Emportauchen wie aus einem Seelenbad
Mit der musikalischen Leitung der Staatsopernerstaufführung von Věc Makropulos gibt der junge tschechische Dirigent Jakub Hrůša sein Debüt im Haus am Ring. Innerhalb kurzer Zeit konnte sich der ehemalige Musikdirektor sowie Chefdirigent der Prague Philharmonia und designierte Chefdirigent der Bamberger Symphoniker (ab 2016/2017) am Pult namhafter internationaler Orchester und mit erfolgreichen Opernproduktionen weltweit einen Namen machen. Anfang November wurde er überdies mit dem Sir Charles Mackerras Preis der Leoš Janáček Foundation ausgezeichnet. Während der Probenarbeit zu Věc Makropulos führte er mit Andreas Láng das nachfolgende Interview.
Wo liegen die musikalischen Unterschiede zwischen Věc Makropulos und Janáčeks letzter Oper "Aus einem Totenhaus" einerseits und der deutlich früher entstandenen und verhältnismäßig gut bekannten "Jenůfa" andererseits?
Jakub Hrůša: Věc Makropulos und Aus einem Totenhaus liegen nicht nur chronologisch eng beieinander – die zwei Opern wurden 1923-1925 bzw. 1927-1928 komponiert – sondern sind auch musikalisch sehr nah miteinander verwandt und repräsentieren gemeinsam den späten Janáček . Ist allerdings im Totenhaus die Dramaturgie der Oper schon besonders fragmentarisch, da es keinen linear verlaufenden Erzählstrang gibt, sondern mehrere unzusammenhängende Episoden die durch die Hauptfigur Gorjantschikow und vor allem durch die Kraft der Musik zusammengeschweißt werden, so sind wir in Věc Makropulos diesbezüglich noch nicht so weit, sondern lediglich an eine Etappe auf dem Weg zu genau diesem Konzept angelangt. Vor allem deshalb, weil das Makropulos-Libretto noch auf einem dramaturgisch funktionierenden Theaterstück basiert und dadurch eine traditionellere Erzählweise aufweist als das Totenhaus. Der Unterschied zu Jenůfa ist hingegen deutlich größer: Chronologisch, da verhältnismäßig viele Jahre zwischen Věc Makropulos und Jenůfa verstrichen sind, und vor allem stilistisch: Erstens hat Janáček in seiner letzten Phase das folkloristische Element nicht mehr so intensiv benutzt wie in seinen frühen Opern – in Jenůfa ist dieser Aspekt jedoch essenziell. Zweitens sind in der Handlung von Jenůfa noch ein gewisses Schwarz/Weiß zu erkennen, etwas, was in der Zeit um 1900 herum üblich war, das fällt bei Věc Makropulos und Aus einem Totenhaus weg, diese beiden Stücke sind sozusagen komplett unbeeinflusst und eigenständig. Grundsätzlich kann man sagen, dass Janáček mit jeder seiner Opern einen Schritt näher an diesen endgültigen von allen äußeren Einflüssen gereinigten Spätstil herangekommen ist. So klingt seine erste Oper Šárka in Ansätzen noch nach Dvorák, mit Jenůfa hat Janáček dann sein erstes authentisches und unverwechselbares Stück geschaffen, das aber im Aufbau des Dramas noch traditionelle Strukturen aufweist, Osud und Broucek zeigen bereits jenen Experimentiercharakter, der der schlussendlich reifen Phase vorangeht, die mit Kátja Kabanová beginnt und über das Füchslein beziehungsweise Věc Makropulos weiterführt und mit dem Totenhaus endet.
Hat Janáček seine, für die Jenufa so elementare Erfindung, die Verwendung der tschechischen Sprachmelodie als grundlegende Basis seiner Musiksprache, in "Makropulos" ebenfalls benutzt?
