im offenen Graben, damit die Musik deutlich bleibt.
Der »mystische Abgrund« mischt, wo es vielleicht gar nichts zu mischen gibt. Außerdem schluckt er die Obertöne, und eine Partitur, die so auf Glanz gebürstet ist wie die des Lohengrin, wird hier immer mattierter klingen als in München oder Wien.
Somit stellt sich beim Lohengrin für den Dirigenten eine wichtige Frage zum ersten Mal in aller Klarheit: Wie viel Struktur braucht Wagners Musik? Wie viel verträgt sie? Wie löse ich den Widerspruch zwischen Atmosphäre und Deutlichkeit, Misch- und Spaltklang? Die Antwort geben einem Handwerk, Gefühl und Erfahrung.
→ aus Christian Thielemann, Mein Leben mit Wagner. Unter der Mitwirkung von Christine Lemke-Matwey, München: C. H. Beck, 2012