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Orpheus bezaubert Bäume und Tiere mit seinem Leierspiel. Holzschnitt zum X. Buch von Ovids Metamorphosen. Les XV. livres de la Metamorphose, Paris (D. Janot) 1539.

EIN ORT FÜR ORPHEUS

Karten & Information »L'Orfeo«

Claudio Monteverdis Orfeo wurde lange Zeit und wird bis heute häufig als die »erste Oper« bezeichnet. Die musikwissenschaftliche Forschung erbringt regelmäßig Gegenbeweise, andere, früher aufgeführte Werke erfüllen ebenfalls die Kriterien, die an ein Opernwerk gelegt werden – allen voran den Einsatz eines »Recitar cantando«, »singenden Rezitierens«, das an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert etabliert wird und die Geschichte der Oper in den kommenden 200 Jahren, zu den verschiedenen Stadien des Rezitativs weiterentwickelt, prägen wird. Monteverdis Favola in Musica hat dem jungen, noch im Entstehen begriffenen Genre aber unvergleichlichen Auftrieb und Fortschritt gebracht. Der Komponist selbst betonte später in einem Brief an den Orfeo-Librettisten Alessandro Striggio die echten Affekte, die er in seine Figuren hineinkomponiert hatte. So entstand eine lebendige Dramaturgie, die Maßstäbe setzen sollte. Wenn am Beginn die berühmte Toccata erklingt, die die Fanfare des Auftraggebers, des Herzogs Gonzaga, zitiert, dann klingt das nach Aufbruch. Es erscheint nur folgerichtig, dass diese bemerkenswerte Oper die Geschichte des berühmtesten Musikers aller Zeiten zum Gegenstand hat: Die des Orpheus.

Der klingende Name wird seit über zweitausend Jahren beschworen, wenn es um die Kraft der Musik geht. Die Lyra, zu der Orpheus singt, erhielt er von Apollon selbst, dem Gott der Musik, der häufig – auch in dem Libretto von Alessandro Striggio, zu dem Claudio Monteverdi L’Orfeo komponierte – als Orpheus’ Vater bezeichnet wird. Es gibt auch einen anderen, vielleicht eigentlichen Vater, König Oiagros von Pieira. Abweichende Details in verschiedenen Überlieferungen einer mythischen Figur sind bei so alten Quellen alles andere als ungewöhnlich. Im Fall von Orpheus ist eine Interpretation möglich, die beides zulässt: einen leiblichen und einen geistigen, künstlerischen Vater. Seiner Mutter Kalliope hat Orpheus jedenfalls viele Begabungen zu verdanken, ist sie doch die Muse der epischen Dichtung, der Wissenschaft, der Philosophie, des Saitenspiels, des Epos und der Elegie. Für Orpheus, den Chronisten – einer der Gesänge, die ihm zugeschrieben werden, handelt von der Geburt der Menschen aus der Asche der getöteten Titanen – mag seine Großmutter Mnemosyne eine Rolle gespielt haben, die Muse der Erinnerung. Der Großvater Zeus schließlich macht Orpheus in jedem Fall zum Halbgott.

Bei allen Voraussetzungen ist doch bemerkenswert, was Orpheus vermocht haben soll: Als Argonaut bewahrte er seine Gefährten auf der Argo vor dem Gesang der Sirenen, denn er sang schöner als sie; sein Gesang war es aber auch, der Frieden stiftete, als die Argonauten in Streit gerieten – mit einem Gleichnis. Wie Apollonius von Rhodos in seinen Argonautica berichtet, sang er »wie einst die Erde, das Meer und droben der Himmel sich zu einer Gestalt miteinander vereinigt, und wieder nach verderblichem Streit ein jedes sich friedlich gesondert...«

Der römische Dichter und Philosoph Seneca schildert – vornehmlich, die Tragödie Herkules auf dem Öta aus dem 1. Jhdt. n. Chr. ist ihm zugeschrieben – die tierbändigende Kraft von Orpheus’ Kunst: »...zu seinen Gesängen kommen samt ihren Verstecken selbst die wilden Tiere, und unerschrockenen Schafen zunächst hat der marmarische Löwe sich gelagert, nicht zittern die Damhirsche vor den Wölfen, und die Schlange flieht ihr Versteck, für einmal ihr Gift vergessend.« Das Vertrauen in die Kraft seines Gesanges trägt auch dazu bei, dass Orpheus in die Unterwelt hinabsteigt. Hier spielt die berühmteste Orpheus-Geschichte, und eine der berührendsten Liebestragödien aller Zeiten. Die Dryade (Waldnymphe) Eurydike ist Orpheus’ Braut. Am Tag der Hochzeit wird sie von einer Schlange gebissen und stirbt. Orpheus kann das nicht akzeptieren: Er steigt in den Hades hinunter, um Eurydike zurückzuholen.

