Ein Verbrechen im Alptraum

Galt Paris bis 1850 unbestritten als die Welt-hauptstadt der Musik, so begann Wien diesen Rang gegen Ende des 19. Jahrhunderts immer deutlicher für sich zu beanspruchen: Einerseits zog eine beträchtliche Zahl an wesentlichen Musikern und Komponisten in die Donaumetropole, andererseits sorgten die Eröffnungen von Hofoper und Musikverein für ideale Aufführungsbedingungen. In dieser künstlerisch fruchtbaren Atmosphäre verbrachte der 1897 in Brünn geborene Erich Wolfgang Korngold die erste Hälfte seines Lebens. Mit Unterstützung seines Vaters Julius Korngold, des wohl wichtigsten deutschsprachigen Musikkritikers der damaligen Zeit, konnte die Öffentlichkeit sehr bald die ersten Kompositionen des hochtalentierten Wunderkindes kennen und schätzen lernen – Größen wie Gustav Mahler oder Richard Strauss beispielsweise zählten zu den ehrlichen Bewunderern des noch nicht 13-Jährigen. Entsprechend rasch öffneten sich für ihn auch die Pfortender Hofoper: Mit Hilfe seines Lehrers Alexander von Zemlinsky brachte Erich Wolfgang Korngold 1910 das pantomimische Ballett Der Schneemann im Haus am Ring zur Uraufführung – Dirigent war übrigens der spätere Direktor des Hauses Franz Schalk. Sechs Jahre darauf, mitten im Ersten Weltkrieg, folgten die zuvor in München gezeigten Operneinakter Der Ring des Polykrates und Violanta und bescherten dem aufstrebenden jungen Komponisten einen unbeschreiblichen Erfolg – und der Umstand, dass sich namhafte Sängerinnen und Sänger wie Maria Jeritza, Alfred Piccaver, Lotte Lehmann und Selma Kurz um Auftritte in diesen Werken bemühten, unterstrich zusätzlich den Stellenwert, den Korngold in der Kunstwelt einnahm. (Nur ganz nebenbei: Selbst am Wiener Burgtheater wurde eine Produktion von Shakespeares Viel Lärm um nichts, für die Korngold die Schauspielmusik geschrieben hatte, rund 80 Mal aufgeführt.)

Den vermutlich größten Erfolg errang Korngold im Musiktheater jedoch mit seiner abendfüllenden Oper Die Tote Stadt. An diesem Stück, das seit einigen Jahrzehnten wieder die Spielpläne der internationalen Bühnen ziert, arbeitete der junge Komponist für seine Verhältnisse überdurchschnittlich lang: Vier Jahre vergingen zwischen dem Entstehen der ersten Skizzen und der Uraufführung. In dieser Zeit änderte sich der Titel des Werkes, das grundlegende Handlungskonzept und der Librettist. Als ursprüngliche literarische Basis fungierte der populäre Fin de Siècle Roman und das daraus entstandene Schauspiel Bruges la Morte (Das tote Brügge) des belgischen Symbolisten Georges Rodenbach. Der junge Korngold lernte das Schauspiel in der deutschen Fassung des Bernard-Shaw-Übersetzers Siegfried Trebitsch kennen – und lieben. Vom ersten Momentan fühlte er sich hingezogen zur dunklen Atmosphäre dieses „Venedig des Nordens“, wie Brügge gerne bezeichnet wird, zu den seelischen Konflikten der männlichen Hauptfigur, zur „Grundidee des Kampfes zwischen Leben und Tod, zum Kampf der erotischen Macht der lebenden Frau gegen die nachwirkende seelische Macht der Toten“, sodass Korngold – ohnehin auf der Suche nach einem neuen Opernsujet – beschloss Bruges la Morte zu vertonen.

