Einer der großen Höhepunkte der Musikgeschichte

Von Richard Strauss wissen wir, dass er als Musiker gut ausgebildet war, als Kind zwei Instrumente gelernt hat. Lässt sich diese hohe Instrumentalkompetenz in seinen Partituren nachvollziehen?

Philippe Jordan: Mehr noch, wenn man seine Kompositionen betrachtet, ist es, als ob er alle Instrumente beherrscht hätte – denn er schreibt für ausnahmslos jedes Instrument unglaublich gut. Zwar oftmals sehr schwer, aber immer sehr gut. Ich kenne keinen anderen Komponisten, der das außer ihm in dieser Qualität gekonnt hätte. Man staunt. Natürlich, Berlioz, der ja eine Instrumentationsschule schrieb, war ein Meister, bei dem auch Strauss viel gelernt hat, aber es hat bei ihm immer wieder den Aspekt des Experimentellen, er war einer, der Grenzen austestete – und sie manchmal überschritt. Wagner hat die Beherrschung der Instrumente nahezu bis zur Perfektion gebracht. Aber Strauss, Strauss gelang es sogar, diese unglaubliche Meisterschaft noch eine Stufe weiter zu entwickeln. Wahrscheinlich war nicht einmal Gustav Mahler ganz auf dieser Höhe – aber das sind schon Vergleiche im Extrembereich. Diese Kenntnisse, das Talent, diese Fertigkeit von Strauss: einfach beeindruckend!

Gilt das auch für Strauss den Dirigenten? Mitunter vergisst man ja, dass das Dirigieren bei ihm nicht nur so nebenbei mitlief, sondern ebenso Beruf war. Komponierte Strauss also auch für Dirigenten gut, oder waren das zwei getrennte Persönlichkeiten?

Philippe Jordan: Ohne Zweifel war Strauss ein großer und bedeutender Dirigent. Das wird heute vielleicht ein wenig unterschätzt, was damit zu tun hat, dass sein Dirigat weniger emotional wirkte als jenes von Gustav Mahler und es auch dem heutigen, allgemein üblichen Bild eines Dirigenten nicht ganz entspricht. Sein persönlicher, distanziert wirkender Zugang als musikalischer Leiter hatte sehr stark mit einem Pragmatismus zu tun: Dadurch, dass er als Komponist bereits alles durch seine Musik ausgedrückt hat, hatte er als Dirigent nicht das Bedürfnis, sich hier noch einmal zusätzlich artikulieren zu müssen. Schließlich ist ja schon alles da und braucht nur noch ausgeführt zu werden. Das ist natürlich nur eine Ansicht, die ganz auf seine Komponist-Dirigent- Dualität zugeschnitten und nicht auf andere übertragbar ist. Nach unserem heutigen Verständnis sind wir Dirigenten ja nicht nur ausführende, sondern re-kreierende Künstler.

Es gibt einige originale Aufnahmen mit Strauss als Dirigenten. Hat das für Sie eine Bedeutung oder bleibt es nur eine mögliche Interpretation neben anderen?

Philippe Jordan: Zunächst ist es ein Glück, dass es überhaupt erhaltene Aufnahmen von Strauss-Dirigaten gibt, die einen Einblick in seine Musiksicht bieten. Zunächst irritiert unsere heutigen Ohren anfangs die schlechte Tonqualität der Einspielungen, aber wenn man sich eingehört hat, sie sind in ihrer Aussagekraft ungemein spannend: Man erkennt aus Ihnen zu allererst, dass er ein Dirigent mit einem großen, profunden Wissen um sein Handwerk war. Das zweite, was auffällt, sind die raschen, fließenden Tempi. Für meinen Geschmack ist da zwar manches bisweilen schon zu schnell, aber dieses hohe Tempo hat dennoch große Aussagekraft. Es steht nämlich im Gegensatz zu der Tendenz der letzten Jahrzehnte, in seinen Werken zwischendurch ausladend und langsam zu werden. Ein Beispiel: Ich habe mich in Elektra einmal in der Erkennungsszene des Orest verloren, also nach dem Schrei Elektras und dem »es rührt sich niemand«. Plötzlich merkte ich, dass ich schon fast doppelt so langsam war wie die eigentliche Metronom-Angabe. Jetzt muss man vielleicht nicht ganz so rasch dirigieren wie Strauss es vorschrieb, aber – nach meinem Gefühl – mehr als zehn Striche unter der Metronom-Angabe sollte man eher nicht landen. Also, ganz generell: Umso älter ich werde, desto wichtiger werden für mich die eben genannten Aufnahmen – aber nicht nur jene von Strauss, sondern auch jene der ersten, großen Zeit, also von Clemens Krauss über Karl Böhm bis Joseph Keilberth und Rudolf Kempe. Ich bin ja an sich der Meinung, dass eine Partitur nur ein Teil des Ganzen ist, der wichtigste zwar, aber eben nur ein Teil. Es kommen die Aufführungsgeschichte dazu und auch die Tradition, die man immer wieder aufs Neue befragen muss, um auf neue Antworten zu kommen. Daher zähle ich zu den Dirigenten, die sich Aufnahmen anhören, nicht um Dinge zu imitieren, sondern um sie kennen und Rückschlüsse ziehen zu können.

