Philippe Jordan mit Philippe Sly (Leporello) bei der ersten Bühnenprobe zu Don Giovanni © Peter Mayr

EIN UNGLAUBLICHES CRESCENDO in einer nachtschwarzen Komödie

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Die aktuelle Don Giovanni-Neuproduktion folgt der – an der Staatsoper ebenfalls gängigen – sogenannten Mischfassungs-Tradition. Das heißt, dass die Prager Uraufführungsversion durch die für Wien nachgereichte »Dalla sua pace«-Arie Don Ottavios und Elviras »Mi tradì« ergänzt wird. Für die Wiener Erstaufführung komponierte Mozart allerdings noch ein zusätzliches Duett Zerlina-Leporello, das man praktisch nie zu hören bekommt. Auch diesmal nicht – warum?

PHILIPPE JORDAN Wenn ich dieses Duett geschrieben hätte, wäre ich vermutlich unheimlich stolz darauf (lacht). Aber das übliche Niveau der Mozart’schen Schöpfungen erreicht diese kleine Nummer in Wahrheit nicht. Und sie würde die viel witzigere Leporello-Arie ersetzen, um die es mir sehr leidtäte. Außerdem stellt sich die Frage, was das Duett dramaturgisch soll: ein spürbar retardierendes Element, das nirgendwohin führt und nichts Neues bringt. Anders liegt der Fall bei »Dalla sua pace« und »Mi tradì« – das sind Kleinodien, die sich sehr früh zu richtiggehenden Schlagern entwickelt haben. Ich bin sicher, dass ich für eine auf wenige Aufführungen beschränkte Produktion in einem Stagionehaus oder bei Festspielen die Prager-Fassung vorziehen würde, schließlich handelt es sich dabei um das Original. Aber in einem Repertoirehaus wie der Wiener Staatsoper kann und darf man auf diese beiden großartigen späteren Arien nicht verzichten: Das Publikum erwartet sie regelrecht und im gesamten Fluss des Handlungsverlaufes stellt vor allem Don Ottavios »Dalla sua pace« einen ausgleichenden Ruhepunkt dar, der dann sogar vergessen macht, dass die Proportionen des zweiten Aktes durch diese Einfügungen etwas aus dem Gleichgewicht geraten.

Das Weglassen der letzten Szene, wie dies sogar Gustav Mahler und so manch prominenter Dirigent nach ihm hier im Haus am Ring praktiziert hatte, stand aber nie zur Diskussion?

PJ Natürlich hat es einen gewissen dramatischen Effekt, wenn die Oper mit der Höllenfahrt Giovannis – wie immer man sie auch erz.hlt – aufh.rt. Aber der nachfolgende Dur-Epilog ist deshalb so wichtig, weil er zeigt, dass Giovanni letztlich nicht verschwunden ist. Giovanni hat im Laufe der vom Publikum miterlebten Geschichte alle Menschen in seiner Umgebung verführt, aus dem Lot gebracht, negativ beeinflusst, mit seinem Gift verwundet – und das hat bleibende Folgen. Ich finde es übrigens sehr bezeichnend, dass Mozart ganz am Schluss im Orchester noch eine D-Dur-Tonleiter hinunterrast. Damit symbolisiert er gewissermaßen: Don Giovanni hat sie allesamt in die Hölle mitgerissen. Insbesondere das sehr schnelle, im sotto voce angestimmte, gemeinsam gesungene »Questo è il fin di chi fa mal« [»So ist das Ende jener, die Böses tun«] atmet einen unbarmherzigen Fundamentalismus, zeigt schonungslos auf, dass diese im wahrsten Sinn des Wortes übriggebliebenen kein besonders hehres humanistisches Gefühl mehr umtreibt, sondern die Genugtuung der Rache als Trost herhalten muss. Masetto und Zerlina haben es immerhin geschafft, wieder zusammenzufinden, in puncto Beziehung sogar gestärkt und gereift aus allem hervorzugehen – das merkt man spätestens bei Zerlinas zärtlichem »Vedrai, carino«. Aber alle anderen sind definitiv vollkommen kaputt – und diese spürbaren, unumkehrbaren Auswirkungen werden in diesem Schluss-Sextett als Conclusio aufgezeigt.

