Eine Stunde und zehn Minuten bis zum Tod
Laura Aikin singt die Emilia Marty in Věc Makropulos.
Die erste große Herausforderung an dieser Oper ist für die meisten die Sprache. Auch für Sie?
Laura Aikin: Ja. Es ist meine erste Oper auf Tschechisch und sogar meine erste Oper in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Also habe ich – natürlich – mit einem Sprachcoach gearbeitet und wir sind das ganze Werk durchgegangen, bis irgendwann die Dame gesagt hat: „Mensch, wie viel hat diese Frau noch zu singen?!“ Und in der Tat: Diese Partie enthält für die Titelheldin deutlich mehr Text als für eine andere vergleichbare Partie, etwa für Jenůfa. Eine Stunde und zehn Minuten in Summe, nur die Emilia Marty! Und es ist kein Text, der sich wiederholt. Andererseits ist es natürlich auch erfreulich, weil ich die Chance habe, eine gänzlich neue Sprache und Welt zu erkunden …
Fühlt sich dieses in einer Sprache singen, die man eigentlich nicht versteht, nicht seltsam an?
Laura Aikin: Doch, absolut! Das war anfangs ein sehr komisches Gefühl. Mein Gehirn hat dagegen gekämpft, ich habe manchmal unabsichtlich auf einen Zuruf von außen auf Italienisch geantwortet. Mein Kopf wollte mir einreden: Diese Oper ist auf Italienisch! Aber das ist sie eindeutig nicht.
Seit wann beschäftigen Sie sich mit der Partie?
Laura Aikin: Die Auseinandersetzung hat vor lange Zeit begonnen, aber die intensive Phase ist seit August. Im Allgemeinen lerne ich alles in einem Monat, wenn es sein muss. Das geht bei mir schnell. Dann aber betreibe ich das Studium wirklich intensiv. Seit August treibt mich nur die Emilia Marty um. Sonst nichts.
Stimmt es, dass wenn man erst einmal den Text gelernt hat, das Schwierigste geschafft ist?
Laura Aikin: Ich denke schon. Die Musik ist nicht so schwierig zu lernen. Und auch gesanglich fällt diese Partie nicht aus dem Rahmen. Also im Vergleich zu den Rollen, die ich sonst singe. Ich kann als Emilia ja auch nur einen Teil von dem zeigen, was meine Stimme eigentlich könnte. Es ist eine wunderschöne Musik und sie singt sich so gut, gegen ein paar zusätzliche hohe Töne hätte ich aber dennoch nichts. Janáček hätte für mich ruhig noch ein wenig mehr von ihnen schreiben können! Aber unser Dirigent, Jakub Hrůša erlaubt mir manche schönen Töne extralang auszuhalten. Er meint, solange ich den nächsten Einsatz genau habe, darf ich das. (lacht)
Sie sagten einmal, Sie hätten Ihr Repertoire schon vor Jahren geplant. Also auch die Emilia?
Laura Aikin: Die Emilia Marty war immer schon eine Wunschpartie! Seit zehn Jahren, also auch, als ich es noch nicht hätte singen wollen. Aber ich wusste: Das wird meine Lulu Nummer 2. Weil sie auch so eine interessante Figur ist! Und je interessanter eine Figur ist, desto stärker kann ich in das Potenzial meiner Stimme greifen und Farben hervorholen. Ich singe dann auch besser, je schwieriger die Partie und interessanter der Charakter. Ich kann mich einfach besser reinhängen.
Und worin besteht das Interessante an der Emilia Marty?
Laura Aikin: Die Widersprüche! Sie schreit zum Beispiel: Ihr seid mir alle egal! Aber warum schreit sie es, wenn ihr alle egal sind? Da würde doch ein Schulterzucken reichen. Was sie sagt stimmt oft mit dem, was sie denkt, nicht überein. Warum will sie im 2. Akt wissen, ob sie als Sängerin gefallen hat? Wenn ihr alles egal ist? Sie kämpft also noch sehr, und nichts ist gleichgültig. Egal und einfach ist bei ihr nichts. Und mich fasziniert ihre Kraft! Sie ist eine unglaublich starke Frau, eine, die sich in einer Männerwelt durchsetzen musste und konnte. Denken Sie nur: Immer wieder wird die Gesellschaft erkannt haben, dass etwas mit ihr nicht stimmt – und dann musste sie schnell weg.
Ihr ganzes Leben war ja alles andere als einfach, oder?
Laura Aikin: Man merkt immer, dass sie gelitten hat. Sie musste das Schlimmste erleben, nämlich, dass die Menschen, an denen sie hängt, weggestorben sind. Wie oft musste sie das miterleben! Wenn sie Kinder gehabt hat, dann musste sie versuchen, sie möglichst schnell los zu werden. Damit die Gefühle nicht zu groß werden. Als Selbstschutz.
Wie steht es um die ewige Jugend der Emilia Marty? Ist sie wirklich ewig jung?
Laura Aikin: Nein, nur äußerlich. Innerlich ist sie am Ende, sie fällt förmlich auseinander. Man sieht immer wieder, wie sie verwirrt ist, zwischen den Zeiten wankt. In unserer Produktion ist das so eine Art Alzheimer, sie findet sich nicht mehr zurecht. Manchmal ist sie lebendig, hat Kraft und Energie, das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie in Wahrheit verbraucht ist. In einer frühen Fassung des Textes kommt vor, dass sie immer, seit 200 Jahren schon, Kopfschmerzen hat. Dieser Aspekt gefällt mir sehr gut. Diese Kopfschmerzen, dieses Pochen im Kopf: die sind immer da, die sind ein Zeichen des Verfalls. Man merkt, die Uhr ist abgelaufen. Selbst wenn sie noch einmal das Mittel nähme, sie würde dennoch nicht weiterleben. Sie hat schon viel früher verstanden, dass das Spiel zu Ende ist.
Entscheidet sie sich deshalb für den Tod?
Laura Aikin: Ich denke, ja. Es ist einfach genug. Und es ist schlüssig. Denn allein diese Oper zu studieren hat meine Gedanken über den Tod verändert, in dem Sinne, dass ich ihn jetzt besser akzeptieren kann. Ein ewiges diesseitiges Leben ist nicht erstrebenswert.
Aber ist das nicht nur Theorie? Wenn hier das Geheimrezept läge, das Ihr Leben verlängert. Würden Sie es nehmen? 300 Jahre länger leben?
Laura Aikin: 300 Jahre ist zu viel. 20 Jahre, 40 Jahre: ja. Aber 300 ist zu viel.
Und warum bringt sie sich nicht einfach um, wenn sie doch genug hat?
Laura Aikin: Diese Frage haben sich Peter Stein und ich auch gestellt. Sie stammt aus einem christlich orthodoxen Glauben und hat Angst, weil manches in ihrem Leben sicher nicht so war, wie es ein „gutes“ Leben sein sollte. Und sie fürchtet, dass sie keine Vergebung finden kann. Ihre letzten Worte sind ja „Pater Hemon“, also „Vater unser“. Entweder als Buße, oder einfach: „Nimm mich, wie ich bin“. Ein großartiges Ende!
Oliver Láng