FAST EIN HALBES LEBEN
Kein namhafter deutscher Komponist des 19. Jahrhunderts hat es gewagt, Faust zu vertonen. Louis Spohr näherte sich diesem Mythos, aber ohne auf Goethe Bezug zu nehmen – aber den Faust ohne die philosophische Grundierung Goethes zu komponieren und nur als Liebesgeschichte herauszulösen: undenkbar! Das konnte nur jemand aus dem Ausland machen, und auch der nicht ungestraft, denn wenn wir die deutschsprachigen Rezensionen lesen, warf man Gounod bis weit ins 20. Jahrhundert vor, sich an dem »deutschen Meister« vergriffen zu haben. Gounod aber konnte nicht anders: Faust, das war sein Herzensprojekt, ein Traum. Schon als junger Träger des renommierten Prix de Rome saß er seinem eigenen Bericht zufolge auf Capri, blickte aufs Meer und erträumte sich die ersten Szenen der Oper. Das war 1840 – die Kompositionsgeschichte von Faust sollte dann – alles in allem – bis 1869 dauern. Fast ein halbes Leben.
Als Dirigent steht man immer vor der Frage nach der »richtigen« Fassung. Das ist bei Faust – trotz allem – gar nicht so schwierig zu entscheiden wie bei anderen Werken. Die erste Version kam 1859 mit gesprochenen Dialogen heraus (das war am Uraufführungshaus, dem Théâtre-Lyrique, so üblich). Es folgten Überarbeitungen, Einfügungen und Ergänzungen: Statt den Dialogen schrieb Gounod neue Rezitative (die ich in diesem Werk gegenüber den gesprochenen Texten bevorzuge, zumal sie vom Komponisten selbst stammen), Valentins Kavatine entstand für eine Londoner Aufführung und wurde fortan fester Bestandteil der Oper, was die Rolle enorm aufwertet; für die Pariser Opera fügte der Komponist das damals dort verpflichtende Ballett in die Walpurgisnacht ein – für sich genommen ein brillantes Stück, das aber, wie die meisten in Opern nachträglich eingefügten Ballette, die Handlung zu einem späten Zeitpunkt des Stückverlaufs unnötig verzögert und heute kaum mehr gespielt wird. Gounod machte das alles mit, teilweise gegen seine ursprünglichen Intentionen. War er deswegen ein Opportunist? Vielleicht. Ist das schlimm? Nein. Er wollte aufgeführt werden, wie alle Komponisten es wollen, gerade mit seinem Wunschprojekt Faust. Daher akzeptierte er das weit von Goethe entfernt liegende und mitunter oberflächliche Libretto ebenso wie Eingriffe von Intendanten und Sängern. Dennoch: Es wurde ein Meisterwerk! Man findet keinen falschen oder unnötigen Takt in dieser Oper.
Wie gerne würde ich Gounod aber trotzdem fragen, warum er sich dieses Libretto angetan hat? Ob ihm da nicht doch textliche Inhaltstiefe gefehlt hat? Vielleicht würde er antworten: »Was für eine Frage! Natürlich – aber das Drama finden Sie doch in der Musik ...!« Und so ist es ja auch: All das Dramatische und Tiefsinnige des Sujets liegt hier nicht im Text, sondern in der Komposition; Gounod beweist sich in Faust als ein Komponist, der die Seele von Goethes Opus Magnum nicht nur gekannt, sondern auch verstanden hat, und er schöpft, als Meister der Farb- und Stilmischung, seine Kraft aus – scheinbarer – stilistischer Widersprüchlichkeit. Nehmen wir nur als Beispiel den Gegensatz zwischen der Kirmes-Szene, bei der man denkt, dass Maurice Chevalier gleich aus der Gasse kommt, und der direkt folgenden Valentin-Arie: was für ein starker, belebender dramatischer Gegensatz! Denken wir an die großen Chöre, die uns in manchen Momenten an die typische Grand opera erinnern und die einen ungemeinen Farbenreichtum anbieten, und dann wieder die kleinen Chor-Ensembles oder den schlichten, ergreifenden A-cappella-Gesang des Chores nach dem Tod Valentins.
