Einfach großes Klang-Kino
Am 29. November jährt sich Puccinis Todestag zum hundertsten Mal. Was macht ihn aus Ihrer Sicht so besonders?
Naja, Puccini ist nicht nur für mich besonders, sondern für jede und jeden! (lacht) Einige der bedeutendsten Opernwerke wurden von ihm verfasst. Und wenn wir an große »Schlager«-Arien denken, dann fällt uns sofort ein: »Vissi d’arte« aus Tosca, »Nessun dorma« aus Turandot, »O mio babbino caro« aus Gianni Schicchi, »E lucevan le stelle« aus Tosca, »Un bel dì, vedremo« aus Madama Butterfly und viele andere. Kein Wunder, dass seine Musik eine so enorme Publikumswirksamkeit hat! Puccinis besondere Meisterschaft besteht darin, in komprimierter Form unglaublich viel auszudrücken. Wie er das schafft? Als wunderbarer Melodiker! Das Wichtigste aber bleibt das große Herz, das bei Puccini schlägt. Es ist für mich als Sängerin einfach immer ein Vergnügen, seine Opern zu singen!
Als Puccini starb, schrieben Zeitungen, dass mit ihm eine ganze Ära der (italienischen) Oper endet. Wenn Sie heute, 100 Jahre später, zurückblicken: War das so?
Ja, es wurde mit Turandot, seiner letzten, unvollendet gebliebenen Oper, ein Kapitel beschlossen, ein Kapitel, das ich vielleicht die »klassische« italienische Oper nennen würde. Natürlich ging es weiter, es folgten wunderbare Werke, aber der Zugang verändert sich in vielem, etwa, was die Kompositionstechnik betrifft. Diese Entwicklung hat selbstverständlich schon vor Puccinis Tod eingesetzt; aber dennoch markiert sein Tod eine Grenze.
Was macht Puccini zu Puccini? Etwa in Abgrenzung zu seinem älteren Kollegen Giuseppe Verdi?
Nun, Verdi liegt genau zwischen Belcanto und Puccini, wobei man natürlich nicht einfach »Verdi« sagen kann: Sein Schaffen gliedert sich ja in drei Phrasen, die früheren Werke, dann die überaus populären drei Opern Rigoletto, Il trovatore, La traviata und schließlich sein späteres Werk. Bei Puccini ist jede Handlung ungemein konzentriert. Es ist alles auf den Punkt gebracht. Und seine Opern sind wie Kino, hätte es zu seiner Zeit schon einen echten Tonfilm gegeben, dann wäre Puccini ein Filmkomponist gewesen. Er legt alles in die Musik, alles ist hörbar. Im 2. Akt von Madama Butterfly hört man zum Beispiel den aufdämmernden Morgen. Dieser wird musikalisch ganz genau beschrieben, bis hin zum Vogelklang. Man könnte fast die Augen schließen und sich die ganze Szene ausmalen. Es ist einfach großes Klangkino!
Wenn Sie eine Rolle wie jene der Cio-Cio-San singen: Wie genau wollen und müssen Sie die Figuren verstehen, wie sehr müssen Sie die Figur sein? Oder ist es nur Schauspiel?
Nein! Niemals ist es nur Schauspiel! Niemand auf der Bühne macht das. Man muss die Figuren, die man spielt, immer ganz genau erforschen, studieren, begreifen. Das gehört zur Vorbereitung, ohne die man unmöglich Theater spielen kann. Den Charakter einer Rolle muss man in seinem Inneren fühlen, ja, in sich tragen. Und man muss verstehen, warum der Komponist genau diesen musikalischen Ausdruck wählte, warum im Libretto genau diese Worte stehen, wie die Musik auf den Text Bezug nimmt. Für mich ist es also zwingend, dass ich jede Phrase, jedes Wort exakt auf seine tiefere Bedeutung untersuche. Anders kann man ja keine höchstpersönliche Sicht auf ein Werk entwickeln.
Und diese Sicht auf Cio-Cio-San lautet?
Für mich ist Cio-Cio-San eine Person, die nicht sehen will, was offensichtlich ist; die hartnäckig nicht zugibt, was sie tatsächlich im Innersten längst weiß. Sie will sich die Wahrheit über Pinkerton, der sie verlassen hat, aus vielen Gründen einfach nicht eingestehen. Das ist ja durchaus etwas, das wir alle kennen. Wie oft wissen wir, dass wir falsch liegen, wollen es aber nicht zugeben, einfach, weil wir weiter an unseren Traum glauben wollen und ihn so lange weiter träumen, bis uns die Realität hart trifft. Cio-Cio-San ist überdies ein Opfer und eine Sklavin der Umstände. Sie ist eine Geisha. Sie hatte keine Kindheit, weil Geishas in frühester Jugend von ihren Eltern getrennt wurden. Die Heimat war dann die Schule – glücklich waren sie natürlich nie. Dazu kommt, dass Cio-Cio-Sans Familie einstmals sehr wohlhabend war, dann aber verarmte. Im Zuge dessen verlor sie auch ihren Vater. All dem kann sie nicht entkommen, will es aber hinter sich lassen. Also flüchtet sie sich zu Pinkerton und schafft sich ein kleines Amerika in Japan. Sie wechselt den Glauben, wird Christin und bricht mit ihrer Vergangenheit. Heute könnte man ganz einfach in ein Flugzeug steigen und woanders ein neues Leben beginnen. Neue Menschen, eine neue Umgebung, eine neue Atmosphäre. Aber damals, in dieser Situation? Da war das nicht möglich. Also schafft sie sich ihre eigene Welt. Eine Illusion, natürlich. Vielleicht muss man zum Aspekt der Geishas noch etwas sagen: Die echten Geishas waren sehr gelehrt, sie waren Künstlerinnen, streng erzogen, von hoher Kultur, in vielem ausgebildet. Das war nicht nur ein Beruf, sondern eine Lebensweise. Und sie waren psychologisch versiert, konnten auf ihr Gegenüber eingehen und mit ihm entsprechende Gespräche führen. Cio-Cio-San ist zwar erst 15 Jahre alt und ein Mädchen, aber durch ihre Erziehung verfügt sie über ein großes Wissen und auch über so etwas wie Erfahrung.
