EINE TRILOGIE FUR DIE EWIGKEIT
Il trittico – das Triptychon. Der Begriff ist aus der Kunstgeschichte bekannt, er bezeichnet drei zusammengehörige oder miteinander verbundene Bilder, Gemälde oder auch Schnitzerei- und Bildhauerarbeiten. Typischerweise finden Triptychen in christlichen Kirchen als Altarkunstwerke Verwendung. Und nun sollte also Giacomo Puccini ein »Triptychon« geschaffen haben? Der Komponist realistischer Menschendramen, Orchestrator der Tragödien Floria Toscas und Cio-Cio-Sans? Wie passt das zusammen?
Beitrag von Nikolaus Stenitzer
Dass der Komponist statt des von Verlagschef Tito Ricordi vorgeschlagenen Titels für seine Einakter-Trilogie lieber vom »Triolet« sprach; dass weder auf den Klavierauszügen noch auf dem Abendzettel der Uraufführung (14. Dezember 1918 im Metropolitan Opera House, New York) Il trittico zu lesen war; dass trotz der expliziten Anlage als Trilogie schon die ersten Aufführungsverträge Möglichkeiten für die getrennte Aufführung der einzelnen Einakter enthielten, von denen auch bald Gebrauch gemacht wurde – all das passt zu diesem ungewöhnlichenWerk, das im Opernrepertoire lange einen schweren Stand hatte und dessen besondere, ja einzigartige Reize doch regelmäßig wiederentdeckt und immer mehr geschätzt werden.
Giacomo Puccini hatte schon um 1900 die Idee, eine Trilogie aus drei unabhängigen Einzelwerken zu komponieren, die gemeinsam aufgeführt werden sollten. Die Schwierigkeiten bei der Suche nach den richtigen Stoffen und vor allem den richtigen Kombinationen verhinderten die Realisierung aber immer wieder. Denn Puccini war von einer Idee fasziniert, die sich als äußerst schwer umsetzbar herausstellte: Die drei Einakter, die er komponieren wollte, sollten nicht etwa inhaltlich oder musikalisch verbunden sein, sondern jeweils eine emotionale »Farbe«, eine Stimmung repräsentieren, und aus diesem Spektrum würde dann die Einheit resultieren. Die drei gesuchten »Farben« leitete Puccini aus der Quartier-Latin- Szene seiner Bohème ab: Tragisch – sentimental – komisch (siehe auch Opernring 2 Nr. 27, September 2023).
Nach zahllosen Erwägungen von Stoffen und Autoren fand Puccini seinen ersten Einakter nach Jahren im Theater – ähnlich wie in den Fällen von Madama Butterfly und La fanciulla del West (beide nach David Belasco). Wahrscheinlich im Mai 1912 sah er das Schauspiel La Houppelande (Der Mantel / Der Umhang) von Didier Gold im Pariser Théâtre Marigny. Der Stoff schien ideal für die gesuchte »tragische« Farbe. Nach einigen Fehlversuchen war mit Giuseppe Adami auch der richtige Librettist gefunden, und mit vielen Unterbrechungen – unter anderem der Arbeit an La Rondine geschuldet – komponierte Puccini zunächst Il tabarro.
Die Beziehung zwischen dem Seineschiffer Michele und seiner jungen Frau Giorgetta ist merklich abgekühlt. Die Gründe dafür liegen in einer gemeinsamen Tragödie und in einer aktuellen Entwicklung: Vor etwa einem Jahr ist das Kind der beiden gestorben, und nun hat Giorgetta eine heimliche Affäre mit dem Arbeiter Luigi begonnen, den Michele als Helfer angeheuert hat. Michele vermutet die Untreue seiner Frau bereits. Nachts grübelt er an Deck seines Schiffes, wer der Nebenbuhler sein könnte, da betritt Luigi das Schiff, um Giorgetta zu treffen. Es kommt zur Auseinandersetzung zwischen den beiden Männern, und Michele tötet Luigi. Die Leiche wickelt er in seinen Mantel, früher ein Symbol der Wärme und des Schutzes für seine kleine Familie. Als Giorgetta erscheint, präsentiert Michele ihr die Leiche ihres Geliebten.
Puccinis Librettist Giuseppe Adami behielt die Grundstruktur von Didier Golds skandalisierendem »Grand Guignol«-Stück bei, ebenso wie viele atmosphärische Details. Zugleich straffte Adami Struktur und Sprache und verfeinerte die Psychologie der Figuren. Das Libretto zu Tabarro ist letztlich ein besseres Drama geworden als Golds Original, auch wenn Puccini sich zunächst beschwerte, weil er die Sprache der Figuren zu »süßlich« fand, nicht derb genug für das Milieu, in dem sie agierten.