Dann wieder hören wir einen leichten Walzerrhythmus, mit dem Marguerite die Juwelen besingt, eine Arie, deren Wirkung auch dadurch verstärkt wird, dass sie unmittelbar zuvor das schlichte, historisch klingende, ihr offenbar zur routinierten Gewohnheit gewordene »Es war ein König in Thule«-Lied intoniert. Und schließlich die erlesene, schmerzliche Schönheit der Spinnrad-Musik, die von der Sängerin der Marguerite (die im 2. Akt noch ihre Koloraturbrillanz unter Beweis stellen muss) höchste Lied-Qualitäten abverlangt. Hier entdecken wir den genialen Dramaturgen Gounod: Es ist nämlich genau das in den Violinen in 32tel-Figuren schnurrende Spinnrad, das wir im ersten Akt bei Fausts Marguerite-Vision hören, dort allerdings mit einem Horn (das Méphistophélès-Instrument!) und der Harfe (als musikalisches Zeichen des verklärten Marguerite-Bildes) kombiniert: Im Rückblick verstehen wir dann auch, dass schon damals in der Vision, trotz des hellen E-Dur der Violinen, das tragische Ende mitschwang und die Geschichte gar nicht gut ausgehen kann. Eine besondere Herausforderung ist das Finale: Wenn sich Marguerites Partie höher und höher schraubt, wenn sie am Ende des Abends mit dramatischer Durchschlagskraft besticht, merkt man, wie sich diese Figur musikalisch – von der »alten Musik« des Thule-Liedes über die perlende Juwelenarie bis zum dramatischen, fast »wagnerisch« gesteigerten Finale – entwickelt. Das macht die Marguerite zu einer so außerordentlich herausfordernden Partie für jede Sängerin.
Immer wieder erlebt man in Opern (wie zum Beispiel in La traviata), dass der Beginn musikalisch das Ende vorwegnimmt. Bei Faust ist es genau umgekehrt. In der Kerkerszene intoniert Marguerite eine Reminiszenz ihres ersten Treffens mit Faust, wobei sie nun beide Partien übernimmt. An dieser Stelle dünnt der Orchesterton immer stärker aus, das Klanggewebe wird filigran; und so wie Faust am Anfang alt war und dann jung wird, so erscheint mir Marguerite, die jung ist, an dieser Stelle plötzlich radikal gealtert, zerbrechlich, fast schon verklärt.
Ein schönes Beispiel für die Überkreuzung von zwei Zustanden, hier Groteske und Lyrik, ist die Gartenszene, genau in der Mitte der Oper, mit den Paaren Marguerite und Faust sowie Marthe und Méphistophélès. Die beiden Paare singen textlich Unterschiedliches, aber die Musik in den Quartettpassagen vereint sie. Doch die schöne musikalische Harmonie währt nicht lange, da Marthe immer wieder stört. Gounod benutzt diese Szene, um via Marthe eine besondere Farbe des Méphistophélès zu zeigen: eben die Groteske. Méphistophélès ist im Libretto kein dämonischer Nihilist, kein philosophischer Verführer, er hat keine Klasse, ist kein Arsene Lupin, sondern vielmehr: ein Taschenspieler, ein Teufel zweiter Kategorie – was übrigens in dieser Inszenierung sehr gut herausgearbeitet wird. Doch gemessen am Umfang und an der Herausforderung seiner Partie musste die Oper eigentlich nach ihm benannt sein: Er ist dauernd auf der Bühne und hat die Gelegenheit, sehr unterschiedliche Facetten zu zeigen. Im 1. Akt beginnt er mit einem fast leichtfüßigen Duett mit Faust, dann – geradezu bombastisch und für den Sänger äußerst attraktiv – im 2. Akt das Rondo vom goldenen Kalb (diese Nummer erinnert wiederum mehr an die Grand opera) und im dritten Akt besingt er traumhaft schön – aber zynisch! – die Nacht: Er darf lange, berückende Linien gestalten, eine Herausforderung, die nur jemand umsetzen kann, der auch den Liedgesang souverän beherrscht. In der Kirchenszene im 4. Akt erleben wir Bach‘sche Musik im romantischen Gewand – auch hier treffen Schönheit und Zynismus aufeinander. Seine Serenade erinnert ein wenig an Don Giovanni – da kann der Sänger wieder brillieren, bevor er im 5. Akt in der Kerkerszene noch einmal eine dramatische Charakterstudie abliefern darf. Dass Méphistophélès nicht nur in der Kirche auftreten darf, sondern Marguerite auch noch ihr Kind tötet, waren jene Handlungsaspekte, die eine Aufführung an der Pariser Opera sicherlich nicht erleichtert haben!