Hoffnungslos kaputt?

PJ An eine tragfähige gemeinsame Zukunft von Donna Anna und Don Ottavio glaube ich nicht, da nutzt das von Anna eingeforderte Trauerjahr wenig. Der vom Gift ausgezehrte Leporello dürfte in diversen Wirtshäusern zum Alkoholiker mutieren und Elvira, mit Leporello das vielleicht größte Opfer Don Giovannis, bleibt – ob im Kloster oder außerhalb – nur mehr eine innerliche Leere. Nichtsdestotrotz handelt es sich um eine komische Oper.

PJ Richtig. Don Giovanni ist zweifelsohne eine Komödie, wenn auch eine schwarze mit großer Fallhöhe. Ein Nachtstück sozusagen, in dem das Komische stets präsent bleibt, aber die Schattenseiten und Abgründe ebenfalls bestimmend sind. 

Und inwieweit zeigt sich das Komische in der Musik der Titelfigur?

PJ Giovanni ist, und das ist ein Teil seines Erfolges, ein Chamäleon, der sich immer an das jeweilige Gegenüber anpasst, der wie ein Magnet alle anderen anzieht und diese benutzt. Er hat eine andere Musik für Zerlina als für die Zofe, eine andere für Donna Anna als für Elvira, usw. Aber diese Musik ist nicht per se komisch – das ist anders als bei Puccinis Gianni Schicchi oder Verdis Falstaff. Das Witzige, Sarkastische, Humorvolle findet sich im Subtext, im Mehrdeutigen, Doppelbödigen des genialen Da Ponte-Librettos und nicht zuletzt in den großartig gestalteten Secco-Rezitativen. Lediglich in seiner Verkleidung als Leporello streift sich Don Giovanni im Musikstil Buffoneskes über, aber auch da liegt das eigentlich Komische in seiner Wortwahl und Eloquenz. 

Apropos Falstaff: Ist Don Giovanni die jüngere Ausgabe des alten, fetten Möchtegern-Frauenhelden? So wie dieser ist Don Giovanni schließlich ebenfalls der Motor, der alles in Bewegung hält. Das Salz in der Suppe.

PJ Nein, das ist er nicht. Denn bei aller Intrige bleibt Falstaff ein Romantiker. Er dichtet Briefe, verliebt sich und sieht seine eigenen Fehler ein. Giovanni hingegen entwickelt seine Energie auf Kosten der anderen und hat ganz eindeutig Freude und Spaß am Destruktiven. Das Glück, die Jugend des Hochzeitspaares Masetto-Zerlina beispielsweise reizt ihn. Er möchte daran teilhaben und zugleich alles bewusst zerstören. Und als Leporello in der Friedhofsszene erfährt, dass seine eigene Frau möglicherweise gerade von Giovanni verführt wurde, so kennt die boshafte Heiterkeit des Titelhelden angesichts der erschrockenen Verzweiflung seines Dieners keine Grenzen.

In der Don Giovanni-Rezeption haben bedeutende Musiker, Literaten und Philosophen Bewunderung für das Werk erkennen lassen. Tschaikowski und Brahms etwa zeigten sich vor allem von der musikalischen Konzeption beeindruckt.

