Eine PERFEKTE Oper
Informationen & Karten »Wozzeck«
Es ist eine grundsätzliche Frage bei jeder nicht gerade sakralen Vokalmusik, wie sehr der ursprüngliche Text Opfer der späteren Vertonung geworden ist. Hier ist kein Unrecht geschehen: Wozzeck würde ich diesbezüglich als Idealbeispiel einer Literaturoper bezeichnen (übliche Libretti werden ja geschrieben, um vertont zu werden), und noch dazu eine geglückte, weil die Büchner’sche Vorlage vom Komponisten recht weitgehend respektiert wurde, radikale Kürzungen ausgeblieben sind und insgesamt der vertonte Text dem Dramenfragment Woyzeck doch äußerst ähnlich geblieben ist – besonders in ihrer für eine Oper dringend notwendigen Kürze und Sinnverdichtung. Das liegt natürlich eben am Original, das eine phänomenale Verdichtung von Sinnhaftigkeit im verbalen Ausdruck aufweist: Jede Wendung ist von schier unvergleichlicher »atomistischer« Prägnanz, von Schönheit des Erkennens, von Witz. Wie viel ist mitunter in einzelne Worte verpackt – das »Uff« des Hauptmanns im zweiten Akt beispielweise bildet mir bereits einen grandiosen, hinreißenden Satz! Und Berg hat diese Sinnhaftigkeit durch seine Musik noch einmal klanglich präzisiert, ja vielleicht überboten. Wozzeck ist somit in seiner gehaltvollen Knappheit, Bedeutungstiefe und gleichzeitigen musik-formalen Vollendung eigentlich die schlechthin perfekte Oper – und trotz aller Düsterkeit und Tragik des Stoffes eine einzige Freude für den Geist. Von welchem anderen zuvor aufgeführten oder studierten Werk ich auch immer gerade komme – die Auseinandersetzung mit Wozzeck gewährt mir jedes Mal eine unvergleichliche Erfüllung, ein inneres Aufatmen. Hier erlebe ich durch die Vereinigung der Sinnhaftigkeit Büchner’scher Sätze (kein Wort zu viel) mit der Sinnlichkeit der Berg’schen Musik (kein Ton zu viel) jedes Mal neu einen Gipfel in der Geschichte des Musiktheaters (einzige Einschränkung des Lobpreises wäre vielleicht, dass Alban Berg einerseits noch keine wissenschaftlich redigierte Version benutzen konnte und so einige Szenen nicht vertont werden konnten und er andererseits ein paar geschmacklich motivierte Textanpassungen vorgenommen hat).
Eine wichtige Frage ist, inwiefern Bergs doch sehr dezidierte, aber in ihrer Gesamtheit immens schwer verständliche Notation der Gesangsstimmen – es gibt angeblich gezählt mehr als 60 (!) verschiedene Notationsformen – eins zu eins verwirklicht werden muss und ob sie bis ins letzte Detail überhaupt konsistent verwirklichbar ist. Der Farbgestus des durchschnittlichen Operngesangs am Ende des 19. Jahrhunderts dürfte hinsichtlich seiner deklamatorischen Vielfalt jedenfalls ein gewisses Defizit mit sich gebracht haben, welchem dann, nicht zuletzt von Schönberg und seinem Schüler Berg, aber auch schon beispielsweise in Humperdincks zunächst als reine Deklamationsoper verfassten Königskindern, mit koloristischer Vielfalt zu begegnen versucht wurde. Spätestens nach der Jahrhundertwende stand eine vielfarbigere Gestaltung der Gesangslinie als Desiderat im Raum – und das eventuell mehr als eine hundertprozentige Trefferquote der Tonhöhe. In diesem Sinne mag auch die entsprechende Anweisung Bergs zu verstehen sein, nach der die Intervalle korrekt zu singen, aber – bei entsprechender Notation – die exakten Intonationen vernachlässigbar wären. Andererseits versicherte mich Heinz Holliger oft (und dezidiert genug, dass ich das einfach so nachplappern darf), dass bei Berg, dem vielleicht größten Klangdenker des 20. Jahrhunderts, kein Ton zufällig oder gar zu viel wäre und dass jede Tonfolge im Gesamtgefüge ihren ganz eigenen Sinn hätte. Und so kann es doch eigentlich nicht sein, dass in diesem luzide-konzisen Klanggebilde kontingente Tonhöhen, der momentanen Eingebung und Befindlichkeit eines Darstellers folgend, ihren berechtigten Platz finden dürfen.
