Eine Variation der Liebe in fünf Akten

 Armide kehrt nach 124 Jahren an die Wiener Staatsoper zurück.

Wenn Christoph Willibald Gluck im Jahr 1714 auch im bayerischen Erasbach als erstes von neun Kindern eines Försters geboren wurde und nicht im heutigen Österreich, so verbrachte er immerhin zentrale Jahre seine Lebens und seiner Schaffenszeit, insgesamt rund ein Vierteljahrhundert, in Wien, wo er auch gestorben ist und begraben wurde. Gluck kann somit, trotz seiner ausgedehnten berufsbedingten Reisen als Musiker, durchaus als Wiener Komponist, noch dazu als gefeierter und sehr gefragter Wiener Komponist bezeichnet werden, der in der Operngeschichte eine deutliche Spur hinterlassen und auf die Entwicklung zahlreicher Kollegen – wie auch auf Mozart – einen großen Einfluss ausgeübt hat. Sein wesentlicher Beitrag zur Operngeschichte war die Reform der gesamten Gattung. Spätestens ab seiner Alceste bemühte er sich um eine Musik, die gereinigt war von vordergründigem Virtuosentum und diversen Showeffekten der Sänger, wie etwa ausgedehnten Koloraturkaskaden oder sonstigen reinen Zurschaustellungen der stimmtechnischen Fähigkeiten. Die Musik sollte der Dichtung und der Handlung dienen, die Atmosphäre der jeweiligen Situation wiedergeben, kurzum wahr und schlicht sein und auf jedes unnötige Beiwerk verzichten. Ein nicht unwesentlicher privater Aspekt, der auch seine Karriere indirekt mitbeeinflusste,war übrigens seine Heirat mit der 18jährigen Tochter eines reichen Wiener Handelsmannes in der Ulrichskirche im heutigen 7. Wiener Gemeindebezirk. Gluck dürfte die Braut, die bei der Hochzeit nur halb so alt wie er war, im Jahr 1748 oder 1749 kennengelernt und „ihre Liebe gewonnen“ haben, wie er später erzählte. Auf jeden Fall brachte sie ein großes Vermögen in die Ehe mit und sicherte ihm ein Leben ohne Überlebensängste. Neben Wien spielte vor allem Paris eine wichtige Rolle in seiner späteren Schaffenszeit: Als musikalischer Leiter des Habsburgerhofes und ehemaliger Musiklehrer von Marie Antoinette ergab sich durch ihre Heirat mit dem späteren französischen König Ludwig XVI. eine automatische direkte Verbindung in die Seine-Metropole, in der er, trotz der oft zitierten hochstilisierten Gegnerschaft zum italienischen Komponisten Niccolò Piccinni, einige seiner bedeutendsten Meisterwerke für die Musiktheaterbühne schuf. Unter anderem die 1777 uraufgeführte Armide. Wieso sich Gluck für Armide und nicht für eine ursprünglich anvisierte Vertonung von Electra entschied, ist bislang nicht restlos geklärt. Um sich die damalige Situation zu vergegenwärtigen muss man allerdings ein wenig ausholen: Mehr noch als Hofmannsthal und Strauss oder Mozart und Da Ponte waren Jean-Baptiste Lully und sein Textdichter Philippe Quinault eine kongeniale Künstlerverbindung des 17. Jahrhunderts, die gemeinsam die Operngattung der Tragédie lyrique erfanden und zum Höhepunkt  führten. Als Quinault schließlich starb, fand sich für lange Zeit kein Textdichter der an seine Qualitäten heranreichte und als nach rund hundert Jahren immer noch kein Ersatz gefunden werden konnte, entschied man sich die alten Textbücher Quinaults wieder auszugraben und sie neu zu vertonen.  Als wahrscheinlich größter Triumph des Künstlerpaares Lully-Quinault galt die 1686 uraufgeführte, auf einem Teil von Torquato Tassos Befreitem Jerusalem fußende Armide. Vermutlich hatte Rousseau seinen Freund Gluck auf die Idee gebracht, eine neue Musik für ebendieses Meisterwerk zu schreiben. Tatsache ist, dass Gluck den Wettkampf mit dem Lully’schen Original nicht scheute und den Text Quinaults nahezu unverändert für seine Neukomposition übernahm. Wenn Gluck später in einem Brief davon schrieb, dass er bei seiner Armide mehr Maler als Musiker gewesen war, so ist die Ursache dafür im Textbuch zu finden. Denn die exquisite Sprache des Quinault’schen Librettos zwang Gluck seinen eigenen Kompositionsstil zu modifizieren, mehr auf Atmosphäre zu setzen, eine für ihn ungewohnte Liebesszene zu schreiben und nicht nur rein dramatische Momente in den Vordergrund zu stellen. Nicht umsonst bezeichnet Ivan Alexandre, der Regisseur der Staatsopernneuproduktion dieser Oper, Armide als „Glucks Pastorale“. Die Uraufführung jedenfalls war glanzvoll und auch Gluck selbst räumte dem Werk innerhalb seines OEuvres einen besonderen Platz ein. Armide blieb jahrzehntelang am Pariser Spielplan und auch außerhalb Frankreichs konnte das Stück an zahlreichen Bühnen Fuß fassen, etwa an der New Yorker Met mit Enrico Caruso in der männlichen Hauptpartie. Auch in Wien wurde Glucks Armide während des 19. Jahrhunderts immer wieder gegeben – am Theater an der Wien ebenso wie am Kärntnertortheater oder am Alten Burgtheater und schlussendlich auch am neu errichten Opernhaus am Ring, der heutigen Staatsoper.