PJ Wenn man die Partitur studiert, zeigt sich in der Tat sowohl im Detail wie im großen Ganzen ununterbrochen Verblüffendes. Wie geschickt doch alles gebaut ist und zueinander in Beziehung steht! Die Disposition der Tonarten, die ideale Abfolge von vorwärtsdrängenden Teilen und den notwendigen Ruhepunkten gemahnt an den goldenen Schnitt in der Architektur. Und wie raffiniert Mozart etwa eine  musikdramaturgische Klammer schafft durch Verwendung desselben verminderten Septakkordes an der Stelle, an der der Komtur im ersten Akt den tödlichen Stich erhält und an jener im zweiten Akt, bei der dessen steinernes Standbild eintritt. Dass Leporello ferner in seiner Verteidigungs-Arie im zweiten Akt dieselbe Melodie aufnimmt, die Donna Anna und Zerlina abwechselnd im Sextett davor angestimmt haben, ist ebenso geistreich, wie die originelle Tatsache, dass Giovanni im Terzett am Beginn des zweiten Aktes die Melodie des folgenden Ständchens anstimmt: Dieselbe Musik, aber wie unterschiedlich gefärbt und orchestriert, da sie an verschiedene Personen gerichtet ist! Oder: Wenn Mozart am Ende der ersten Elvira-Arie, Don Giovanni sein »Signorina« über den letzten Orchester-Akkord weitersingen und ihn damit aus der instrumentalen Deckung heraustreten lässt, sodass er von Elvira zwangsläufig »gesehen« werden muss, so ist das eine äußerst kreative musikalische Beschreibung eines szenischen Vorganges.

Sie sprachen von der Disposition der Tonarten – gibt es diesbezüglich eine Querverbindung zur ersten Da Ponte-Oper, zu Nozze di Figaro?

PJ Giovannis zentrale Tonart ist das D-Dur respektive das ins nächtliche Pendant gewandelte d-Moll. Und D-Dur vermittelt einerseits etwas Heiteres, Strahlendes, andererseits aber das Männlich-Draufgängerische. Kein Wunder, dass Mozart sie sowohl Don Giovanni als auch dem Grafen Almaviva im Figaro zugesellt. Da gibt es also eine eindeutige und bewusste tonartendramaturgische, persönlichkeitsbeschreibende Parallele. Das d-Moll und das D-Dur der Don Giovanni-Ouvertüre zeichnet übrigens schon gleich von Anfang an das Porträt des Titelhelden: Natürlich nimmt der dramatische Beginn die Komturszene des zweiten Aktes vorweg, aber da der Komtur gewissermaßen Teil Don Giovannis ist, wird neben dem Spielerischen zugleich auch das Abgründige dieser Persönlichkeit aufgezeigt.

Es ist auffallend, dass Mozart die Ouvertüre ohne Unterbrechung in die erste Szene münden lässt.

Mozart experimentierte immer wieder mit Übergängen zwischen einzelnen, für sich stehenden Teilen. Er versuchte formale Stereotypen zu überwinden und hat damit eine Entwicklung vorangetrieben, die den Weg zur durchkomponierten Oper beschleunigte. Das kündigt sich unter anderem schon in der Entführung aus dem Serail an, wo die Ouvertüre ebenfalls nahtlos in die erste Szene wechselt und erreicht bekanntlich einen ersten Höhepunkt in den ausgedehnten Kettenfinali von Nozze di Figaro. Im Don Giovanni wird diese Idee weitergeführt – nicht nur folgen die Finali demselben Muster wie im Figaro, es werden darüber hinaus größere Abschnitte noch klarer zusammengefasst. Das zeigt sich schon gleich am Beginn: Aus der Ouvertüre entwickelt sich die erste Szene, in der sich Leporello dem Publikum sinngemäß damit vorstellt, dass er eigentlich auf der Stelle verschwinden möchte. In diese absolute Buffo-Situation bricht mit einem Mal die dramatische Auseinandersetzung zwischen Donna Anna und Don Giovanni hinein, der wiederum der Komtur mit seinem Dazwischentreten eine neue Wendung gibt. Doch mit dessen Tod ist es immer noch nicht vorbei, denn es geht gleich mit zwei Secco-Rezitativen weiter, denen sich attacca subito ein Accompagnato-Rezitativ anschließt, aus dem wiederum ein Duett entwächst. Innerhalb von fünf Minuten passiert also immens Unterschiedliches, wodurch wir aus einer komischen Ausgangslage unerwartet in eine furchtbare Situation kippen. Ähnliches finden wir später erneut: Das Duett Giovanni/Zerlina »Là ci darem la mano. entwickelt sich ebenso organisch aus einem Rezitativ, wie die Register-Arie Leporellos. Und ganz grundsätzlich gilt dasselbe wie im Figaro: Der erste Akt weist ein unglaubliches Crescendo und Accelerando auf.