Inhaltlich ist Wozzeck die Geschichte eines Mannes, der in jeder Hinsicht Opfer und jedem unterlegen ist: dem Hauptmann hierarchisch, dem Doktor intellektuell und sozial. Marie ist er sexuell unterlegen, und überhaupt als Partner. Von den ersten beiden lässt er sich, da er Geld braucht, um seine Familie zu ernähren, knechten und für fragwürdige medizinische Zwecke missbrauchen. Und von Marie wird der sich stets Unterordnende und offensichtlich als unattraktiv, zumindest inkompatibel Empfundene spürbar missachtet. Die Beziehung der beiden ist offensichtlich ein einziges Unglück. Sieht man in unserer Inszenierung das gemeinsame Bett, kann man sich kaum vorstellen, dass der gehemmte, verschämte Wozzeck dort neben Marie jemals liegen könnte. Wenn der hin und her Hetzende dann doch einmal nach Hause findet, so wird er wohl in einem Sessel Platz nehmen, um dort kurz zu schlafen, ehe er sein erratisches Leben wieder aufnimmt. Dieses Leben als eine Flucht vor seiner Lösung, in Furcht vor einer Auflösung der Illusion eines finanziell, sozial und sexuell-amourös scheinbar geordneten, mindestens funktionierenden Daseins gerät aber immer mehr in eine Schieflage, in eine Art zunehmender Verengung der Möglichkeiten seiner Fortführung: Der Arzt unterzieht ihn einer nebenwirkungsreichen (Hyperurie, Halluzinieren) Hülsenfrucht-Diät, die zunehmend das Maß des Tragbaren überschreitet (»auf der Straße gepisst wie ein Hund«), der narzisstische Sadismus des Hauptmann (»O er ist dumm, ganz abscheulich dumm«) wird immer unerträglicher, und schließlich noch der ihn physisch wie psychisch demütigende Tambourmajor… Das schicksalhaft Entscheidende aber ist Maries unverhohlene Affäre mit diesem als Konsequenz ihrer Mesalliance, selbst eine Folge ihrer sozial prekären Situation (erster Dialog mit Margret). Warum Wozzeck diese Nicht-Beziehung überhaupt so lange aufrechterhält?
Vielleicht sucht er eine stellvertretende Bedeutung seiner Existenz: Mit der Gegenwart, der aktuellen Situation weiß er nie etwas anzufangen, das Abliefern des soeben verdienten Geldes könnte aber ein befriedigendes tägliches Ziel sein (über einem für meherere Takte liegenden C-Dur-Akkord) – Ersatz für ein Leben ohne Entwicklungsmöglichkeit. Ein Verhältnis mit anderen Frauen würde sich beim ihm wohl kaum anders gestalten, er dürfte in jeder Partnerschaft der Unterlegene sein. Käme er nach dem Mord an Marie nicht selbst um (für mich ist es ein Unfall, kein Selbstmord), wer weiß, ob er sich nicht zu einem Jack the Ripper entwickelte? Sein »Margret, du bist so heiß… wart nur, wirst auch kalt werden!« in der zweiten Wirtshausszene deutet immerhin in diese Richtung. Was Wozzeck also auf jeden Fall, und in seiner zunehmenden Überforderung immer offensichtlicher fehlt, ist eine echte Perspektive, die ihn aus seiner unglücklichen Lebenslage befreit. Einen erahnbaren Ehrgeiz, einen Drang nach Bildung, von der er sich gesellschaftlichen Aufstieg und damit Steigerung seines Selbstwertgefühls erhoffen könnte, besitzt er ja, wie wir im Laufe der Handlung mehrfach erkennen können: In all den Zusammenkünften mit dem philosophierend-schwadronierenden Hauptmann, dem selbstgefälligen, größenwahnsinnigen und skrupellosen Doktor versucht Wozzeck alles Gehörte aufzusaugen und in sein Vokabular einzubauen (Bibelzitat und Attribute des vornehmen Herrn in der Hauptmannszene; Benutzen komplizierter Begriffe in der Doktorszene: »Natur«, »Charakter«, »Struktur«). Doch da ihm seine Herkunft und Erziehung nichts mitgab, bleiben ihm diese mehrdeutigen Begrifflichkeiten intellektuell natürlich verschlossen und letztlich unanwendbar. Auch seine im Wahn vorgebrachte Furcht vor den Freimaurern stellt letztlich nur eine assoziativ geäußerte Angst vor etwas Unbekanntem, etwas nicht Greifbarem dar, von dem er irgendwo etwas vernommen hat, ohne damit inhaltlich oder gar urteilend etwas verbinden zu können.
