Eine eindrucksvolle Rarität

Wenn in den letzten Minuten der Oper Chowanschtschina unter den mächtigen Klängen des Orchesters und dem gewaltigen Chor der russischen Altgläubigen, die im Begriff sind einen Märtyrertod am Scheiterhaufen zu erleiden, das große, den gesamten Bühnenraum einnehmende Gittergerüst – symbolisch verbrennend – langsam vor dem glutroten Hintergrund versinkt, findet sich im Zuschauerraum wohl kaum einer der diesem kolossalen musikalischen Gemälde russischer Geschichte nicht gebannt und tief berührt folgt. Breitet Mussorgski in seinem Boris Godunow die Tragödie eines Menschen, eines Individuums vor dem Publikum aus, so steht in seiner später entstandenen Chowanschtschina die Tragödie Russlands zur Diskussion: Unterschiedliche, einander gegensätzliche politische Kräfte meinen jeweils den richtigen Weg gefunden zu haben, um das Reich aus der Krise, in die es gegen Endes des 17. Jahrhunderts geschlittert war, hinauszuführen – konservative Militärs, liberale Strategen, ultrakonservative Sektierer, wendige Intriganten bekämpfen einander ohne Rücksicht auf Verluste und befinden sich am Ende ohne Ausnahme ebenso auf der Verliererseite wie das leidgeprüfte und leidgewohnte Volk. Fast zehn Jahre lang rang Mussorgski mit dieser Oper, in der er sich stilistisch von seinem bis dahin eingeschlagenen Weg entfernte und konsequent zu neuen musikalischen Ufern aufbrach – und das, obwohl viele seiner Weggefährten und Förderer mit diesem Schritt nicht einverstanden waren. Zwar ist die Tonsprache auch in der Chowanschtschina unverkennbar jene Mussorgskis (der in diesem Fall übrigens auch das Libretto selber dichtete), doch ist sie hier weicher, melodischer, weniger hieratisch. Außerdem steht im Gegensatz zum Boris Godunow mit der jungen und schönen Marfa auch eine positive Frauengestalt im Zentrum, die einen verzweifelten Ausgleich zwischen ihrem religiösen Fundamentalismus und ihrer unglücklichen Liebe zum Fürstensohn Andrei Chowanski sucht. Mit seiner Inszenierung möchte der russische Theatermacher Lev Dodin in dieser Produktion das Zyklische der Menschheitsgeschichte gewissermaßen im zeitlichen und örtlichen Mikrokosmos des Moskau um 1682 aufzuzeigen: Die Geschichte beginnt nach einer Zerstörungswelle quasi mit dem Versuch eines Neuanfangs, um am Schluss erneut in Schutt und Asche auszuklingen. Alles ist diesem Kreislauf unterworfen, der Reiche wie Arme, Mächtige wie Hilflose einem Gefängnis gleich zu umschließen scheint. Ein Ausbruch aus diesem Gefängnis ist, wenn überhaupt, dann nur sporadisch möglich und für den Betreffenden auf Dauer letztendlich wirkungslos.

In der aktuellen Aufführungsserie werden alle wesentlichen Rollen, die im Spiel der Macht zu agieren meinen ohne es in Wahrheit zu tun, abermals von den Premierensängern von 2014 gegeben: Ferruccio Furlanetto, Christopher Ventris, Herbert Lippert, Andrzej Dobber, Ain Anger und Elena Maximova lassen diese leider zu selten gespielte Mussorgski- Tragödie unter der Leitung von Michael Güttler abermals lebendig werden und sorgen damit für einen eindrucksvollen Saisonauftakt.

Andreas Láng


Chowanschtschina | Modest Mussorgski
8., 11., 14., 17. September 2017
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