Il tabarro setzt mit dem Motiv ein, das den Verlauf der Oper prägen wird: Das wiegende »Flussmotiv«, das seine archaisch wirkende Färbung aus der kirchentonalen Grundierung zieht, die zugleich immer wieder von Dissonanzen durchbrochen wird. Verschiedentlich wurde auf Anklänge an die Musik Claude Debussys hingewiesen; tatsächlich erinnert die Melodie der Oberstimmen an dessen Cathédrâle engloutie. Das Motiv baut zunächst das für Puccinis Verhältnisse ungewöhnlich langes Vorspiel auf, das als ein stummes Vorspiel die Atmosphäre des Werks einführt, die in ausführlichen Regieanweisungen beschrieben ist. Das »Flussmotiv« wogt in der Folge in wechselnden Takten (6/8, 9/8, 12/8) durch das Werk und scheint ein eigenes Zeit-Kontinuum zu schaffen; narkotisierend eher als beruhigend, kann es als melodiegewordene Erzählung von Ausweglosigkeit gedeutet werden, die durch die pointierte Behandlung der Einzelstimmen gelegentlich in Bedrohlichkeit umschlägt. Die »veristischen« Stellen in der Partitur machen eine Autohupe und eine Schiffssirene in der Besetzung der Bühnenmusik nötig, die ebenso exakt in die Partitur eingebettet sind wie die absichtlich verstimmte Drehorgel, zu der Giorgetta und die Arbeiter tanzen. Kunstvoll komponiert Puccini Nebenund Gegenszenen, in denen Musik und Libretto fast unheimlich perfekt zusammenspielen. Drei »Nummern« ragen besonders aus der Partitur heraus: Luigis dumpfe, dann leidenschaftliche Anklage gegen die Ausbeutung der Arbeiter steht nur kurz vor seinem Duett mit Giorgetta, das das Leben im Pariser Stadtteil Belleville feiert. Und kurz vor dem Ende singt Michele den tiefdunklen Monolog »Nulla! Silenzio!«, für den Puccini von Adami nach einer Neuproduktion in Bologna 1921 noch einmal einen neuen Text erbat, um eine kürzere, weniger retardierende Fassung zu komponieren als die ursprünglich an dieser Stelle stehende Ode an den »ewigen Fluss«.
Suor Angelica ist die einzige Originaldichtung der Trilogie, geschrieben vom zu diesem Zeitpunkt noch relativ unbekannten Giovachino Forzano. Dass Puccini sich für ein Werk erwärmen konnte, das in einem Kloster spielt und in mystischer Verklärung der Protagonistin zu enden scheint, vermag angesichts der bisherigen Sujets des Komponisten erstaunen. Biographen weisen auf Puccinis häufige Besuche bei seiner zwei Jahre älteren Schwester Iginia hin, die bereits seit über vierzig Jahren als Augustinernonne im Monasterio della Visitazione bei Lucca lebte, als Puccini sich für Suor Angelica entschied. Im Zuge der Suche nach geeigneten Stoffen bat Puccini aber auch den Dramatiker Valerio Soldani, ihm noch einmal seine Margherita di Cortona zuzusenden, ein Werk, das der Komponist Jahre vorher schon einmal abgelehnt hatte und das inhaltlich deutliche Parallelen zu Suor Angelica aufweist.
Suor Angelica hat im Kloster ihren Platz gefunden: Sie pflegt den Garten und behandelt Krankheiten und Verletzungen mit Heilmitteln aus Kräutern und Blumen. Ihre Mitschwestern munkeln, dass Angelica aus einer reichen, adeligen Familie komme und wegen eines Fehltritts ins Kloster geschickt worden sei. Als Angelica Besuch bekommt, werden beiden Gerüchte (für das Publikum) bestätigt: Die Zia Principessa, ihre Tante, ist gekommen, um Angelicas Zustimmung zur Aufteilung des Familienvermögens einzuholen. Sie spricht immer noch von Angelicas »Schande«, dem unehelichen Kind, das diese vor sieben Jahren geboren hat. Angelica fragt nach dem Befinden des Sohnes, und die Tante erklärt, er sei schon vor zwei Jahren gestorben. Angelica verzweifelt angesichts der Vorstellung, dass ihr Kind ohne seine Mutter habe sterben müssen. Die Tante reist ab. In der Nacht nimmt Angelica Gift und stirbt in einer Art mystischen Verklärung.
