Ein Rabe namens Blacky
In einer Hotellobby in Wien, die Kaffeemaschine surrt, der Concierge murmelt. Doch was ist das? Plötzlich flirren silbrige Koloraturtöne durch den Raum, gleich danach ein baritonales Gurren. Spitzen blitzen auf, kräftig betonte Silben folgen, ausdrucksstarke Klangtrauben. Und eine Dame beeindruckt mit einprägsamen Blicken, Gesten. Eine Performance? Eine Probe? Nein, es ist die faszinierende Sängerin Elena Vassilieva, Mitwirkende der Animal Farm-Premiere: sie gibt ein Interview. Und wo die Worte nicht mehr ausreichen, greift sie kurzerhand zu anderen Ausdrucksmitteln: Gesang und Darstellung.
Viele Jahre ist es her. Da fragte eine Sopranistin, gleichermaßen bewandert im internationalen »klassischen« Repertoire zwischen Cio-Cio-San und der Tannhäuser-Elisabeth als auch in der zeitgenössischen Musik, beim Komponisten Alexander Raskatov an, ob er nicht ein neues Stück für sie schreiben könne? Ja, seine Antwort. Das könne er. Schließlich wusste er um ihre Kunst, er kannte ihre Interpretationen der Werke von großen Komponistenkollegen wie Alfred Schnittke und Edison Wassiljewitsch Denisov, er kannte ihre Stimme. Und machte sich an die Arbeit. Das neue Werk sollte etwas Besonderes werden, nicht nur reiner Gesang. Sondern: Gesang und Schlagwerk, dargebracht von nur einer Person. Und so entstand Ritual, 1998 im musikalischen Wunderland Lockenhaus uraufgeführt. Die Sängerin, der Raskatov das Stück auf die Stimmbänder schrieb, war natürlich Elena Vassilieva, heute die Ehefrau des Komponisten. »Ein spektakuläres Werk«, erzählt sie. »Aber man braucht dazu eine spezielle Gesangstechnik.« Es erklingen nämlich einerseits Soprankoloraturen, andererseits aber auch tiefe, charakteristische, »grummelnde« Töne. Die erforderliche Technik, die hat Vassilieva von einem Schamanen erlernt: dabei werden nicht die Stimmbänder selbst, sondern die Seitenstränge angesprochen. Dank dieser Methode gelingen atemnehmende Stimmsprünge, raue, baritonale Klänge stehen neben heftigen Sopranattacken.
Musikalische Elemente, die auch die Klangwelt des Blacky in Animal Farm prägen. Vassilieva: »Eine herausfordernde Partie! Nicht nur, weil Blacky praktisch die ganze Zeit auf der Bühne ist. Sondern auch, weil man dazu die eben angesprochene gesangliche Polytechnik braucht: eigentlich sind es zwei Stimmen in einer Person.« Rein von den Noten her wäre die Partie für Vassilieva nicht so schwierig, kann sie doch auf ihr absolutes Gehör vertrauen. »Ich schaue in die Noten und schon höre ich die Musik, zum Einstudieren brauche ich eigentlich gar kein Klavier.« Aber die Komplexität der Rolle, die Geschwindigkeit des Umschaltens, die geforderte Vielfalt, das alles macht die Partie außerordentlich. »2006 führte ich hier in Wien im Konzerthaus, begleitet von Pierre-Laurent Aimard, ein Werk von György Kurtág auf: Bornemisza Péter mondásai (Die Sprüche des Péter Bornemisza), und das auf Ungarisch. Ein extrem herausforderndes, 40minütiges Stück, nur eine Sängerin und ein Klavier. Ich dachte: Das ist das Schwierigste, das ich machen kann. Heute weiß ich: Blacky fordert noch mehr.«
Wer aber ist Blacky? Zunächst einmal ein Rabe. Mit anderen Worten: ein intelligentes Tier, das sich stets zu helfen weiß. In George Orwells Erzählung repräsentiert der Rabe die Kirche, in der Oper wurde die Figur deutlich erweitert. Nun ist Blacky ein zentraler Charakter, präzise gezeichnet, unheimlich. »Eine komplexe Figur. Blacky beobachtet alles und jeden, er fragt viel, gibt aber keine Antworten. Die Fragen sind wie eine Autopsie. Er ist gut erzogen, weiß, wie er mit dem Diktator Napoleon zu sprechen hat und wie mit den anderen. Ihn interessiert nur die Crème de la Crème. Sein Plan ist es, so bald wie möglich Squealers Stelle einzunehmen. Und dann will er die Position von Napoleon. Blacky ist ein Taktiker, ganz ohne Angst zu töten.« Diese Glätte und das Unpersönliche zeigen sich schon im Kostüm. Die Figur ist rabenschwarz gekleidet, »sehr elegant, die Schuhe, die Handschuhe, alles außerordentlich schön, alles Haute Couture«. Die Sonnenbrille, die er immer trägt? »Das hat mit seinem Charakter zu tun, niemand kann ihn durchschauen, hinter die Fassade blicken.« Auch seine Sprache ist technisch, die Persönlichkeit kaum zu greifen: »Er ist polystrukturell. Ein pathologischer Charakter.« Und im Inneren, so Vassilieva, gänzlich leer. Und: Die Figur wurde vom Komponisten auch als Kritik an der kirchlichen Welt Russlands verstanden. Gleichzeitig aber hat Blacky etwas von einem Geheimdienst, vom KGB. Hier spielen auch autobiographische Züge hinein, wie Vassilieva schildert: »Als Jude litt Raskatov in Russland, seine Eltern, die Ärzte waren, wurden in der Stalin-Zeit verfolgt. Und ich denke, dass er einer ganzen Reihe solcher Raben begegnete.« Blacky wird übrigens Napoleon nachfolgen, meint Vassilieva. »So wie im heutigen Russland. Viele Blackys! Leider!«
Angeregt scharrt sie in den Startlöchern, denn gleich nach dem Interview geht es zur Probe. »Mit dieser Rolle habe ich viel experimentiert, bei der Uraufführung in Amsterdam – und auch jetzt. Denn in Wien gibt es eine teils andere Besetzung, das führt zu neuen Konstellationen.« Doch experimentieren, Neues zu entdecken ist pures Glück für die Sängerin: »Wissen Sie, ich bin eine ewige Studentin und glücklich, wenn ich etwas lernen kann. Das war in meiner Jugend als Schülerin von Elisabeth Schwarzkopf, die wie eine Mutter für mich war, so – und das ist bis heute so geblieben!«