Aber liebt Cio-Cio-San Pinkerton?
Ich denke, dass sie sich in ihn verliebt. Sie ist von Pinkerton fasziniert, von diesem Leutnant in seiner schmucken Uniform. So, wie sie zu ihm spricht, hat es aber etwas sehr mädchenhaftes, es ist die Sprache eines sehr jungen Menschen: »Sie sind groß und stark. Sie lachen so offen.« Butterfly ist von ihm als Mann beeindruckt, aber er ist auch etwas wie eine Vaterfigur für sie. Sie sieht in ihm einen Beschützer, wenn er etwa Bonzo verjagt und zu Butterfly sagt: »Deine Sippe und alle Bonzen Japans sind deine Tränen nicht wert!« Natürlich: Anfangs spielt sie ihm sicherlich etwas vor, es gehört zu ihrem Beruf, aber dann wird es etwas anderes. Und schließlich bleibt diese Hoffnung, dass er eines Tages zurückkehrt und sie holt.
Und Pinkerton?
Er ist, wie er ist. Manchmal markiert er den starken Mann, wenn er Bonzo verjagt. Dann aber verlässt er sie und zieht es vor, nicht über sie nachzudenken. Wenn man weit weg ist, ist es einfacher zu verdrängen, dass eine andere Person leidet. Er meint vielleicht, dass sie ihn auch vergessen hat und eine andere Beziehung eingegangen ist. Als er aber zurückkehrt, wird er mit der Wahrheit konfrontiert und macht sich Vorwürfe. Aber Pinkerton ist einer, der es vorzieht, Dinge lieber nur finanziell zu regeln. Viele Menschen sind übrigens – im tatsächlichen Leben – so.
Die Vorlage der Oper wurde von einem Mann geschrieben. Das Libretto von zwei Männern. Und die Musik wiederum von einem Mann. Konnte Puccini überhaupt die Seelenwelt einer Frau verstehen und abbilden?
Ich denke, dass Puccini die Persönlichkeit der Protagonistin sehr genau verstanden und sie psychologisch sehr genau gezeichnet hat. Diese Hartnäckigkeit, die ich anfangs erwähnt habe, mit der sie selbst nach dem Gespräch mit Sharpless, der ihr die Wahrheit sagt, die Realität verweigert, ist klar gezeigt und sehr menschlich. Weil man die Angst spürt, die Cio-Cio-San hat, die Angst vor der Wahrheit. Aber auch das lange Duett im ersten Akt, in dem sie die Sterne besingt, die »wie Augen« funkeln – das ist ein großartiges psychologisches Portrait. Ebenso wie im Verlauf der Handlung gezeigt wird, wie Cio-Cio-San ihr Kind liebt und sie für ihren Sohn eine bessere Zukunft will: das ist sehr genau entwickelt und verstanden.
Cio-Cio-San stirbt, Mimì in La bohème stirbt, Liù in Turandot stirbt. Warum schauen sich Menschen tragische Handlungen offenbar so gerne an?
Machen sie das? Geht es ums Sterben? Das ist eine gute Frage! Interessant ist aber letztlich immer, wie die Figuren gelebt haben, bevor sie starben. Das betrifft jede und jeden! Was war der Motor des Daseins und die wichtigste Sache? In La traviata ist es die Liebe. Violetta will richtig lieben und geliebt werden, die Liebe spüren. Kann man sagen, dass sie nach Erfüllung dieses Wunsches wusste, dass sie nun zum Sterben bereit ist? Gewissermaßen: Sie kann sterben, weil sie liebt und geliebt wird. Im Falle von Cio-Cio-San: Sie lebt letztlich für ihre Hoffnung. Für den Glauben, dass Pinkerton eines Tages kommen würde und sie Japan verlassen könnte. Und es gibt den Moment, in dem sie sich verliebt und in dem es nicht mehr um den Beruf der Geisha geht. Auch bei ihr ist die Liebe der Schlüssel. Ich muss allerdings an dieser Stelle gestehen, dass ich Madama Butterfly lange nicht mochte. Einige Kolleginnen haben mir das eingeredet, sie meinten, dass die gesamte Oper ein einziges Leiden sei und die Handlung ganz schrecklich… Und ich dachte, dass ich eine Japan-Spezialistin sein müsste, um die Oper zu begreifen. Aber dann sang ich in einem Konzert das Duett mit Pinkerton und verliebte mich in das Werk. Von diesem Duett aus erforschte ich die gesamte Oper. Ich weiß nun, dass beide Argumente nicht stimmen: Das Japanische ist nur die Umgebung, eine Farbe, und wenn man tiefer gräbt, geht es auch in diesem Werk ausschließlich um Menschen. Und was die Handlung betrifft: Ich finde es interessant, wie eine Frau ihren Traum verteidigt, und das gegen alle, die sie umgeben. Da ist die Illusion einer Hoffnung, eine Welt, die sie in ihrem Kopf entworfen hat und die sie einfach nicht aufgibt. Das betrifft so viele von uns! Es geht also auch um unsere Traumwelten, die wir erfinden, und wie wir uns dann der Realität stellen – oder nicht.