Zunächst entwarf er das komplettes Szenario für eine einaktige Oper, wurde dann aber vom Schriftsteller Hans Müller, dem vorgesehenen Librettisten, überredet, das Projekt auf drei Akte auszuweiten. Müller, der schon das Textbuch zur Violanta geschrieben und aus jener Zeit den eminenten Einfluss von Vater Julius auf seinen Sohn und dessen „Störungen“ (wie Arthur Schnitzler in sein Tagebuch notierte) unmittelbar miterlebt hatte, wollte sich aber genau dieser väterlichen Tortur offenbar nicht noch einmal unterziehen und trat letztlich von seiner Aufgabe zurück – ganz offiziell jedoch auf Grund „eigener Theaterarbeiten“. Wie dem auch war, Erich Wolfgang Korngold stand mit einem Mal ohne Librettisten da. Dieser Misere half nun, wen wundert es, in solch einer Situation, der alte Korngold persönlich ab. Er sprang gewissermaßen in die Bresche und schrieb gemeinsam mit seinem Sohn das Textbuch, wenn auch unter dem Pseudonym Paul Schott, – wohl um seinen von vielen oft kritisierten Einfluss nicht noch zusätzlich zur Schau zu stellen. (Dieses Pseudonym setzt sich übrigens aus dem Namen der männlichen Hauptfigur des Stückes sowie des Verlagsnamens zusammen beidem Korngold seine Werke herausbrachte.)

Der ursprünglich vorgesehene Titel der Oper – Der Triumph des Lebens – unterstreicht vielleicht am besten den wesentlichen Unterschied zwischen dem Korngoldschen Opus und der Rodenbach-Vorlage: Handelt es sich im Falle von Bruges la Morte um eine Tragödie in der die Hauptfigur seine Geliebte tatsächlich ermordet, so wird dieses Verbrechen in der Oper nur in einem Alptraum vollzogen und somit gewissermaßen zu einem psychologischen Reinigungs- und Befreiungsakt stilisiert, durch den es der Hauptfigur möglich wird, die geliebte verstorbene Ehefrau endlich und für immer loszulassen. Es ist gut möglich, dass Julius Korngold dieses Happy End bevorzugte, zumal die Gattung Oper nach seiner Anschauung „Menschen in schwierigen Zeiten wiederbeleben sollte“ und ein letaler Schluss genau dieser Einstellung zuwidergelaufen wäre.
Der enorme Triumph, den Erich Wolfgang Korngold mit der Toten Stadt – wie das Werk schlussendlich benannt wurde – errang, kündigte sich bereits zwei Monate vor der Uraufführung an – quasi als Nominierung zum Welterfolg: Der Komponist erhielt die Möglichkeit, die Oper dem überaus kritischen Giacomo Puccini am Klavier vorzuspielen, der daraufhin seinen tiefsten Respekt bekundete und einige Zeit später Korngold sogar mit dem Ausspruch „Vorwärts mein teurer Erich, der Weg ist Ihnen geebnetzu den Sternen“, beglückt haben soll. Der Umstand, dass die Uraufführung am 4. Dezember 1920 an zwei Orten zugleich stattfand – in Hamburg und in Köln – machte die Sensation schließlich perfekt: Die brillante Instrumentation, die kühnen Harmonien, die eigenartige Atmosphäre des Stückes, die durch den unmerklichen Wechsel zwischen Traum und Wirklichkeit hervorgerufen wird und nicht zuletzt die beiden Ohrwürmer „Glück, das mir verblieb“ sowie „Mein Sehnen, mein Wähnen“ sorgten für nicht enden wollende Ovationen. Kein Wunder, dass die Tote Stadt nach dieser Doppelpremiere in kürzester Zeit eine Bühne nach der anderen eroberte und der Name Korngoldin aller Munde geführt wurde.

