Eine Frage der Gefühle

Im Dezember und Jänner war KS Piotr Beczała ursprünglich mit gleich drei unterschiedlichen Partien angesetzt: Erstmals im Haus als Werther und Rosenkavalier-Sänger sowie als Prinz in Dvořáks Rusalka. Als Live-Erlebnis im Saal sind diese Vorstellungen Corona-bedingt ebenfalls leider ins Wasser gefallen, doch Fernseh-Übertragungen und Live-Streams konnten immerhin ein wenig den Ausfall kompensieren. Und auch im Jänner gibt es noch die Möglichkeit, den beliebten Künstler virtuell zu erleben: ORF III zeigt am 10. Jänner die im Monat zuvor aufgezeichnete Werther-Aufführung mit Beczała in der Titelpartie und die Wiener Staatsoper zwei Streams einer Rusalka-Vorstellung vom vergangenen Februar. Gewissermaßen als „Zuwag“ und passend zu diesen Angeboten bieten wir im Folgenden außerdem noch ein Gespräch mit diesem Grandseigneur der Tenöre.

Der bekannte französische Tenor Georges Thill hat in den 1950er-Jahren den seither oft zitierten Ausspruch getan, dass man Werther nicht interpretieren, sondern nur singen könne.

Piotr Beczała: Eine sehr gute Formulierung! Man könnte auch sagen: Werther hat mit der Stimme interpretiert zu werden – das käme im Prinzip auf dasselbe hinaus. Es geht mit anderen Worten darum, all die Farben die hier vonnöten sind vokal ebenso umzusetzen wie die geradezu überpräzisen Vorgaben Massenets. Wer das schafft und die notwendige Musikalität aufweist, ist schon im grünen Bereich. Der umgekehrte Weg ist nicht möglich. Ich kann nicht eine Interpretationsidee von außen draufstülpen, die im Stil dieses Werkes nicht enthalten ist, die Facetten der Rolle werden nicht getroffen, wenn ich den Intentionen des Komponisten stimmlich nicht entspreche. Kurz: Massenet hat den Charakter des Werther und der übrigen Partien in die Gesangslinien derselben gelegt.

Apropos Stimmfarben: In Gounods Faust muss der Sänger schon gleich am Beginn den Unterschied zwischen dem alten Mann am Beginn und den durch Mephistos Gnaden Verjüngten verdeutlichen. Eine ähnliche Situation?

Piotr Beczała: Nein, denn in diesem Fall geht es lediglich darum den Umschwung vom alten zum jungen Mann auch akustisch nachzuzeichnen, keinesfalls um fein differenzierte Nuancen innerhalb eines belcantesken Gesanges. Den alten Faust am Beginn soll, oder besser darf man daher gar nicht schön singen. Im Falle Werthers liegt die Sache ganz anders, Werther ändert sich im Laufe des Stückes ja als Person nicht grundlegend. Aber er ist raffiniert, zeigt sich je nach Situation von den unterschiedlichsten Seiten. Mal umwirbt er Charlotte – da ist eine weiche Tongebung gefragt – mal setzt er sie unter Druck, wird fordernd, brutal; Sophie gegenüber ist er hingegen von Anfang an trocken, kalt, fast hart und Albert begegnet er wiederum auf andere Weise. Dazu kommt, dass auch das Atmosphärische vokal vermittelt werden soll: Wenn Werther beispielsweise die Natur beschreibt und über die Kühle des Schattens singt, wird es verhaltener, wenn die aufgehende Sonne thematisiert wird, muss es hörbar strahlen, an einer Stelle ist er dramatisch und energiegeladen, an einer anderen scheint er sich fast hinter der Rolle zu verstecken. Der Sänger muss sich also einer breitgefächerten Farbpalette bedienen, um die Vielschichtigkeit dieses Charakters abzubilden.

Bernard Shaw bemängelte, dass Werther ein überaus passiver Charakter wäre.

