© Sandrah Steh

Eine Musik, die in den Schatten lebt

Die Dirigentin Simone Young & Nikolaus Stenitzer im Gespräch über Fin de partie

 

Wenn Sie Fin de partie für jemanden beschreiben müssten, der noch keinen Ton daraus gehört hat: Wie klingt diese Oper?

Fin de partie klingt wie fantasievoll betonte Sprache. Bei guten Musiktheaterstücken kann man ja generell sagen, dass die Musik total am Text hängt – und diese Oper zieht ihr ganzes Dasein aus dem Text. Das Französisch ist absolut perfekt in Musik gesetzt, in einer unheimlich detaillierten Weise. Aus vielen kleinen Fragmenten und der detaillierten Bearbeitung der Gesangslinie hat Kurtág auch die großen Monologe komponiert, und die Sprache ist auch in die Orchesterstimmen eingeschrieben, dort, wo die Orchestermusiker parallel mit dem Text spielen – etwa, wenn die Stimme von Hamm in der Bassklarinette gedoppelt wird oder die Stimme von Clov im Kontrabass. Interessant ist, wie die Komposition die unterschiedlichen Textformate gestaltet. Den sehr schön gesungenen Monologen stehen die dialogischen Stellen gegenüber, in denen Kurtág sich quasi auf Monteverdi bezieht, in einer Art modernem Rezitativstil, der nahe am parlando ist. Es ist wie ein Verweis auf die Oper vor Mozart. In der Instrumentation gibt es außerdem eine Besonderheit: Das Cimbalom, eine Art Hackbrett, ist in der Partitur in eine Instrumentengruppe eingebettet, die man als eine modern interpretierte Cembalo-Gruppe bezeichnen könnte: Cimbalom, Klavier, Pianino, Harfe, zwei Bayans, das sind chromatische Knopfakkordeons. Ein wenig wie eine Continuogruppe, die durch das Stück läuft. Das ist gewissermaßen das raffinierte, fein gebaute Skelett des Ganzen. 


Kurtág ist berühmt als »Meister der kleinen Form«, für seine Miniaturen, die oft nur aus wenigen Takten bestehen. Im Bezug auf Fin de partie wurde bisweilen darauf hingewiesen, dass auch innerhalb dieser großen Oper gewissermaßen Miniaturen zu finden sind. Beim Hören entsteht aber – vielleicht aufgrund des angesprochenen »Skeletts« – durchgängig der Eindruck einer verbindenden, unverwechselbaren Klangsprache.

Das würde ich absolut bestätigen. Kurtágs Vorliebe für Fragmente und Miniaturen findet auch ihren Weg in die Partitur, und für ihn als Komponisten ist der reduzierte Text von Samuel Beckett das perfekte Pendant. Aber über das Ganze bildet seine musikalische Sprache eine einheitliche Linie. Es ist höchst komplex, aber was man sagen kann, ist, dass es die ganze Zeit über mit der Theorie und Ideologie des Absurden Theaters verbunden bleibt. Auffällig ist, dass man, auch wenn man die Partitur nicht kennt und das Stück nur hört, gewisse Miniaturen schnell erkennt und wiedererkennt, in gewisser Weise Leitmotive. Das sind die sehr klaren Motive, die er als »Conductus A« und »Conductus B« bezeichnet, aber es gibt auch kleine Figuren, die fast wie Volksmusikmotive klingen. Etwa ein Motiv, das in den Bayans eingeführt wird, das ist fast wie eine Sekunde Zirkusmusik, die dann fragmentiert in unterschiedlichen Instrumentengruppen wiederkehrt, etwa in den Streichern im Tremolo. Das sind keine Leitmotive im Sinne von Wagner oder Strauss, eher kleine Hinweise, die die dreizehn Szenen auf raffinierteste Art verbinden.


Die feine Detailarbeit, die Kurtág leistet, vor allem in den leisen Tönen, ist das etwas, das sich dem Publikum beim Hören vermittelt?