Für die aktuelle Neuproduktion setzt Regisseur Ivan Alexandre insofern einen ungewohnten Akzent, als Armide nur nach außen hin jene verführerische Zauberfrau sein wird, als die sie gemeinhin angenommen wurde. Für ihn ist Armide in Wahrheit ein als schöne Frau verkleideter junger Mann, der quasi als Sexfalle von der muslimischen Seite gegen die Soldaten des 1. Kreuzzuges eingesetzt wird. Als Ursache für diese Geschlechtsveränderung führt Ivan Alexandre gleich mehrere Gründe an: „Erstens wird Armide schon bei Torquato Tasso als blondhaarige blauäugige Prinzessin mit elfenbeinweißer Haut beschrieben, was für eine orientalische Prinzessin, die Armide ja sein soll, ein eher ungewöhnliches Erscheinungsbild ist“, so der Regisseur. „Hier wurde vielmehr eine Fantasiekreatur produziert, um die feindlichen christlichen Soldaten zu verwirren – denn dass Armide als Waffe gegen die Kreuzzügler eingesetzt wird, daran lässt auch Tasso keinen Zweifel.“ Darüber hinaus verweist Ivan Alexandre auf zahlreiche vergleichbare, aber historisch belegte Fälle, in denen Männer mit einer vermeintlichen Frau eines gegnerischen Landes ein Verhältnis eingingen und sich dann aus Liebe in Spionageaffären verwickelten – der Fall des französischen Diplomaten Bernard Boursicot, der zu einer jungen chinesische Sängerin der Peking Oper in Liebe entbrannte und Jahre lang nicht dahinterkam, dass seine Geliebte in Wahrheit ein junger, vom Mao-Tse-tung-Regime instrumentierter Mann war, ist manchen vielleicht noch in Erinnerung. Aber auch die Tatsache, dass die Liebe zwischen Renaud und Armide nicht funktioniert, nicht funktionieren kann, wertet Ivan Alexandre als Indiz für seine Sichtweise: „Armide, die übrigens als einziges Kleidungsstück ihren Gürtel niemals ablegt, meint an einer Stelle: ‚In dieser Liebesgeschichte bin ich der schwache Teil, denn nur Renaud kann sein, was er ist, ich aber nicht‘. Auch diese Aussage machte mich stutzig, sodass ich mich fragte: ‚Was, wenn Armide gar keine Frau ist?‘ Und siehe da, die Geschichte funktioniert auch wenn Armide ein verkleideter junger Mann ist!“ Die Geschichte selbst ist für Ivan Alexandre eine Parabel, in der die Liebe und ihre Kehrseite, also der Hass, durchdekliniert werden: „In dieser Oper wird, wie am Seziertisch jede Daseinsform der Liebe präsentiert: Lust, Scham, mystische Liebe, Sklaverei, Generosität, Erpressung – und eben Hass. Im Grund handelt es bei Armide um eine Variation der Liebe in fünf Akten.“

Andreas Láng