Probieren Sie im Geheimen auch Strauss‘ berühmt-berüchtigte Dirigiertechnik aus? Die linke Hand in der Westentasche, wie es ihm schon sein Vater empfahl?

Philippe Jordan: Nein, in dieser Form absolut nicht! Das wäre dann doch ungemein kontraproduktiv, das sind Dinge, die bei den heutigen Orchestern mit Sicherheit nicht mehr gehen würden. Ich muss aber auch sagen, dass der ruhige Dirigierstil von Strauss generell für mich mit zunehmender Erfahrung immer wichtiger wird. Genauer gesagt: das Weglassen von unnötiger Bewegung zugunsten vom wirklichen Wesentlichen ist ein ziel an dem ich permanent arbeite und für das Straus nicht nur mir, sondern seit über hundert Jahren vielen Generationen von Kapellmeistern ein Vorbild war.

Es spielt, um zum Rosenkavalier überzuleiten, gerade im Falle dieser Oper vieles in das Werk hinein. Der Librettist Hofmannsthal meinte, dass die Vereinigung von Musik, Text, Raum und Schauspiel hier einzigartig sei. Wie bereiten Sie sich als Dirigent auf diese Oper vor, um all diese Aspekte abdecken zu können?

Philippe Jordan: Für den Rosenkavalier bedarf es tatsächlich eines breiten Wissens, das man aber nicht von heute auf morgen erwerben kann, sondern es braucht Jahre, um an diesem Werk zu wachsen. Alleine schon im Musikalischen! Da hatte ich persönlich das Glück, mit dieser Oper sehr früh anzufangen: mit 18 oder 19 im Théâtre du Châtelet, als Korrepetitor. Zuvor übte ich den Rosenkavalier ein Jahr lang, um ihn gut in die Finger zu bekommen. Daher fiel es mir vor meinem ersten Rosenkavalier-Dirigat in Berlin, Mitte 20, dann nicht so schwer, die Partitur zu lernen. Ich hatte es einfach im Gefühl, wo genau das dritte Horn einsetzt und wie die Ensembles gebaut sind. Das war eine gewaltige Hilfe! Bei Salome hingegen, die ich nie korrepetiert habe, fiel mir die Einstudierung deutlich schwerer. Doch es geht nicht nur um Musik, man braucht einen weiten Blick, dieses Werk enthält ja so unendlich viel: die Zeit, die Künste, die Sprache, die Atmosphäre... Vor allem aber braucht man Erfahrung. Der Rosenkavalier kommt als Riesenapparat daher, muss jedoch mit Leichtigkeit über das Meer gleiten, manövrierfähig bleiben: Der Rosenkavalier ist ja keinTristan und keine Götterdämmerung, sondern im besten Sinne des Wortes eine Operette, oder - um mit Strauss zu sprechen – wie eine Mozart-Oper. Im Gegensatz zu den beiden vorhergehenden Strauss-Opern, Elektra und Salome, fordert einen im Rosenkavalier das ständige Rubato heraus (eine Verbindung übrigens zur eben genannten Operette und Franz Lehár). Das heißt also in jedem Moment: flexibel sein!

Das Stichwort Mozart ist gefallen: Strauss und Hofmannsthal sprachen im Schaffensprozess oft über das Mozarthafte im Rosenkavalier, worin aber drückt es sich aus? Im Geist? Der Stimmung? Es ist letztendlich ja nur ein einziges, mehr oder weniger erkennbares, Mozart-Zitat in der Oper zu finden.

Philippe Jordan: Ich würde ja sagen, dass Geist und Stimmung immer zusammengehören. Natürlich, es ist ein Stück des 20. Jahrhunderts, doch spielt es im Rokoko und es ist, wie die beiden Autoren der Oper sagten, mit Nozze di Figaroverwandt. Ich sprach vorhin über eine Nähe zu Lehár, im Ton aber muss der Rosenkavalier im Geiste ganz bei Mozart sein. So komplex die Musik ist, so klar und leicht muss sie wiedergegeben werden. Mozart war ja ein absoluter Bezugspunkt von Strauss, und ab dem Rosenkavalier wird diese Liebe ja auch in seinen Opernwerken immer offenbarer.