Piotr Beczała: Das empfinde ich als sehr verkürzt. Klar, was die äußere Aktion betrifft, da scheint er – bis auf seinen Selbstmord – nicht sehr viel Aufregendes zu machen: Gleich am Beginn zum Beispiel kommt er auf die Bühne und beschreibt lediglich eine Viertelstunde lang, was er vorfindet. Typisch romantisch, könnte man sagen. Aber spätestens im zweiten Akt wird er, zumindest auf psychologischer Ebene, sogar sehr aktiv, in dem er Charlotte mit seinen Vorwürfen zu manipulieren sucht. In den fast 25 Jahren die mich der Werther begleitet, hat sich meine Meinung über seinen Charakter stark geändert. Zunächst hielt ich ihn, wie so viele, für einen unglücklich verliebten jungen Mann, der schöne Musik zu singen hat. Aber dieser Schein trügt! In Wahrheit ist er ein äußerst egozentrischer, egoistischer Mensch, der alles zu seinen Gunsten zupassen versucht, egal was er damit anrichtet. Genau genommen wünscht sich Werther gar kein Happy End mit einer Ehefrau Charlotte, fünf Kindern und einem kleinen bequemen Haus im Grünen. Nein! Für ihn ist das höchste der Gefühle der Tod in den Armen Charlottes – wir haben es also mit einer in den Wahnsinn gesteigerten Romantik zu tun, die mit Liebe sehr wenig gemein hat. Ob Charlotte an seinem Selbstmord zugrunde geht, ob sie ihr Leben lang ein Trauma davonträgt, das kümmert ihn nicht eine Sekunde lang. Mich als Sänger interessiert immer sowohl die Vorgeschichte einer Oper wie die Nachgeschichte. Das Publikum bekommt mittels eines Werkes meistens nur einen Ausschnitt einer Geschichte präsentiert – aber eine Handlung hängt ja nicht im schwerelosen Raum herum und wenn man sie als Teil eines großen Ganzen denkt, kommen ganz andere Dimensionen hinzu, erhalten die einzelne Charaktere ganz neue, spannende Konturen.

Es gibt in Wien den Satz: „Bei Massenet is a Masse net von Massenet“. Der Vorwurf lautet also, dass er sich bei anderen Komponisten etwas zu auffällig bedient hätte. Ein weiterer: Die Musik wäre passagenweise sehr süßlich.

KS Piotr Beczała: Wenn jemand im großen Stil fremde Melodien »zitiert« respektive weiterverwendet hat, dann war dies Richard Strauss – man muss diesbezüglich beispielsweise nur den Rosenkavalier oder Arabella etwas näher untersuchen. Aber bei den zwei Opern die ich von Massenet gesungen habe – Manon und eben Werther – sind mir keine Plagiate aufgefallen. Und was das Süßliche betrifft: Das Wort ist heute im Kunstbereich mit einer pejorativen Bedeutung aufgeladen, die ich nicht teile. Ein süßlich schmeckender Apfel ist ja per se auch nicht abwertend gemeint, warum gelten im Musiktheater andere Regel? Ja, lyrische Abschnitte in romantischen, französischen Opern von einer Belcantostimme vorgetragen sind süßlich. Das gilt für Gounod, das gilt für Bizet – denken wir etwa nur an das Micaëla/Don José-Duett – das gilt für Offenbach und genauso für Massenet. Heute herrscht eine zu große Angst vor Sentimentalität und eindeutigen Gefühlen.

An einem Mangel an Gefühlen leidet die Wassernixe Rusalka nicht, wohl aber an der Fähigkeit, diese in der Welt des Prinzen adäquat auszudrücken und auszuleben. Natur und Zivilisation, unterschiedliche Sehnsüchte und Ängste prallen unversöhnt aufeinander. Spürt der Prinz diese Widersprüche nicht? Was liebt er an Rusalka?