Bei der Charakterisierung der Hauptfiguren folgt Gounod einer eigenen Instrumentations-Dramaturgie: So wie das Horn Méphistophélès als »sein« Instrument beigestellt wird, gehört das Cello zu Siebel – die Arie wirkt fast wie ein Schubert-Lied. Faust wiederum wird bei seiner berühmten Kavatine im 3. Akt (»Salut! Demeure chaste et pure«) von der Solo-Violine begleitet, an anderer Stelle spielt die solistische Klarinette eine wesentliche Rolle: Diese konzertierenden Instrumente des Orchesters verleihen dem Werk immer wieder eine sehr reizvolle kammermusikalische Note.
Als weiteres Stilelement in dieser Oper muss noch die Orgel genannt werden: Zu hören ist sie in der Kirchenszene und schließlich in der finalen Apotheose. Beide Szenen enden in C-Dur und diese Tonart, die aufgrund ihrer Vorzeichenlosigkeit gerne für das »Reine« oder auch das »Siegreiche« verwendet wird, zeigt sich hier mit zwei Gesichtern: in der Kirchenszene, nach dem Aufschrei Marguerites unglaublich schmerzhaft und dann am Ende der Oper befreiend und erlösend. Eine Tonart – zwei Ausdrucksformen.
Eine oft diskutierte Frage ist, ob und in welchem Maße Faust am Beginn der Oper alt klingen soll – schließlich ist er ja im Stück ein Greis. Im Laufe der Arbeit sind wir draufgekommen, dass es weniger eine Frage der stimmlichen Farbe ist, sondern dass es besonders um den Ausdruck des Textes geht, unter anderem auch um eine besondere Betonung der Konsonanten. Faust verflucht anfangs alles: die Jugend, das Glück, die Hoffnung, immer und immer wieder verwendet er das Wort »maudit« (»verflucht«). Aus der verknöcherten Verbitterung des Fluches heraus muss sein Alter spürbar werden, nicht durch eine künstlich verstellte Stimme. Nach der Verjüngung ist er ein typischer französischer, lyrischer Tenor: Er hat eine Paradearie, in der er ein hohes C zeigen kann, im Verlauf der Oper muss aber auch er mehr und mehr dramatisches Potenzial entwickeln. Das finale Terzett, über das wir schon sprachen, ist auch für ihn eine enorme Herausforderung, und wie Marguerite ist Faust ein Charakter, der im Laufe des Abends eine erstaunliche musikalische Wandlung durchmacht und diese glaubhaft darstellen und singen muss.
Dass die Oper letztlich Faust und nicht Méphistophélès oder Marguerite heißt, hat mit dem Mythos zu tun – Faust ist eben Faust! Im deutschen Sprachraum war die Sache ganz anders: Da lief die Oper bis weit ins 20. Jahrhundert hinein meist unter dem Titel Margarethe – um dem Goethe‘schen Meisterwerk nicht in die Quere zu kommen.
Warum wurde der Faust, trotz aller erwähnten Einschränkungen, in so kurzer Zeit so enorm erfolgreich in allen Opernhäusern der Welt? Einfach weil die Musik fantastisch ist! Man verlässt den Abend mit einem Dutzend Ohrwürmern. Gounod konnte alles bedienen. Schon die Kirmes-Szene am Beginn des zweiten Aktes zeigt, wie raffiniert er Verschiedenartiges zusammenfügen kann: Matronen, Studenten, Burger, Soldaten, Junge und Alte, jeder im Publikum konnte sich wiederentdecken. Dazu später die Kirche, ein bisschen Teufelsspuk, Walpurgisnacht, martialische und romantische Szenen – das alles verbunden mit dem Namen eines anspruchsvollen Stoffs, der wiederum den Bildungsburger locken sollte: nichts fehlt! Gounod selbst war, wie viele französische Komponisten seiner Zeit, vom Tiefsinn und der Abgründigkeit und Dunkelheit des Stoffes angezogen, eine Düsternis, die er als typisch »deutsch« empfand. Nicht viel anders erging es seinem Kollegen, Jules Massenet, der später mit dem Werther einem ebenso »dunklen« Goethe-Stoff musikalische Unsterblichkeit verleihen sollte. Gounod war wie ein guter Filmregisseur, der weiß, dass wenn man sich zu sklavisch an eine literarische Vorlage halt, zumeist kein guter Film daraus wird. Er verstand, was er der Opernbühne seiner Zeit schuldig war, um ein erfolgreiches Werk aus dem Stoff zu machen, der ihm so nahe war. Dass er mehr von der literarischen Vorlage verstand als viele seiner Zeitgenossen – auch und besonders im deutschsprachigen Raum – wahrhaben wollten, und wie viel er von den Tiefen und Abgründen von Goethes Meisterwerk wusste, kann man trotzdem in vielen Momenten der Musik heraushören.
Text von Bertrand de Billy