Und der zweite Bezugspunkt von Strauss: Wagner?

Philippe Jordan: Man kann sagen, dass er im großen Orchester zu finden ist, aber selbst da entfernt sich Strauss – beim Rosenkavalier – von ihm und geht auf Mozart zu. Natürlich, Strauss ist ohne Wagner nicht zu denken und das Erbe ist in seinen Werken zu finden. Man kann natürlich auch immer Parallelen ausmachen, wie etwa, dass die Vögel zu Beginn des 1. Aktes im Rosenkavalier in derselben Tonart zwitschern wie das Waldweben in Siegfried flirrt, nämlich E-Dur. Doch der Geist Wagners ist nicht mehr da wie in Salome oder Elektra, es ist der Geist Mozarts und Mariveaux‘.

In einem Brief an den Dirigenten Willem Mengelberg schrieb Strauss, dass man das Derbe in seinen Werken nicht vergessen soll. Ist das ein Gegensatz zum Rokoko-Stil?

Philippe Jordan: Nein, das Derbe gibt es ja auch bei Mozart. Wobei: derb, aber nicht vulgär! Der Ochs zum Beispiel soll ja laut Strauss etwa 35 Jahre alt sein, ein – »sogar hübscher« – Don Juan vom Lande sein, der sich im Boudoir der Marschallin zumindest halbwegs manierlich benehmen kann. Man muss also darauf achten, dass er nicht zu vulgär singt – die Musik zeichnet ihn ohnedies ausreichend derb. Und da sind wir ganz bei Mozart: Die Marschallin muss im 1. Akt vor jedem Dramatisieren bewahrt werden, vor der allzu tragischen Note. Strauss beschreibt das in einem Brief an Willi Schuh: Sie glaubt ja nicht, dass die Trennung von Octavian so bald passieren wird. »Sie hat sich nur über den Friseur geärgert«, meint Strauss. Das unterstreicht er mit drei Rufzeichen. Ich liebe diesen Satz, denn er erklärt so viel. Die Marschallin hat einfach schlechte Laune und merkt, dass sie nicht mehr ganz so attraktiv ist wie vor einigen Jahren. Wie gerne verfallen Sängerinnen da ins Schleppen und wie gerne fühlen wir Dirigenten uns verpflichtet, das zu verstärken. Es ist aber falsch. »Leichte, flüssige Zeitmaße«, schreibt Strauss.

Gemeinhin gilt die Marschallin als große Philosophin unter den Strauss-Figuren. Wenn sie aber auch unter schlechter Laune leidet bedeutet das, dass man sie ruhig vermenschlichen darf?

Philippe Jordan: Unbedingt! Sie ist ja auch durchtrieben. Ich habe diesbezüglich eine Theorie: Im 3. Akt kennt sie den auftretenden Polizeikommissar von früher und spricht das auch an: »Dem Herrn Feldmarschall sein‘ brave Ordonnanz gewest?« Ich glaube, die beiden hatten etwas miteinander und es handelt sich um den im 1. Akt angesprochen einmaligen Fall, als sie von ihrem Ehemann ertappt wurde: Die doppeldeutig gemeinte »brave« Ordonnanz wurde daraufhin zum Vorstadt-Unterkommissarius degradiert. Also, sie ist eine lebendige Frau in ihren besten Jahren. So wie auch der Feldmarschall im kroatischen Wald nicht nur Bären und Luchse jagt. Das sind eben echte Menschen und das alles darf man nicht zu tragisch erzählen. Der große Moment der Marschallin sind auch nicht die beiden Monologe im 1. Akt, sondern das »Hat sie ihn gar so lieb« am Ende der Oper, als sie Octavian für Sophie freigibt. Das unterstreicht auch die Musik.

Das meint auch Hofmannsthal, wenn er von der Harmonie der Kontraste spricht?

Philippe Jordan: Ja, das Menschliche und das Besondere. Das trifft sich in den Figuren. So wie die Figuren an sich ja sehr bunt und kontrastreich sind.

Strauss und Hofmannsthal wollten mit der Arabella einen neuen Rosenkavalier schreiben, nur ohne dessen »Fehler und Längen«, wie Strauss notierte. Wenn man Fehler nennen müsste, wo lägen diese?

Philippe Jordan: Ich glaube, dass ich Strauss da nicht folgen kann. Arabella ist ein großartiges Werk, das ich liebe, aber es wirkt immer ein wenig wie ein Neuaufguss vom Rosenkavalier. So gut Arabella ist – der Rosenkavalier bleibt einer der großen, unüberbotenen Höhepunkte der gesamten Operngeschichte.


Das Gespräch führte Oliver Láng