© Ira Polyarnaya

Ein Opernmanifest

Das OPERNMANIFEST von Kirill Serebrennikov entstand als Beitrag zum ›Musik.Theater. Gegenwarts- und Zukunftsformen‹, das im Juni dieses Jahres von der Universität Wien und der MUK Wien veranstaltet wurde. Serebrennikov wandte sich damit vor allem an Theaterstudierende. Als allgemeine Standortbestimmung eines Künstlers zu einem vieldiskutierten Thema kann der Text jedoch von Interesse für ein breites Opernpublikum sein.


OPERNMANIFEST
Kirill Serebrennikov

Früher entstand eine Oper im Tandem zweier Autoren – Komponist und Librettist –, aber schon bald wurde die Opernproduktion zum Schlachtfeld vieler kreativer Persönlichkeiten: Es kamen Dirigenten, Sängerinnen, Videokünstler, Choreografen und Dramaturginnen hinzu. Nur das Bewusstsein der Regie vermag das alles zu einer Interpretation der Musik zusammenzuführen, die Unwahrheiten, Lügen und Vorspiegelungen entfernt und ein Manifest schafft. Ein Manifest für die Vorherrschaft des Schönen. Ein Manifest, das den Menschen als Zentrum des Universums bestätigt. Ein Manifest, das Präzision, Kraft und Inspiration aller Beteiligten zu einem Wunder führt.

  1. Die Musik – als das Urbild jeder Kunst – ist das bestimmende, aber nicht das einzige Element der Oper. Die Struktur einer Partitur zu kennen und zu verstehen ist notwendig, reicht aber zur Schaffung einer Oper als Theaterereignis nicht aus. Es ist wie mit der Kenntnis der Anatomie: Sie ist unverzichtbar, aber ungenügend, um zu leben.
  2. Der Komponist schafft Musik, die wie eine Offenbarung den Alltag überschreitet. Der Regisseur muss dem Menschen das Geheimnis des Inhalts der Musik enthüllen, ihm dabei helfen, sie durch das Prisma seines gegenwärtigen Selbst zu hören und zu verstehen.
  3. Wer versucht, Musik jenseits der fixierten Zeichen einer Partitur zu verstehen, geht ein Risiko ein. Aber dieses Risiko kann zu erstaunlichen Entdeckungen führen. Entscheidend ist dabei, die Schönheit der Musik zu erkennen.
  4. Die Vorstellung, auf der Bühne allein der Musik zu dienen, ist ebenso irreal wie eine Welt, in der ewiger Frühling herrscht. Eine solche Absicht führt zu einem kunstgewerblichen Stil, zu Mittelmaß und Langeweile. Langeweile auf der Bühne ist unverzeihlich.
  5. Oft wird angenommen, die Absicht der Regisseurin bestehe darin, durch Illusion, Verstellung und Künstlichkeit beim Publikum Gefühle zu erregen. Welch ein Irrtum! Das Operntheater zeigt den Menschen im höchsten, ekstatischen Zustand von Körper und Geist und kann per definitionem nicht lügen.
  6. Auf der Bühne geht es immer um Authentizität. Authentizität von Gefühlen, Handlungen, Absichten. Die Abstraktheit der Musik als der metaphysischsten und immateriellsten aller Künste muss durch die Konkretheit und Greifbarkeit einer auf der Opernbühne geschaffenen Welt ausbalanciert werden.
  7. Jede Opernaufführung ist eine Botschaft an die Menschheit. Eine gute Aufführung ist ein Schrei, eine schlechte Aufführung ist ein Gemurmel. Es gibt keine richtigen oder falschen Aufführungen, so wie es keine moralische oder unmoralische Kunst gibt. Es gibt gut inszenierte Aufführungen und es gibt schlecht inszenierte Aufführungen. Das ist alles.
  8. Unterstellen Sie dem Regisseur keine schändlichen Absichten: Er oder sie darf auf der Opernbühne alles darstellen, was der Mensch in der modernen Welt erfährt – von blutigen Kriegen bis zu wissenschaftlichen Sternstunden, von Liebe bis zu Hass, von Wahnsinn bis zum Triumph des Geistes.
  9. Die Oper ist, wie im Grunde jede Kunst, ein Spiegel, der nicht das Leben, sondern den Betrachter reflektiert. Dieser kann schief, getrübt oder zerbrochen sein, aber er muss ein Spiegel sein. Der Regisseur ist dafür verantwortlich, dass der Spiegel tatsächlich etwas reflektiert.
  10. Wenn jemand im Publikum Hass gegen die Regie empfindet, gleicht das der Wut des Barbaren, der sich selbst im Spiegel sieht. Wenn eine Regisseurin  das Publikum verachtet, gleicht das der Wut der Barbarin, die sich selbst im Spiegel nicht erkennt.
  11. Wenn eine Operninszenierung umstritten ist, kann das bedeuten, dass dem Regisseur etwas Neues und Herausforderndes gelungen ist, etwas, das den Menschen aus seiner Komfortzone führt.
  12. Im Regietheater entstand unter den Losungen „Freiheit“ und „Autorenschaft“ eine Reihe bedeutender Aufführungen, die das Operntheater international radikal verändert haben. Eine neue Regiegeneration, die über alle Technologien des modernen Theaters verfügt, ist verpflichtet, die Oper in ein neues Genre zu verwandeln. Alle neuen und aufstrebenden Kunstformen können und sollen in der Oper als „Gesamtkunstwerk“ Verwendung finden.

Eine Opernaufführung ist wie ein buddhistisches Mandala, das durch die ungeheuren Anstrengungen vieler Menschen über Jahrhunderte hinweg geschaffen wurde und das in dem Moment verschwindet, in dem das Publikum das Theater verlässt und wieder auf die Straße tritt – und das Spiegelbild der Welt durch die Welt selbst ersetzt wird.