Eine ungemein gelungene, ansprechende Oper

Michael Boder ist seit vielen Jahren eng mit der Wiener Staatsoper verbunden. Neben zahlreichen Repertoirevorstellungen und Wiederaufnahmen hat er an diesem Haus bislang nicht weniger als fünf Opern (davon zwei Uraufführungen) und zwei Ballette zu erfolgreichen Premieren veredelt. Allein im aktuellen Frühling leitet er außerdem Vorstellungsserien von Salome, Dantons Tod und eines zweiteiligen Ballettabends. Darüber hinaus hat er am 31. März die Staatsopern-Erstaufführung von Trojahns Orest musikalisch aus der Taufe gehoben. Anlässlich dieses Großereignisses gab er Andreas Láng das folgende Interview.

Manfred Trojahns Orest beginnt mit dem Todesschrei Klytämnestras, den wir schon aus Strauss’ Elektra kennen. Ist es zu weit gegriffen, wenn man nicht nur eine inhaltliche, sondern auch eine musikalische Fortsetzung konstatiert? Oder anders gefragt: Wie lässt sich Trojahns Klangsprache charakterisieren?
Michael Boder: Auch wenn wir ein komplett neues, eigenständiges Werk vor uns haben, das rund hundert Jahre nach dem Strauss’schen Opus entstanden ist, kann man Orest in der Tat als eine Weiterschreibung der Elektra ansehen. Der Zuschauer erlebt, was mit der Titelfigur nach der Ermordung seiner Mutter passiert, oder besser, was in seinem Kopf vorgeht. Ich glaube übrigens, dass Manfred Trojahn seine kompositorischen Wurzeln auch vor sich selber nicht verleugnet und bewusst – was ich für eine hochinteressante Kombination halte – sehr stark auf Richard Strauss einerseits aber auch auf Alban Berg beziehungsweise Arnold Schönberg andererseits rekurriert. Und zwar sowohl was die Musik-Wort Beziehung anbelangt, also die Art und Weise, wie der Text über den Gesang zum Hörer transportiert wird, als auch in Bezug auf die Farbigkeit des Orchesters, die Vielschichtigkeit und Energiegeladenheit der Musik an sich. Trojahn geht sogar so weit, dass er mit angestammten Hörgewohnheiten spielt – immer wieder glaubt man zum Beispiel auf Bekanntes, auf Zitate zu stoßen, die aber in Wahrheit gar keine sind und gewissermaßen nur so tun, als ob sie irgendwoher entlehnt worden wären.

Wie sieht die Architektur dieser Oper aus? Steuert zum Beispiel die Musik auf einen Schlusshöhepunkt zu oder gibt es mehrere Binnenhöhepunkte? In welchem Zusammenhang stehen die einzelnen Teile zueinander?
Michael Boder: Einer der Ursachen für die großen Sogwirkung die von dieser Oper ausgeht, liegt im steten Wechsel begründet, der die Partitur auszeichnet: Das Stück vermag den Hörer in die gegensätzlichsten Zustände zu versetzen, kann etwa plötzlich ein unglaubliches Tempo entwickeln und dann wieder eine tiefe Ruhe ausstrahlen. Die sechs Szenen sowie das Intermezzo stehen somit in ihrer Farbigkeit, ihrer Klangsprache, ihrer Atmosphäre jeweils für sich – denken wir nur an die fünfte Szene mit der Arie der Hermione, in der so eine Art Naturmoment mitschwingt, das weder vorher noch nachher in dieser Form wiederkommt.

Gibt es dennoch einen roten Faden, der die einzelnen Teile miteinander verknüpft?
Michael Boder: Absolut. Der rote Faden besteht in erster Linie in den unterschiedlichen Motiven und klanglichen Eigenheiten beziehungsweise Klangwelten, die den einzelnen Charakteren sehr überzeugend stückübergreifend zugeordnet sind und die als Erkennungswerte fungieren. Wir haben also einen sehr personenbezogenen Erzählduktus vor uns.