Ein besonderer Höhepunkt im ersten Akt ist sicherlich das Fest bei Don Giovanni mit den drei unterschiedlichen Orchestern, die drei rhythmisch unterschiedliche Tänze zugleich spielen. Wollte Mozart an dieser Stelle zeigen, was er Kompositorisch draufhat oder die Atmosphäre am Hof eines Adeligen wiedergeben oder das Chaotische der Situation musikalisch widerspiegeln?

PJ Weder noch. Diese drei Tänze haben einen rein dramaturgischen Grund. Don Giovanni geht es darum, Zerlina von ihren Mitstreitern zu absentieren, um ungestört an sie herankommen zu können. Er plant es schon ganz strategisch in der Champagner-Arie, wenn er namentlich drei Tänze nennt, die »ganz ohne Ordnung« zu erklingen haben, damit er in diesem Gewusel seine Eroberungs-Liste erweitern kann: Ein Menuett (für die drei Masken), eine Follia (eigentlich ein Kontratanz mit dem Giovanni Zerlina entführt) und eine Alemanna (mit dem Leporello versucht, Masetto abzulenken). Und genau das gelangt beim Fest dann auch zur Ausführung. Dass Mozart Freude daran gehabt hat, so etwas zu schreiben, kann man freilich mit Sicherheit annehmen. 

Die aktuelle Besetzung weist mit Patricia Nolz als Zerlina sowie mit Kate Lindsey als Donna Elvira zwei Mezzosoprane auf.

PJ Zu Mozarts Zeiten gab es die heutige Unterscheidung zwischen Sopran und Mezzo gar nicht: Alle waren Soprane. Wir fanden es auf jeden Fall schöner, wenn Elvira eine eindeutig andere Stimmfarbe hat als Donna Anna und Zerlinas niedrigerer gesellschaftlicher Stand durch die tiefere Stimme ausgedrückt wird. Das wird bei Despina übrigens genauso werden. Also keine Blondchen-Soubrette.

Sie haben im Zusammenhang mit der Nozze-Wiederaufnahme vergangene Saison erwähnt, dass sie das Werk heute durchschnittlich schneller dirigieren als früher. Trifft das auch auf den Don Giovanni zu?

PJ Absolut! Ein rascher Mozart ist besser als ein zu langsamer Mozart – aber nur dann, wenn man die oben erwähnten Ruhepunkte beachtet.

DON GIOVANNI

5. (Premiere ohne Publikum / live: Stream und auf .1 / live zeitversetzt: auf ORF III), 13. (Premiere vor Publikum) / 14. / 17. / 20. Dezember 2021

Musikalische Leitung Philippe Jordan
Inszenierung Barrie Kosky
Bühne & Kostüme Katrin Lea Tag
Licht Franck Evin
Dramaturgie Sergio Morabito & Nikolaus Stenitzer

Don Giovanni Kyle Ketelsen
Komtur Ain Anger
Donna Anna Hanna-Elisabeth Müller
Don Ottavio Stanislas de Barbeyrac
Donna Elvira Kate Lindsey
Leporello Philippe Sly
Zerlina Patricia Nolz
Masetto Peter Kellner

Die Produktion Don Giovanni wird gefördert von 

Das Gespräch führte Andreas Láng Bild Peter Mayr