In den Metamorphosen des Ovid finden wir die wahrscheinlich poetischste Schilderung der Macht des orphischen Gesanges, dessen Kraft auch in der Unterwelt wirkt. Ovid beschreibt, wie alles stillsteht, wenn Orpheus singt: »Während er so sang und zu seinen Worten die Saiten schlug, weinten die blutlosen Seelen, Tantalus griff nicht nach der fliehenden Welle, staunend stand Ixions Rad still, die Vögel zerfleischten nicht die Leber des Tityos, die Beliden ließen ihre Krüge stehen, und du, Sisyphus, saßest auf deinem Stein. Damals sollen zum ersten Mal die Wangen der Eumeniden von Tränen feucht geworden sein, weil der Gesang sie überwältigte.«

Orpheus’ Gesang vermag es, das Schlimmste zu durchbrechen, was die Unterwelt zu bieten hat: Die endlose Wiederholung. Die Eumeniden – griechisch Erinnyen, später auch Furien – werden ihre Tränen allerdings trocknen: Sie werden Orpheus schließlich in Stücke reißen.

Zunächst gelingt es dem Halbgott aber vermöge seines Gesanges, den Lethefluss zu überqueren – der Fährmann Charon lässt sich nicht bezaubern, aber von den Klängen der orphischen Leier einschläfern; die reale Chance, Eurydike ins Leben zurückzuholen, erhält er aber durch die Hilfe der Göttin Persephone (Proserpina), die sich bei ihrem Ehemann Pluto für Eurydike einsetzt und auch von ihm erhört wird. Beginnend mit Vergil (Georgica, 29 v. Chr.) ist die Erlaubnis, Eurydike wieder ins Leben zurückzuholen, aber an eine Bedingung geknüpft: Orpheus darf sich während des Aufstieges nicht nach Eurydike umsehen. Als er eben das tut, ist die Chance vergeben, das Leben verwirkt, Eurydike muss in der Unterwelt bleiben, Orpheus ohne sie zurückkehren. Die Mühen des Abstiegs bleiben also unbelohnt, und mehr noch: Der alles verändernde Gesang des Orpheus war vergebens. Was hat es mit dieser Strafe auf sich? Bei Platon, im Symposion (Gastmahl, 289 v. Chr.) gibt es das Blickverbot noch nicht. Aber es gibt schon die Lesart, dass Orpheus bewusst bestraft wird. Phaidros äußert sie: Orpheus sei nicht bereit gewesen, für seine Liebe zu sterben und habe stattdessen Eurydike ins Leben zurückholen wolle. Seine Liebe, so Phaidros, sei nicht bedingungslos genug gewesen. Und das ist auch der Grund, warum Orpheus schließlich von Frauen zerrissen wird: Als Strafe für seine vornehmliche Feigheit.

Für Alessandro Striggio schließlich, der das Libretto zu Claudio Monteverdis Orfeo schrieb, ist vor allem die Unhinterfragbarkeit des Gesetzes entscheidend. Nachdem Plutone es verkündet hat, bekräftigt einer der Geister, der Spiriti: »Legge ne fia tuo cenno, che ricercar altre cagioni interne di tuo voler nostri pensier non denno« – »Dein Wink sei uns Gesetz, in ihm nach inneren Ursachen für deinen Wunsch zu suchen steht unserem Denken nicht zu«.

Natürlich ist Zweifel an der Order des Gottes verboten, und so wird Zweifel schließlich auch zum Grund für Orfeos Verhängnis. Striggio und Monteverdi setzen ihn unvergleichlich in Wort und Musik. Orfeo fragt sich, ob Euridice ihm auch wirklich folgen wird. Dann hadert er damit, dass ihm die Vervollkommnung seines Glücks verwehrt wird, die darin bestünde, Euridices Augen zu sehen. Er räsoniert: Amor sei der mächtigere Gott als Pluto, ihm müsse er wohl folgen. Das Geräusch, das er hinter sich hört, ist vielleicht nur noch ein Anlassfall. Orfeo kehrt sich um und verliert seine Geliebte für immer.