Man muss die Frage stellen: Wie viel muss man vermitteln? Sehr viel liegt im Subtext und zielt auf das Unbewusste. All die detaillierten Miniaturpausen, Vorzeichen, mehrfachen Pianissimi, dann wieder Pianissimo mit einem kleinen Akzent, aber sul ponticello, damit die Töne wie verhaucht sind: Man könnte sagen, dass das eine Musik ist, die in den Schatten lebt. Das ist eine Beschreibung, die auch auf das Schauspiel von Beckett zutrifft: Es ist ein Stück, das in den Schatten lebt. Wir befinden uns dort in einer postapokalyptischen Welt, wir wissen nicht, was draußen ist – ob es überhaupt ein Außerhalb dieser vier Menschen gibt. Ein Relikt, ein Überbleibsel einer Katastrophe. Dieses Theater des Absurden ist im Schatten des Zweiten Weltkriegs entstanden, und Kurtág nimmt das von sich aus den Nach-UdSSR-Jahren. Es lebt in den Schatten, und die Details sind in den Schatten zu spüren, zu hören, aber vielleicht nicht unmittelbar zu erkennen. Der Text ist klar, aber die Bedeutung ist verhüllt, und so ist es in der Musik auch. Grundsätzlich ist alles so fein gearbeitet, dass man das als Zuhörer beim ersten Hören gar nicht alles begreifen und erfassen kann. Und vielleicht ist das so auch richtig.


Inwiefern?

Das absurde Theater ist etwas, das man anzufassen versucht, und in dem Moment, in dem man es zu fassen glaubt, verschwindet es wieder. Mercurial würde man es im Englischen nennen, quecksilbrig. Kurtág ist unheimlich nah an Becketts Konzeption. Er stellt in fast jedem Takt ein Rätsel. Zum Beispiel setzt er das Fagott in einer Weise ein, dass man fast sagen kann: Es sind darin die Gedanken ausgedrückt, die nicht ausgesprochen werden. Und damit bewegt er sich vollkommen auf dem Boden des Theaters des Absurden. Das eigentlich unkonkrete Geschehen, das dieses Theater auszeichnet, ist in den großen Pausen zwischen den gesungenen Sätzen abgebildet. Und die Musik soll uns, glaube ich, dazu führen, dass wir diese Brüche für uns selbst ausfüllen. Die überraschenden Espressivofiguren im Fagott verstehe ich als unsere Perspektive, die der Zuschauer. Das sind also unsere Gedanken, die nicht ausgesprochenen Gedanken. Aber das ist eine persönliche Interpretation.


Die formale Besonderheit des absurden Theaters hat vielleicht selbst dazu geführt, dass die Stücke oft besonders ernsthaft und streng inszeniert wurden: Es provoziert immer wieder die Suche nach Sinn und Bedeutung, um dafür dann aber wieder den Boden zu entziehen. Das ist bei Beckett so, und Kurtág folgt ihm darin.

Beckett macht sich auch ein wenig über das existenzialistische Theater lustig, das unmittelbar davor Konjunktur hatte. Und Kurtág hat die Substanz von Becketts Theater quasi perfekt in Musik gefasst. Interessant ist dabei: wenn man die Intention dieses Theaters konsequent durchdenkt, läuft es ihm eigentlich völlig zuwider, es in Musik zu setzen. Denn die Musik gibt uns konkrete Gefühle. Und darum gibt es meiner Ansicht nach so viele Stellen, die im pianissimo stehen, geflüstert und schattiert sind, Flageoletts in den Streichern, Rauschen in den Maracas oder auf den Becken. Es sind unheimlich viele Fast-Noten, Fast-Geräusche. Fast subliminal. Dadurch wischt Kurtág das Emotionale, das mit traditionellen Opernstimmen und Instrumenten kommen würde, erst einmal weg und macht Platz. Aber der Platz, der so entsteht, ist kein Vakuum. Häufig gibt es das, was ich als hörbares Schweigen bezeichnen würde. Und das ist eben die verhüllte Bedeutung, von der ich gesprochen habe.


Ein Aspekt an Fin de partie, den sowohl Regisseur Herbert Fritsch als auch Sie immer wieder betonen, ist der des Humors.