Doch der Wandel des Geschmackes, die Attraktion neuer musikalischer Sprachen bereitete dem Siegeszug nach einigen Jahren ebenso schnell wieder ein Ende, wie er begonnen hatte. Sowohl die Tote Stadt als auch die letzten Korngold-Opern mussten der damaligen zeitgenössischen Form des Musiktheaters, etwa Kreneks Jonny spielt auf, weichen – erst nach dem Tod des Komponisten setzte die dauerhafte Auferweckung der Toten Stadt ein. Und so passt ein Werbetext, den ein deutscher Taschenbuchverlag in den 1980er-Jahren für einem ehrbändige Ausgabe der Werke des zu Lebzeiten ungemein populären Romanciers Jules Verne verwendete deckungsgleich auch für Korngold und seine Tote Stadt: „Er ist wieder da! Er hat das kritische Jahrzehnt, das nach dem Tod das Werk jedes Autors bedroht, umschifft!“ Zwar handelt es sich nicht bloß um ein Jahrzehnt, sondern um rund ein halbes Jahrhundert, das Wiedererwachen des Publikumsinteresses ist auch vielleicht nicht mehr so stürmisch wie die ursprüngliche Begeisterung, dafür jedoch andauernder.

Szenenbild Die Tote Stadt

UND WIEN?

Nur fünf Wochen nach der überaus erfolgreichen Doppeluraufführung der Toten Stadt kam es am 10. Jänner 1921 zur langvorbereiteten und erwarteten Wiener Erstaufführung an der Wiener Staatsoper. Für die Besetzung war das Beste gerade gut genug: Musikdirektor Franz Schalk übernahm die musikalische Leitung, als Marietta/Marie konnte Maria Jeritza und für die schwierige Partie des Paul Karl Aagard Østvig gewonnen werden. Der überraschend mäßigen Generalprobe folgte dann eine umso hervorragendere Premiere. Und am Ende der Vorstellung durfte der damals erst 23-jährige Komponist auch mehrfach alleine vorden Vorhang treten und den Jubel des Publikums entgegen nehmen.

Mit dem Beginn der Korngold-Renaissance in den siebziger Jahren nahm weltweit auch die Anzahl der Tote-Stadt-Produktionen zu. Eine, die größere Aufmerksamkeit erregte, hatte 1983 an der Deutschen Oper Berlin Premiere. Für die Inszenierung zeichnete Götz Friedrich verantwortlich. Wenig später übersiedelte die Produktion nach Los Angeles, um am 22. Dezember 1985 an der Wiener Staatsoper herauszukommen. Obwohl es bis 1989 in Wien nur zu acht Reprisen kam, sah man im Allgemeinen für das Stück und damit für Korngold dennoch eine glorreiche Zukunft am Horizont aufscheinen. Nach 15 Jahren Pause folgte in Koproduktion mit den Salzburger Festspielen in der Regie von Willy Decker am 12. Dezember 2004 die umjubelte Premiere der bislang dritten Toten Stadt im Haus am Ring. Binnen kürzester Zeit waren alle angesetzten Vorstellungen ausverkauft und selbst die allerbesten Erwartungen, hinsichtlich der Nachfrage des Publikums wurden weit übertroffen.

KEIN WIRKLICHER ORT

Für Willy Decker, den Regisseur der aktuellen Produktion, ist die Tote Stadt kein wirklicher Ort, sondern ein tiefer, abgedunkelter Raum, in dem die Trauernden mit den Schatten ihrer Toten ein Scheindasein führen. Dieser Ort, so Willy Decker, wäre demnach überall dort, wo vitale Trauer zu steinerner Verzweiflung erstarrt ist, wo Schmerz sich zu Lebensverneinung und Lebensverweigerung wandelt. Ein totenstiller, blinder Winkel der menschlichen Seele, wo die Untröstlichen Zuflucht finden vor dem unbarmherzigen und vulgären Anspruch des Lebens, das über dem Tod des geliebten Menschen einen neuen Tag, ein neues Leben heraufdämmern lässt, als ob nichts geschehen wäre. Camilla Nylund, die im Jänner in Wien erstmals in der Doppelrolle Marietta/Marie zu hören sein wird, beschreibt die Musik in der Toten Stadt als einen „einzigen Rausch in dem man die ganze jugendliche Energie von Korngold spürt“, und hebt begeistert hervor, „dass es dem Komponisten auf einzige Art und Weise gelungen war, den Typus, den Charakter der einzelnen Figuren auch musikalisch plastisch werden zu lassen.“ So wäre ihrer Meinung nach „das Impulsive, Emanzipierte, dieses Das-Leben-in-vollen-Zügen-Genießen“ der Tänzerin Marietta „eins zu eins in der Partitur nachempfunden.“ Voll des Lobes für die Musik ist auch Janina Baechle, die wieder als Brigitta – sie hat die Rolle zuletzt 2008 an der Wiener Staatsoper gesungen – zurückkehrt. Baechle empfindet sie als „gleichzeitig modern und hoch romantisch, opulent, aber in keinem Moment kitschig.“ Darüber hinaus verweist Baechle auf die außergewöhnliche Dramaturgie des Beginns der Oper, an dem „Brigitta gewissermaßen die Funktion einer Ouvertüre übernimmt, über die Vorgeschichte aufklärt und das Motto des Stückes in dem liedhaften ‚Was das Leben ist, weiß ich nicht… hier aber, hier ist Liebe!‘ zusammenfasst.“