Zweifel sind verboten. Ob Plutone Orfeo eine Falle gestellt hat, ob dieser seine Euridice nicht in jedem Fall verloren hätte, ist nicht überprüfbar, eindeutig ist das Gebot, zu glauben, nicht zu zweifeln.

Zum Schluss der Favola in Musica, wie er bei der Uraufführung in Mantua 1607 gespielt worden sein muss, schwört Orfeo den Frauen ab – mit harten Worten, nennt sie hochmütig und ehrlos, ohne Geist und edle Gesinnung. Apollo tritt in der Art eines Deus ex Machina auf und rät Orfeo, mit ihm in den Himmel aufzusteigen. »Ancor non sai come nulla qua giú diletta e dura?« – »Weißt du nicht, dass hier unten keine Freude von Dauer ist?« Im Jenseits, so die Suggestion, werden die beiden wieder vereint sein. Es ist eine Stelle, an der der antike Mythos mit einem christlichen Verständnis von Diesseits und Jenseits verschmolzen wird. So wie der Orpheus-Mythos und auch die Figur des Orpheus selbst über die Jahrhunderte häufig aus der Perspektive einer christlichen Weltsicht interpretiert und neu gestaltet wurden.

Interessant ist der alternative Schluss im gedruckten Libretto von 1607, der der antiken Überlieferung folgt. Anstelle des Apollo treten hier die Furien bzw. Bacchantinnen auf und reißen Orfeo in Stücke, als unmittelbare Rache für seine Schmähung der Frauen. Alternativ zum versöhnlichen Ende mit Ausblick ins Jenseits steht also theoretisch auch ein unversöhnliches zur Verfügung, das allerdings wohl nie ausgeführt worden ist. Warum es dem Druck hinzugefügt wurde, ist nicht restlos geklärt.

So interessant die Existenz dieser beiden Schlüsse ist – vor allem ist L’Orfeo voller aufsehenerregender musiktheatraler Ideen. Monteverdi hatte die Florentiner Camerata schon mit seinen Madrigalkompositionen irritiert, die die genaue Textverständlichkeit über die strenge Befolgung der Kontrapunktregeln stellten. In L’Orfeo hören wir eine Musik, die voller Spiel ist, vom dramatischen Stimmungswechsel mit dem Tod Euridices im 2. Akt (der in antiker Tradition als Botenbericht beschrieben wird) bis zu »Possente Spirto«, der zentralen Arie des Orfeo im 3. Akt, in der in der praktischen Virtuosität des Gesanges schon die ganze Geschichte über die Unwiderstehlichkeit von Orfeos Kunst erzählt wird und auch noch das Einschlafen des Fährmanns Charonte kraft des Wohlklangs komponiert ist. Ein ganz besonderes Stück Musiktheater finden wir etwas früher im 3. Akt, vor den Toren der Unterwelt. Hierhin hat Orfeo Speranza begleitet, die Hoffnung. Sie spricht ihm Mut zu, nicht ohne darauf hinzuweisen, was hier nötig sein werde: »Un bel canto e un gran core« nämlich, »ein schöner Gesang und ein großes Herz«. Dann aber muss sie sich verabschieden, ein Gesetz verbiete, dass sie weiterginge. Wie schwere Schritte abwärts klingen die Sekundschritte der Orgel, dann spricht die Hoffnung das Gesetz aus: »Lasciate ogni speranza voi ch’entrate« – »Ihr, die ihr eintretet, lasset alle Hoffnung fahren«. Dante Alighieri wird hier zitiert, der eben diese Inschrift über den Eingang seines Infernos gesetzt gesehen hatte. Hier ist nicht nur ein großer Dichter (anachronistisch) zitiert und der Weg nach unten musikalisch eindrucksvoll in Szene gesetzt; sogar der notwendige Abgang der Speranza ist inhaltlich und musikalisch begründet. So weit nach unten darf sie, die Hoffnung, den Sänger begleiten. Dann muss er sie fahren lassen. Solche Momente schreiben Musiktheatergeschichte. Orpheus, der singende Halbgott, hat in Monteverdis Favola in Musica einen unvergleichlichen Ort erhalten.

Text Nikolaus Stenitzer