An der Eingangsszene lässt sich gut nachvollziehen, warum Puccini dieses Werk geeignet erschien, um zwischen dem düsteren Tabarro und dem virtuoskomischen Gianni Schicchi zu stehen: Ein Glockengeläut formt aus sechs Tönen eine Melodie, die von Streichern und Celesta im piano in ein Motiv überführt wird, das gleichsam direkt den Blick in den Klosterhof führt. Der ganze erste Teil lässt gut die »sentimentale« Farbe erkennen, die Puccini Jahre zuvor vorgeschwebt war, und die er vielleicht aus seinen eigenen Klosterbesuchen kannte. Die kammermusikalisch gearbeitete Szene bringt die unterschiedlichen Charaktere der Nonnen in den Blick und gewährt in dialogischen Stellen Einblicke in das Klosterleben. Die Behandlung des Orchesters ändert sich mit dem Auftritt der Zia Principessa, den Puccini so virtuos wie bedrohlich lautmalerisch gestaltet hat– ein latent unheilverkündender Marsch liegt unter der Auseinandersetzung der beiden. In das Bekenntnis der Tante, das Kind sei gestorben, mischt sich dann bereits das ruhige Motiv aus drei aufsteigenden Dreiklängen, mit dem kurz darauf eine der berühmtesten Puccini-Arien beginnt: »Senza mamma«. Der mystische Schluss der Oper, mit Orgel, Fanfaren und Becken, die die Chöre rhythmisch doppeln, riesig orchestriert, wurde häufig als Grund dafür angeführt, warum Suor Angelica von den drei Trittico-Einaktern beim Publikum am wenigsten gut ankam. Der »Musiker der kleinen Dinge«, wie Puccini sich selbst einmal bezeichnet hat, habe sich mit diesem Sujet und seiner musikalischen Umsetzung einfach zu weit aus seinem Habitat herausbewegt. Puccini selbst änderte im Nachhinein wenig an dem Werk und beschwerte sich etwa 1921 in einem Brief an Sybil Seligman, dass der Verlag Ricordi zugestimmt hatte, Il tabarro und Gianni Schicchi ohne Suor Angelica aufzuführen: »Es macht mich wirklich unglücklich, die beste der drei Opern beiseite gelegt zu sehen. In Wien war sie die wirkungsvollste der drei…«
Gianni Schicchi, das Abschlussstück wurde schnell zum beliebtesten der drei Trittico-Einakter und entwickelte mit der zähneknirschenden Billigung des Komponisten ein Eigenleben auf den Opernbühnen. Öfter als die beiden anderen Werke wurde der Schicchi nämlich mit anderen Einaktern zusammengespannt – das Uraufführungshaus, die New Yorker Metropolitan Opera, spielte ihn bald in Kombination mit Richard Strauss’ Salome. Doch zunächst war Gianni Schicchi, jenes komische Element von Puccinis geplanter Trilogie, das sich am schwersten hatte finden lassen. Die Quelle für den Stoff stammt aus Dantes Commedia, konkret aus dem 30. Gesang des Inferno. Wichtig für die Oper ist der Kommentar eines anonymen florentinischen Autors aus dem 14. Jahrhundert, der zusätzliche Details zu Gianni Schicchis Geschichte liefert.
Buoso Donati ist gestorben, und seine Verwandten überbieten sich gegenseitig in Trauerbekundungen. Besonders laut wird das Geschrei, als Buosos Testament gefunden wird: Der Verblichene hat sein ganzes Vermögen den Mönchen hinterlassen. Gianni Schicchi wird vom jungen Rinuccio gegen den Willen der bornierten Verwandten, die ihn als Emporkömmling vom Land ablehnen, als Berater hinzugezogen. Rinuccio und Schicchis Tochter Lauretta wollen heiraten, auch dafür ist das Erbe vonnöten. Schicchi nimmt sich der Sache an: Da niemand außer den Verwandten vom Tod Buosos weiß, wird er sich dem Notar gegenüber als dieser ausgeben und ein neues Testament diktieren. Der Plan geht auf, aber nachdem allen Verwandten ihr Teil zugesprochen wurde, vererbt Gianni Schicchi sich selbst die besten Stücke: Das wertvolle Maultier, das Haus in Florenz und die Mühlen von Signa. Die Verwandtschaft ist außer sich, doch Gianni wirft sie aus dem Haus und bittet abschließend das Publikum, ihm, der nun im Inferno schmoren muss, für die gelungene Unterhaltung mildernde Umstände zu gewähren.