Piotr Beczała: Er wird von dem Wunsch getrieben, diese Widersprüche aufzulösen, sie miteinander zu vereinen. Der Prinz ist wohl müde von dem, was ihn tagtäglich auf seinem Schloss, in seinem eigenen gesellschaftlichen Kosmos umgibt. Nicht umsonst verlässt er regelmäßig die angestammte Umgebung, um im unberührten Wald in einen See einzutauchen, um in dem ihm Fremden frei zu werden. Im Gegensatz zum Publikum sieht er dieses Fremde, die sich in der zauberhaften Sphäre des Wassermanns, den Elfen, der Ježibaba manifestiert, nicht – er fühlt sie aber. Und in Rusalka meint er die von ihm so ersehnte mystische Welt endlich ergreifen zu können. Das eigene freudlos erscheinende Dasein soll nun durch sie bereichert, ergänzt, mit Leben erfüllt werden. 

Und mit der Fremden Fürstin möchte er sein Leben ebenfalls bereichern?

Piotr Beczała: Zumindest das ergänzen, was ihm bei Rusalka abgeht. Wie so oft im Leben, kann man nicht alles haben. Der Prinz zerbricht förmlich an dem Spagat: hier Rusalka und das Seelische, dort die Fürstin und das Sexuelle. Die eine liebt er, versteht sie aber nicht, die andere begehrt er körperlich ohne sie zu lieben.

Trotz dieser Zweigleisigkeit ist der Prinz aber kein Duca di Mantova …

Piotr Beczała: Auf keinen Fall, eher ist die Fürstin eine Duchessa di Mantova. Nein, der Prinz ist einfach vollkommen überfordert, ständig fehlt ihm etwas, das er nur sehr unkonkret benennen kann. Zugleich muss er auf Dinge reagieren, die nur in einer anderen Daseinsebene existieren. Dass er schließlich zu Rusalka in den Wald zurückkehrt, um sich mit ihr im wahrsten Sinn des Wortes zu vervollständigen, auch wenn das letztlich seinen Tod bedeutet, beweist nur, wie sehr er auf der Suche nach dem inneren Einklang ist. Eine komplexe Geschichte. Einerseits wird manches, was Sigmund Freud zeitgleich formulierte und zweifelsohne in der Luft lag in dieser Oper aufgegriffen, andererseits handelt es sich um eine typisch slawische Gefühls- und Ideenwelt …

… die wie ein roter Faden die Werke von Dvořák, Smetana, Tschaikowski, Moniuszko, Szymanowski usw. durchzieht?

Piotr Beczała: Es geht um die Sehnsucht nach etwas oft nur ungefähr Bestimmbaren. Sie schwingt in den Werken der von Ihnen Genannten mit. Eine Farbe, die vielleicht sogar unbewusst in die Partituren hineinverwoben, hineinkomponiert wurde. Außerdem schwebt das Unglück atmosphärisch ebenfalls stets mehr oder weniger im Hintergrund mit. 

In welcher Form ist der innere Konflikt des Prinzen im musikalischen Verlauf der Oper nachgezeichnet?

Piotr Beczała: Es zeigt sich eine natürliche Steigerung vom lyrischen Teil des ersten Aktes, in dem er für Rusalka erglüht zum sehr dramatischen zweiten Teil. Wir haben – nicht nur hier – eine deutliche Parallele zu Wagner, in diesem Fall zum Lohengrin. Sogar die Stimmlage und die Intervalle sind sehr ähnlich. Selbst das hohe C am Schluss des dritten Aktes stellt eine vergleichbare Herausforderung dar, wie die Gralserzählung: Nach dem dramatischen zweiten Akt kommen wieder lyrische Passagen und dann erst der Spitzenton – und wenn man den verhaut, ist auch das Davorgehende in der Wirkung automatisch beschädigt. Das muss man als Interpret wissen und dementsprechend an die Sache herangehen.

Auch der Prinz begleitet Sie schon seit einigen Jahren – allein an der Staatsoper waren Sie etliche Male mit dieser Partie zu erleben. Wann war das erste Mal? 

Piotr Beczała: Meinen allerersten Prinzen sang ich sogar ganz knapp vor der vielgerühmten, von Jossi Wieler und Sergio Morabito inszenierten Produktion bei den Salzburger Festspielen im Jahr 2008: Konzertant in Cleveland unter Franz Welser-Möst. Ein idealer Einstieg, um mit einer Rolle vertraut zu werden, zumal in Salzburg dann derselbe Dirigent am Pult stand.