Mit Ausnahme des Intermezzos?
Michael Boder: Richtig, dieses Zwischenspiel steht wie ein monolithischer Block zwischen Szene vier und Szene fünf und schildert die Vorgänge des Trojanischen Krieges. Und zwar so, dass der Hörer keinerlei gesonderte Erklärungen benötigt, um die Botschaft zu begreifen. Überhaupt erschließt sich für das Publikum alles Wesentliche dieser Partitur auch ohne große Vorkenntnisse.

Also keine allzu intellektuelle Schreibweise?
Michael Boder: Nein, Orest ist eine kluge Oper, die mit einer tiefen Emotionalität den Raum mit Klang und Energie füllt.

Nichtsdestotrotz sind Nietzsches Dionysos-Dithyramben in diese Oper eingeflossen. Wie notwendig ist es, sich mit Nietzsche auseinanderzusetzen, wenn man dieses Werk dirigieren möchte?

Michael Boder: (lacht) Es ist vermutlich für jeden sinnvoll sich irgendeinmal mit Nietzsche zu befassen, wobei ich zugebe, dass ich mich nie so intensiv mit seinem Werk auseinandergesetzt habe wie Manfred Trojahn dies offensichtlich über sein ganzes Leben hindurch macht. Für mich war Nietzsche eher eine Jugendphase. Hier im Orest bedient sich Trojahn insofern bei Nietzsche, als er versucht die Ambivalenz der Gottheit Apollo/Dionysos einzufangen und aufzuzeigen. Für den Hörer ist dieser Nietzsche-Bezug meiner Meinung nach aber von nicht allzu großer Wichtigkeit und es ist dem Stück auch nicht abträglich, wenn man ihn nicht mitbekommt.

Das Changieren zwischen der apollinischen und dionysischen Welt ist musikalisch nichtsdestotrotz nachvollziehbar?
Michael Boder: Ganz sicher, nicht zuletzt, weil Dionysos und Apollo ja vom selben Sänger verkörpert werden. Das Apollinische übt Druck auf Orest aus, treibt ihn vor sich her, das Dionysische hingegen will ihn verführen. Die unterschiedliche Musik dieser beiden Gottwelten ist augen-, besser ohrenfällig.

Wie schaut das Instrumentarium generell aus?
Michael Boder: Ein an sich ganz „normales“ großes Orchester mit Streichern, Bläsern und einem größeren Schlagwerkapparat – lediglich das Holzbläserspektrum ist durch einige ausgefallenere Instrumente ausgeweitet, wie Heckelphon, Kontrabassklarinette, Altflöte.

Das Stück teilt sich also dem Publikum sehr verständlich mit, das sagt aber noch nichts über die Herausforderungen für die Interpreten aus…
Michael Boder: Leicht ist Orest wahrlich nicht, weder für die einzelnen Sänger, noch für die einzelnen Musiker, noch für den Dirigenten, noch im Zusammenspiel. In den Streicherstimmen gibt es Passagen, die sich auf sehr hohem spieltechnischen Niveau befinden, also nahe an der Unspielbarkeitsgrenze. Orest ist also schwer zu spielen, schwer zu singen und erfordert, gerade auf Grund der vorhin angesprochenen schnellen Atmosphäre- und Emotionen-Wechsel aber auch wegen der zahlreichen Rubati und des komplexen Rhythmus enorme Konzentration.

Diese Rubati sind auskomponiert?
Michael Boder: Zum Teil ja, zum Teil nur allgemein gefordert. Dadurch haben zwar sowohl die Sänger als auch die Musiker und der Dirigent gewisse Freiheiten, die aber aufeinander abgestimmt sein möchten.

Welche Position nimmt Orest im OEuvre Trojahns ein?
Michael Boder: Hm. Das ist auf Grund des fast unüberblickbaren, großen Werkekanons schwer bis gar nicht zu sagen … auf jeden Fall ist Orest ein ungemein gelungenes, ansprechendes Stück, sehr präzise in der musikalischen Gestik, nie geschwätzig und auf den Punkt hin komponiert.