Einfach nur die Geschichte erzählen

Es gibt nicht viele Dirigenten, die tatsächlich prägend, oder besser: einzigartig für eine Generation waren. Ohne Zweifel ist einer dieser Künstler Sir Simon Rattle. Geboren in Liverpool, studierte er an der Royal Academy of Music in London und wurde – nach einigen Zwischenstufen – zum marksteinhaften Leiter des City of Birmingham Orchestra. Dieses freilich kann auf eine reiche künstlerische Tradition zurückblicken, doch spielte sich der Klangkörper in der Kombination mit dem Dirigenten Rattle (erneut) in die erste Liga. Das City of Birmingham Orchestra in einem Konzert unter ihm zu erleben: das bedeutete synonym, ein außergewöhnliches Konzert zu erleben. Es lag auch an der Werkauswahl, dem Engagement für etwas weniger mainstreamhafte Programme, vor allem aber an der Begeisterung, die von dem Orchester ausging. Oder wahrscheinlich: die zu einem großen Teil von ihrem Leiter ausging. Denn Rattle konnte etwas – und das nun jenseits des gespielten Programms – vermitteln, was den Kern der Sache traf: Bei ihm hatte man das Gefühl, dass es sich heute Abend um eine Hauptsache handelt, um ein echtes Herzensprojekt. Dass ihm die Musik – und ihre Vermittlung – wirklich etwas bedeuten. Dieses einem Publikum spürbar zu machen versuchen freilich viele; und bei vielen wird es auch so sein. Rattle allerdings verstand (und versteht) es, seine persönliche Wahrhaftigkeit so schlackenlos zu transportieren, dass sich der Zuhörer für „seine“ Musik interessiert: und sich mit ihr auch auseinandersetzen will. Und all das, was über Schwellenängste fantasiert wird, wird zur Nichtigkeit … Die weitere Biografie des Dirigenten braucht nicht erwähnt zu werden: Erster Gastdirigent des Los Angeles Philharmonic Orchestra, Erster Gastdirigent des Orchestra of the Age of Enlightenment, künstlerischer Leiter der Salzburger Osterfestspiele, seit 2002 Chefdirigent der Berliner Philharmoniker und Künstlerischer Leiter der Berliner Philharmonie. Dass sein Karriereweg als Operndirigent bereits 1977 in Glyndebourne begann, sei nur am Rande erwähnt. Mit der Wiener Staatsoper verbindet ihn bisher eine eher kurze Geschichte. Erst 2005 trat er erstmals an das Dirigentenpult im Haus am Ring und leitete dreimal Richard Wagners Parsifal. Vier Jahre später kehrte er wieder, um ebenfalls dreimal Wagners Tristan und Isolde zu übernehmen. Weitere sechs Jahre später ist er nun erneut im Haus und wird zweimal den Ring des Nibelungen-Zyklus dirigieren (und damit seine Auftrittszahl an der Wiener Staatsoper mehr als verdoppeln). Es sagt viel über Rattle aus, dass man ihn zwischendurch in der Staatsopern-Direktionsloge traf, um einen Kollegen bei der Arbeit zu erleben. Für ihn spricht in gewisser Weise auch, dass er kein Mann ist, der alles tut, um in Interviews und Portraits vorzukommen. Findet aber ein Gespräch statt, dann greift er in die Tiefe und begnügt sich nicht mit Oberflächenstudien, ist gleichzeitig aber auch ein unterhaltsam-augenzwinkernder Gesprächspartner, der griffig und bildhaft zu formulieren versteht. So antwortete er auf die Frage in einem Zeit-Interview, wie sich Wagner auf die menschliche Gesundheit und Befindlichkeit auswirke: „Bei Wagner braucht man immer einen Psychiater, und in gewisser Weise macht er krank, ja. Früher oder spä- ter kommt man an den Punkt, dass man sich der narkotischen Wirkung seiner Musik, dem Rausch nicht mehr entziehen kann. Als ich meinen ersten Tristan dirigierte, stand ein Eimer neben dem Pult: Ich hatte das Gefühl, das ist das Tollste, Irrste, was ich je erlebt habe – und gleich muss ich mich übergeben.“ Mitunter zeigt er sich in seinen Analysen ironischzugespitzt, wie zum Beispiel in einem Video in der digitalconcerthall der Berliner Philharmoniker zur Walküre: „Wer weiß schon, wie oder was das Verhältnis zwischen Brünnhilde und Siegfried ist – außer illegal.“ Ausführlich nimmt er in diesem Interview auch zur Musik Stellung, hebt seine persönlichen Glücksmomente in dieser Partitur hervor, zeigt sich vor allem beeinflusst und geprägt durch den Boulez-Chéreau-Ring in Bayreuth. Oder zeigt sich hingerissen von der Orchestersprache Wagners, allein schon in Details der Instrumentation: „Es ist interessant, wie Wagner zum Beispiel im 1. Akt instrumentiert. Jeder Flötist kann einem erzählen, dass er nach dem Sturm 35 Minuten lang nicht spielt, überhaupt die „hohen“ Instrumente wenig zu hören sind, stattdessen die dunklen – um zu zeigen, wie furchtbar die Welt des Hunding ist“. Sorgsame, auch amüsante Analysen also. Mitunter aber lässt es sich auch ganz einfach und kurz formulieren, wie die Sache richtig anzugehen ist. Wie etwa in einem Interview Sir Simons mit dem Bayerischen Rundfunk, in dem er ausführte, wie man sich dem Rheingold zu nähern habe: „Man muss einfach nur dem Rhythmus der Worte folgen, nicht schleppen, einfach die Geschichte erzählen“…

Oliver Láng