Gianni Schicchi verleugnet seine Herkunft aus der Commedia dell’arte nicht: Schicchi ist der klassische kluge und komische Harlekin, umgeben von ebenso klassischem Commedia Personal: den amorosi Rinuccio und Lauretta, den vecchi Simone und Zita, auch ein Doktor und ein Notar treten auf. Musikalisch entsteht fast der Eindruck, als hätte Giacomo Puccini mit seiner einzigen komischen Oper eine maßgeschneiderte Form für sich gefunden, so gut ist ihm diese umwerfend komische Partitur gelungen.
Schon der synkopisch-wilde »tumultoso«-Beginn scheint nicht zu bändigen: wenn die Solovioline mit einem Ritardando zum Eingedenken aufzufordern scheint, reißen gleich wieder die Flöten aus, ihr Motiv ist einfach zu fröhlich, um langsamer gespielt zu werden. Erst der kleinen Trommel gelingt es, das Orchester zu bändigen; doch der Trauermarsch, den sie anführt, wird durch das rhythmische Stöhnen der versammelten Verwandtschaft gleich zur Parodie, die im schnell entsponnenen Dialog zwischen Orchester und trauernden Verwandten zur Meisterschaft gelangt. In der ausgesprochen anspruchsvollen Partitur, die das Orchester ständig in Dialog mit der Szene und den handelnden Figuren setzt, sind auch viele »Einzelnummern« ausgezeichnet in die musikalische Komödie eingepasst: Laurettas Arioso »O mio babbino caro« – das zweite berühmte Stück aus dem Trittico – mischt vokalen Schmelz mit Selbstmorddrohungen und fordert mit seinen nach a Moll gewendeten Bitten um »Gnade« geradezu heraus, nach dem Geheimnis hinter der Verzweiflung von Gianni Schicchis Tochter zu suchen. Ein Meisterstück ist »Addio Firenze«, zunächst von Gianni Schicchi vorgetragen: Die sentimentale Melodie, von Celli begleitet und mit gedämpften Trompeten akzentuiert, klingt wie eine zwischen Melancholie und Kitsch oszillierende Ode auf die Heimatstadt; doch auch wer bei der kurzen Exposition nicht aufgepasst hat, vernimmt nun, dass dem geliebten Florenz »mit dem Armstumpf« zugewunken wird. Das Lied dient Gianni dazu, die Verwandtschaft an ihre Komplizenschaft zu erinnern, die bei Bekanntwerden des Betrugs den Verlust einer Hand und die Exilierung bedeuten würde. Entsprechend wird die Melodie – quasi als parodiertes Erinnerungsmotiv – immer wieder angestimmt, besonders meisterhaft und bis zur Groteske zerstückelt in der Testamentsszene. Diese und die vielen anderen umwerfend komischen musikalischen Ideen machen Gianni Schicchi zu einem Ausnahmestück nicht nur in Puccinis Werk.
Mit Puccinis Entscheidung, das komische Stück an das Ende seiner Trilogie zu setzen, scheinen über dem Inferno die Anfänge der europäischen Theatergeschichte heraufzudämmern: schließlich war es auch in den Großen Dionysien von Athen ab etwa 500 vor Christus üblich, die Tragödientage mit einem heiteren Satyrspiel zu beenden. Puccinis Einakter- Trilogie ist dabei allerdings ein ausgesprochen modernes Theater-Experiment. Dieter Schickling weist in seiner kanonisierten Puccini-Biographie darauf hin, dass die immer schon vorhandene Vorliebe des Komponisten für eine episodische Dramaturgie hier ihren Höhepunkt findet. In diesem Verständnis steht Il trittico Alban Bergs Wozzeck näher als Einaktern wie Mascagnis Cavalleria rusticana oder auch Richard Strauss’ Salome und Elektra. Natürlich kann es kein Sakrileg sein, mit Il tabarro, Suor Angelica und Gianni Schicchi nach inspiriertem Gutdünken zu verfahren, veränderte Reihenfolgen und Kombinationen mit den Werken anderer Komponistinnen und Komponisten zu erwägen – wie das ja auch immer wieder geschah und weiterhin geschieht. Puccinis außergewöhnliche episodische Stimmungs-Dramaturgie lohnt aber immer wieder die Betrachtung und Auseinandersetzung und hat sich, mehr als hundert Jahre nach der Uraufführung, ihren festen Platz im Opernrepertoire mehr als verdient.