Jakub Hrůša: Ja, aber weniger buchstäblich, eher auf künstlerische Art und Weise. Als Janáček Věc Makropulos schrieb war er ungefähr 70 Jahre alt und konnte bereits auf zahlreiche Opernkompositionen zurückblicken, die ihm ein gewisses Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten und seine Kompositionsmethode gewährten. Beim Niederschreiben der Věc Makropulos-Musik ist vieles schon intuitiv passiert, er konnte quasi aus dem Vollen seiner Erfahrung schöpfen und musste nicht jedes Detail hinterfragen. Außerdem waren diese Sprachmelodie-Bausteine für Janáček in dieser Stil-Phase nicht mehr das einzig beherrschende Element, vielmehr hat er zusätzlich mit Klängen, Harmonien und Rhythmen experimentiert. Mit sehr komplexen Rhythmen wohlgemerkt – man findet in der Partitur nahezu keinen einzigen Takt der von traditionellen Rhythmen bestimmt ist! Darüber hinaus hat Janáček das psychologische Ausdeuten der Agierenden durch die Musik interessiert.
Inwiefern?
Jakub Hrůša: Hier in Věc Makropulos „reagiert“ das Orchester auf zwei Arten auf das, was auf der Bühne passiert: Zum einen ist es die übliche Möglichkeit der Verdopplung. Wenn also jemand etwas singt, wird das Gesagte oder die Atmosphäre instrumental noch einmal hervorgehoben – zum Beispiel: jemand zeigt sich emotional eruptiv, so erklingt eine entsprechende eruptive Musik aus dem Orchester. Zum anderen benutzt Janáček das Orchester oft als psychologischen Kommentator, als Aufdecker von Unterbewusstem oder Verlogenem. Wiederum ein Beispiel: Eine Person singt bewusst kalt und gibt sich desinteressiert, aus dem Graben hören wir aber zugleich etwas sehr Warmes und Emotionales. Wir erkennen also durch das Orchester, was die Person auf der Bühne in Wahrheit denkt oder fühlt, oder im Unterbewusstsein verbirgt. Janáček sitzt also quasi als Zeuge im Orchestergraben und sagt: „Hört genau hin, es ist nicht, wie es scheint!“ Die Partitur ist somit extrem vielschichtig.
Wie sieht es mit der Ouvertüre aus? Erklingt hier etwas inhaltlich Programmatisches?
Jakub Hrůša: Meines Erachtens nach, hat Janáček mit der Ouvertüre Stimmungen platziert: Mechanische, geradezu motoristisch wirkende Passagen und Figuren stehen zum Beispiel im Kontrast zu einem schönen Espressivo. Insgesamt weist die Oper ja nicht sehr viele Passagen mit reiner Musik auf, vielmehr zieht sich wie ein roter Faden eine Art Konversationsstil durch die Partitur. Von wenigen Ausnahmen abgesehen – zum Beispiel vom fast hymnischen Schluss des dritten Aktes – ist Věc Makropulos keine Oper, die man mit geschlossenen Augen mitverfolgen kann, das Szenische ist sozusagen unerlässlich.
Solche hymnischen Opern-Schlüsse sind bei Janáček üblich, er bewirkt mit ihnen geradezu Katharsis-Momente …
Jakub Hrůša: Das war sein Verständnis von Kunst! Kunst hat seiner Meinung nach nicht nur die Aufgabe zu unterhalten oder zu schockieren, sondern auch emporzuheben. Janáček hat ja Strauss’ Salome und Elektra gerade deshalb abgelehnt, weil ihm diese Werke in der Veranschaulichung des Grausamen zu weit gingen. In der Jenůfa wird zwar das Thema Kindesmord behandelt, aber gewissermaßen in Kunst eingepackt, das Brutale, Hässliche wird durch Musik, Form und Harmonie auf Distanz gehaltenen und das ermöglicht am Schluss das Durchleben der Katharsis. Ist man im Umkehrschluss, so Janáček , zu unmittelbar, zu nah an der Brutalität, aber auch an der Komödie, bleibt kein Raum für Katharsis. In Věc Makropulos wird Emilia Marty, also die Hauptfigur, am Ende der Oper folgerichtig entpersönlicht, man sieht nicht mehr die Protagonistin, sondern eine universelle Symbolik für uns alle. Interessanterweise stellt sich die Katharsis nicht ein, wenn man eine CD einlegt und lediglich den Schluss einer Janáček -Oper anhört, nein, man muss sich durch die musikalisch nicht gerade leicht verständlichen Weiten der Oper durchmühen, um schließlich wie aus einem Seelenbad auftauchen zu können. Es ist wie im Sport, man muss Energie investieren, um am Ende emporgehoben zu werden.