Wozzecks experimentell evozierter Wahnsinn: Der Mediziner Büchner war seinerzeit Zeuge von Experimenten zur Frage, ob Hülsenfrüchte Fleisch ersetzen können (diese Feldstudie wird – nicht authentisch – mit Justus Liebig in Verbindung gebracht). Um die Kosten der Verpflegung von Soldaten zu reduzieren, dachte man daran, tierisches Eiweiß vollständig durch pflanzliches zu ersetzen – also bekamen die Probanden wochenlang nur Erbsen- und Bohnenbrei zu essen. Durch diese Einseitigkeit entstand dann eben der für den Protagonisten charakteristische Symptomkomplex (vermehrter Harndrang sowie optische und akustische Halluzinationen, Akoasmen). Zum einen wird klar, dass Wozzecks gesundheitlicher Zustand ganz offensichtlich von seiner sozialen Situation, seiner finanziellen Abhängigkeit, seiner Herkunft enorm mitbestimmt wird, zum anderen hilft dieser Umstand vielleicht, ein strittiges Detail im Text der Oper zu entscheiden: Heißt es in der Doktorszene im Original »Ich habs gesehn, Wozzeck, Er hat wieder gepisst«, so lautet die Stelle bei Berg »…hat wieder gehustet« – eine jener sprachlichen Anpassungen, von denen ich weiter oben sprach. Inhaltlichen gesehen wäre es also legitim – und es ist mittlerweile fast üblich –, zur Büchner’schen Formulierung zurückzukehren. Nun hat es Berg aber aus ästhetischen Gründen anders entschieden, und ein ästhetischer Urgrund ist doch wiederum mitentscheidend dafür, dass es überhaupt zu so einem unvergleichlichen Werk gekommen ist. Eine eigentlich nicht, zumindest nicht grundsätzlich zu entscheidende Frage.
Inwiefern nun die Personen rund um Wozzeck ebenfalls als Opfer der Umstände zu verstehen sind beziehungsweise in welchem Ausmaß ihnen Schuld zuzurechnen ist, ist immer eine Frage der Interpretation. Büchners bekannt radikale, sozial- und herrschaftskritische Haltung bietet da natürlich einen passenden Interpretationsrahmen. Grundsätzlich können die Rollen aber auch als Typen gesehen werden, die ihren Ursprung in der Commedia dell’arte finden: Der Hauptmann entspräche dem Capitano, Marie der Colombina, der Doktor dem Dottore, Andres der lebensbejahenden und Wozzeck der düsteren Seite des Harlekin. Zudem wird immer wieder wie dezidiert das Publikum adressiert. Aufgebrochen wird diese Typisierung freilich in den vier kurzen Szenen zwischen Wozzeck und Marie, in welchen sich trotz der gewohnt komprimierten Form eine vielfarbige psychologische Konstellation entwickelt, welche schließlich in der Mordtat als wohl einzig verbleibender Möglichkeit kulminiert.
Eine interessante Position zwischen Marie und Wozzeck nimmt schließlich noch das Kind ein. Der Bub und Wozzeck scheinen ja durch keinerlei sichtbare emotionale Bindung verbunden – viel größer und damit erschütternd ist die Empathie des Zusehers mit diesem Vollwaisen. Ist Wozzeck überhaupt sein Vater? Wenn er Marie in der ersten Unterredung auf ihr »Franz, dein Bub…« mit »Mein Bub, mein Bub… jetzt muss ich fort« antwortet, so interpretieren wir diese Aussage mit einem Fragezeichen. Vielleicht fürchtet er, ein Kuckuckskind vor sich zu sehen. Vielleicht ist der Bub aber auch nur ein Stiefkind? Das deutet sich jedenfalls im letzten Dialog an: »Weißt noch, Marie, wie lang es jetzt ist, dass wir uns kennen?« – »Zu Pfingsten drei Jahre«. Älter scheint dieser Bub allemal, und hier als Ernährer eilfertig einzuspringen, könnte der einzige Grund sein, warum Wozzeck sich mit einer ihm so sehr überlegenen Frau überhaupt einlassen konnte. Was für eine Perspektive: aus so dürftigem Grund sich als Paar zusammenzufinden! Sie entspricht der Perspektive, mit welcher dieses Theater einen gleich am Anfang umfasst: Trostlosigkeit, die nur so enden kann, wie sie endet. Aber im Vergleich zu vielem anderen in Film, Roman oder Theater – was für ein Vergnügen tut sich dazwischen auf, wenn der Hauptmann anhebt, die Düsternis hiesiger Sinnlosigkeit mit Worten so herrlich zu erhellen: »Wozzeck, es schaudert mich, wenn ich denke, dass sich die Welt in einem Tag herumdreht. Drum kann ich auch kein Mühlrad mehr sehn!«