Faszination (Staats)Oper

Die Gänsehaut erwischt einen aus dem Hinterhalt und der nicht betitelbare Zauber stellt sich ganz unkalkulierbar ein. Aber genau das macht den stets neuen und unnachahmbaren Reiz des Musiktheaters, der Live-Vorstellung aus, für den kein persönlicher Einsatz zu groß scheint. Man arbeitet und muss erreichen, dass eine Aufführung sehr gut über die Bühne geht, man freut sich über einen außerordentlichen Abend und ist dankbar für die nicht erzwingbare (seltene) Sternstunde, die uns für Monate zu tragen imstande ist.

Mein erster Kontakt mit der Welt der Oper verlief, aus heutiger Sicht, allerdings recht unkonventionell: Ich muss so gegen sieben Jahre alt gewesen sein, als meine Eltern endlich der Meinung waren, dass mir eine Live-Vorstellung zuzumuten wäre und so nahm mich mein Vater zu einer Carmen am Mannheimer Nationaltheater mit (wir wohnten damals in Heidelberg). Die Inszenierung scheint für damalige Verhältnisse sehr verstörend gewesen zu sein – auf jeden Fall beendete mein Vater diesen Erstkontakt in der Pause mit den Worten „Den Rest sieht du nicht!“ und suchte das nächstgelegene MAREDO Steakhouse auf, wo ich ein wunderbares Steak und meinen allerersten Maiskolben serviert bekam. Alles in allem also keine schlechte Erfahrung! (Nichtsdestotrotz habe ich mir die Flucht in der Pause mittlerweile trotz vieler verführerischer kulinarischer Angebote abgewöhnt.)

Meine bevorzugten Stücke – und da komme ich an der Wiener Staatsoper so richtig auf meine Rechnung – finde ich im deutschen (spät)romantischen Repertoire, insbesondere seien hier Richard Wagner und Richard Strauss genannt. Salome und Elektra beispielsweise sind so zentrale Werke, die mich hinsichtlich der Perfektion in puncto Orchestrierung, Dramaturgie, Form und vokale Konzeption der psychologisch tiefgründig gestalteten Bühnenfiguren immer wieder neu beeindrucken. Darüber hinaus freue ich mich bei dem einen oder anderen Stück von Vornherein regelmäßig auf ganz konkrete Passagen, die ich wie die sprichwörtlichen Rosinen herauspicke (ohne, dass sie deshalb anderen abhandenkommen): Rosenüberreichung, Vorspiel 3. Akt und Schlussterzett im Rosenkavalier etwa, aber auch die Finali in so mancher Rossini-Oper gehören hierher. Rossini ist übrigens, neben Strauss, einer der wenigen Komponisten, dessen Musik ich in jeder persönlichen Gemütsverfassung gerne auf der Opernbühne erlebe – eine Italiana in Algeri oder ein Barbier von Sevilla geht immer, egal wie mein Tag verlaufen ist und was ich erlebt habe.

Ein wunderbarer Moment an jedem Abend ist der unmittelbare Moment vor dem Beginn: Wenn der Zuschauerraum bereits im Dunkeln verschwindet, der Vorhang aber noch geschlossen ist, das ist der Zeitpunkt jener eigenartigen Spannung, die gespeist ist von all den Möglichkeiten, aus denen schlussendlich nur einige wenige Realität werden.

Was die Wiener Staatsoper ganz speziell auszeichnet ist unter anderem dieses wunderbare Zusammenspiel zwischen Bühne und Orchestergraben. Da unser Orchester, verglichen mit anderen Häusern, recht hoch sitzt ergibt sich ein visueller und akustischer Kontakt zu den Sängerinnen und Sängern der ein optimales gemeinsames Musizieren ermöglicht, was auch dadurch verstärkt wird, dass das Orchester die Opern so gut kennt, dass man es mit internationalen Spitzenkünstlern sowie einem Ensemble zu tun hat, das gewohnt ist, Stücke nicht nur durch langwöchige Probenprozesse zu erarbeiten, sondern auch durch genaues Aufeinanderhören und Aufeinanderreagieren, wodurch bei derselben Besetzungskonstellation an zwei verschiedenen Abenden vollkommen unterschiedliche künstlerische Ergebnisse zutage treten können – und dadurch siehe oben – das Publikum mal mit einer sehr guten Aufführung, mal mit einer außerordentlichen Aufführung, mal mit einer Gänsehaut belohnt wird.

Thomas Lausmann (musikalischer Studienleiter der Wiener Staatsoper)