Wo liegen die größten Herausforderungen in Věc Makropulos für den Dirigenten?
Jakub Hrůša: Im ersten Akt ist es die Fülle an schneller Konversation, im zweiten Akt sind die Eigentümlichkeiten des Klanges, der Klangfülle, Ausschmückungen, extreme Register, irreguläre Rhythmen die Herausforderung und im dritten Akt geht es um die Architektur, darum die einzelnen Teile in den richtigen Bezug zueinander zu setzen, die finale Katharsis kraftvoll zu präsentieren. Grundsätzlich ist diese Oper für alle Beteiligten schwer, es gibt keine Passagen, in denen man sich ausruhen kann, stets ist extrem fokussierte Konzentration erforderlich. Dazu kommt, dass der Dirigent in der gesamten Oper immer und immer wieder Übergänge zu meistern hat und Interpretationslösungen finden muss, da viele Stellen der Partitur in puncto Interpretation mehrdeutig sind, mehrere Lösungen zulassen.
Věc Makropulos ist von der Tonalität schwer einordnebar – aber atonal ist die Partitur nicht?
Jakub Hrůša: Nein, auf keinen Fall. Janáček hat sich von der klassischen Tonalität so weit entfernt wie nur möglich, hat die Tonalität nach allen Richtungen hin ausgebeult – die Partitur wimmelt nur so von Doppelkreuzen und doppelten bs – aber er hat sie trotzdem nie verlassen. Sie war für ihn die Basis, die Schwerkraft, die nicht außer Kraft zu setzen ist. So wie für manche Menschen die zehn Gebote stets als Wegmarke dienen, nach der man sich ausrichten kann, auch wenn man sie gelegentlich verletzt, so verstand Janáček die Tonalität als steten Bezugs- und Ausgangspunkt und als Sicherheitsnetz. Aber gerade weil er die Tonalität nie verließ, hat er diesbezüglich viel experimentiert.
Wie sieht die Instrumentierung des Věc Makropulos-Orchesters aus?
Jakub Hrůša: Das Orchester ist nicht ausgesprochen groß, aber Janáček gebraucht es auf sehr originelle Weise, vor allem die Kombination der Instrumente ist manchmal sehr ausgefallen. Die vordergründige Schönheit war nicht seine Intention, vielmehr war er an experimentellen Klangstrukturen an ungewöhnlichen Klangregistern interessiert, an sehr hoch spielenden Kontrabässen zum Beispiel. Oder er verlegte die Melodie in ganz tiefe Regionen. Oder er kombiniert sehr hoch spielende Instrumente – Piccoloflöten und Geigen in den allerhöchsten Lagen nahe beim Steg – mit spannenden Wendungen in den tiefen Instrumenten, ohne dass er die Mittelstimmen nennenswert ausfüllt.
Sind das keine satztechnischen Fehler?
Jakub Hrůša: Wenn es von Janáček nicht bewusst so geschrieben worden wäre, könnte man solche Dinge als Fehler auslegen. Aber gerade in Věc Makropulos wird deutlich, dass Janáček es gehasst hat, etwas auf eine bestimmte Weise zu orchestrieren, nur weil „man“ es so tut. Das war ein Alptraum für ihn. Manches ist von der satzweise technisch fast unspielbar, anderes scheint unmotiviert – aber Janáček zielte dabei immer auf den emotionalen Ausdruck.
Und das Publikum akzeptiert all diese Besonderheiten der Instrumentierung, der Satztechnik, der extremen harmonischen Wendungen?
Jakub Hrůša: Ich hoffe es. Es ist wie im Leben: man muss authentisch bleiben, nichts vorgeben. Janáček ist immer ehrlich, er will nicht gefällig sein und darum es ist oft nicht leicht seiner Musik zu folgen. Wenn man allerdings ohne Vorurteile in die Vorstellung kommt und die Musik Janáček anhört ohne daran zu denken, wie Oper angeblich klingen sollte, wird jeder Mensch mit offenem Herzen von Janáček berührt sein.
Andreas Láng