Weil er so wichtig ist. Wir haben ja generell die Sicht auf moderne Musik, dass alles sehr seriös ist. Es ist alles sehr dunkel, fast fromm. Kurtág will weg davon. Beckett wollte auch weg davon. Aber es hat sich aus dem Schauspiel eine gewisse Tradition entwickelt, vor allem in Deutschland – darauf weist auch Herbert Fritsch immer wieder hin – in der das dann sehr dunkel, grau, langsam und bedeutungsvoll wurde. Sowohl Beckett als auch Kurtág sehen viel mehr Witz in der ganzen Sache – da gibt es falsch zitierten Baudelaire, falsch zitierten Shakespeare. In der Musik finden wir dann etwa ein Moment, das an Strawinski erinnert, ein anderes, das an Bartók erinnert. Diese kleinen Elemente sollen auch ein kleines Schmunzeln hervorrufen. Der schwarze Humor gehört unbedingt zum absurden Theater dazu, und Kurtág hat in den Gesangslinien immer dort leicht übertrieben, wo der böse Humor zum Tragen kommt.


Auf den Proben kann man im Moment beobachten, welche Präzision die Sängerinnen und Sänger brauchen, um Kurtágs oft spielerisch klingende Gesangslinien im Sinne des Komponisten umzusetzen.

Die Arbeit muss unglaublich genau sein, das stimmt. Es muss perfektionistisch geprobt werden. Zum Glück habe ich eine Besetzung, die das versteht. Die Sänger werden angeregt durch diese Arbeit – sie können das, und es ist auch eine Herausforderung für sie. Und das ist in der Arbeit für mich auch sehr dankbar. Es gibt immer eine Extraverantwortung, wenn der Komponist noch lebt. Man will, dass er damit zufrieden ist. Das ist sein Kind – man will ihm nicht das Gefühl geben, dass wir dem Kind die Haare abgeschnitten haben oder es zu dick werden lassen. Wir haben eine zusätzliche Verantwortung, dass das auch für ihn befriedigend ist.


Für die Vorbereitung waren Sie auch bei György Kurtág in Budapest. Wie verlief die Arbeit mit ihm? Hat er sie auf viele Details hingewiesen, die ihm wichtig sind, oder haben Sie ihm eher Fragen gestellt?

Ich war lange mit Herrn Kurtág im Gespräch, und in Budapest sind wir die Partitur genau durchgegangen, er hat sie am Klavier gespielt, wir haben alle Stimmen gesungen. Ich hatte die Partitur genau studiert und einige Fragen vorbereitet. Viele Fragen sind für den Zuhörer nicht so wichtig, für mich aber sehr – Fragen zum Notentext, der verschiedene Symbole verwendet, zu den Korrekturen, die nach den ersten Aufführungen dazugekommen sind. Wir haben auch über den »indefinitiven« Charakter des Werks gesprochen – es wurde ja als »vorläufige Fassung« uraufgeführt. Er hatte außerdem einige Notizen in seiner Partitur, die nicht in das gedruckte Werk eingegangen sind, und ich fühlte mich sehr geehrt, dass ich diese Notizen abschreiben durfte.


Wie ist Ihr bisheriger Zugang zu Kurtág gewesen? Haben Sie seine Musik gut gekannt, hat sie Sie begleitet?

Einige seiner kleinen Ensemblestücke habe ich selbst aufgeführt. Was ich gut kenne und auch schon länger, sind viele der kleinen Klavierstücke aus der Sammlung Játekok [Spiele]. Und er komponiert immer noch! Als ich für die Vorbereitung in Budapest war, kam ich morgens zu ihm, und er zeigte mir gleich ein Klavierstück, das er nachts komponiert hatte. Aus diesen Stücken lernt man viel über seine Harmonien und ihre Symboliken. Über den Sommer habe ich außerdem noch einmal sehr viel von seiner Musik gehört. Etwa die Kammermusikarbeiten, für die er bekannt ist. Das hat mir schon vieles erzählt. Aber ich komme jetzt auch immer wieder auf meine Bewunderung für seine Partitur zurück – dass er, auch in seinem Alter, mit einer derartigen Deutlichkeit schreibt. Es ist einfach alles in der Partitur, was ich brauche. Ich könnte gar nichts verstehen vom Theater des Absurden, nichts von seiner anderen Musik – und könnte trotzdem fast alles aus der Partitur lesen, was ich brauche, um damit zu arbeiten. Das ist absolut bemerkenswert.