Szenenbild Die Tote Stadt

INHALTSANGABE

Paul lebt in Brügge nur noch dem Gedenkenan seine tote Frau Marie. In einem Zimmer seines Hauses, das für ihn zur „Kirche des Gewesenen“ wurde, verwahrt er alle Dinge auf, die ihn an sie erinnern. Eines Tages erzählt ihm sein Freund Frank von einer Unbekannten, die Marie völlig gleicht. Es ist Marietta, die als Tänzerin in Brügge gastiert – sie nimmt Pauls Einladung ihn zu besuchen an. Als er sie dann in die Arme nehmen möchte, entwindet sie sich ihm und geht zur Probe. In einem Traum durchlebt Paul daraufhin mit Marietta eine Liebesnacht, die in ihm Schuldgefühle hervorruft. Als sie ihn verhöhnt, erwürgt er sie… Nachdem Paul aus diesem Traum erwacht, kann er endlich loslassen und beschließt, Brügge, die Stadt des Todes, zu verlassen.

VATER-SOHN KONFLIKT

1913 schrieb Karl Kraus im Zusammenhang mit Erich Wolfgang Korngold in seiner pointiert sarkastischen Weise: „Sämtliche ausübende Musiker wissen von der Güte des Alten ein Lied zu singen, wenn sie die Güte haben, ein Lied vom Jungen zu singen“, und von Richard Strauss sind dies bezüglich gleich zwei, wenn auch vollkommen konträre Bemerkungen überliefert. Nummer 1: „Bringen wir Korngolds Violanta. Ich verlange dafür, dass der alte Julius unverzagt weiter auf mich schimpft, damit ich nicht in den Ruf komme, ich hätte der Aufführung nur zugestimmt, um den Alten mir geneigt zu machen.“ Nummer 2: „Im Dezember, lieber Erich, gäb’s vielleicht noch eine Violanta, wenn Ihr Herr Papa gnädigst …“ All diese Feststellungen deuten auf den komplexen innerfamiliären Hintergrund der Korngolds. Hie der einflussreiche Musikkritiker der Neuen Freien Presse, der das Genie des Sohnes erkennend sein ganzes Leben in den Dienst der Förderung eben dieses Genies stellte und seinen Einfluss in der Musikwelt mit sanftem und weniger sanftem Druck geltend machte, da der gefeierte von Fachkollegen und Publikum gleichermaßen gefeierte Komponist, der das Leben mit dem Vater später als Hölle apostrophierte. Von außen und im Nachhinein ist es natürlich schicker, über Väter wie Leopold Mozart oder Julius Korngold den Stab zu brechen. Ob aber Erich Wolfgang Korngold wirklich durch seinen zweifelsohne dominanten Vater „kaum Gelegenheit hatte, sein großes Talent in ruhiger Entwicklung wachsen zulassen“, wie es der Schauspieler Walter Slezak bedauerte, oder ob der Junge ohne den Alten verkommen wäre, lässt sich in Wahrheit weder verifizieren noch falsifizieren. Tatsache ist: Vater und Sohn haben im Laufe ihres langen gemeinsamen Lebens viel aneinander gelitten.

Andreas Láng


Die Tote Stadt | Erich Wolfgang Korngold
9., 12., 15., 20. Jänner 2017

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