© Julia Wesely

Ein letztes Mal zum MOUNT EVEREST DER DIRIGENTEN

Noch ehe Franz Welser-Möst 2010 Generalmusikdirektor der Wiener Staatsoper wurde, übernahm er höchst erfolgreich die musikalische Leitung der bisher letzten Neuproduktion von Wagners Ring des Nibelungen, die hier zwischen 2007 und 2009 herauskam. Nach seiner fulminanten Rückkehr an das Haus mit Elektra in der Spielzeit 2020/21 wird Franz Welser-Möst nun im Juni für gleich zwei Durchgänge des Ring erneut ans Dirigentenpult treten und mit einer für Wien großteils vollkommen neuen Besetzung die hiesige Aufführungsgeschichte um ein weiteres Kapitel bereichern.


Wir sprachen bei der Premiere der Walküre 2007 darüber, ob Sie persönlich die allgemeine Rezeptionsgeschichte des Ring als Ballast empfinden. Sie haben das damals bejaht und festgestellt, sich von ihr möglichst befreien zu wollen. Wie ist das nun mit der eigenen Rezeptionsgeschichte, der jahrelangen persönlichen Auseinandersetzung mit einem Werk – möchte man sich von dieser ebenfalls befreien? Versuchen Sie jedes Mal neu zu beginnen, gewissermaßen mit einer blütenweißen Partitur?

FRANZ WELSER-MÖST Selbstverständlich ist es notwendig, wenn man eine künstlerische Auseinandersetzung ernst nimmt, ausgetretene Pfade zu meiden. Auch die eigenen. Was aber nicht heißt, dass die jahrelangen Erfahrungen nicht ebenfalls mit einfließen, beziehungsweise einfließen sollten. Ein Neuanfang ist also immer möglich – allerdings basierend auf dem Weg, den man bis dahin zurückgelegt hat. Im aktuellen Fall ist dieses »neu« aber insofern ein Sonderfall, als es sich zugleich um einen Abschied handelt: Ich werde den Ring zum letzten Mal dirigieren.


Zum letzten Mal an der Staatsoper...

FRANZ WELSER-MÖST Nein, zum letzten Mal in meinem Leben. So wie schon die Elektra, lege ich auch den Ring weg. Man darf das jetzt nicht falsch verstehen, in dem Sinn, dass ich jetzt eine für mich ultimative Interpretation gefunden habe und präsentieren werde, das Letzte gewissermaßen, was ich zum Ring zu sagen habe. Das wäre arrogant und falsch. Die Wahrheit ist viel simpler: Der komplette Ring ist für jeden Dirigenten so etwas wie der Mount Everest für die Bergsteiger. Es geht um einen einzigartigen Gipfel, der einen lockt und dessen Erreichen mit größter Freude, aber zugleich mit extremen Herausforderungen verbunden ist. Ich fühle mich fit und möchte gerade darum mit bald 63 Jahren vom Ring einen bewussten Abschied nehmen und nicht später einen erzwungenen. Das Leben besteht nun einmal aus vielen Abschieden – und es bleibt noch genügend wunderbares Repertoire übrig.


Apropos Interpretation: Man entdeckt doch in jedem Meisterwerk immer wieder neue Kostbarkeiten. Wie kann man sie in ihrer Gesamtheit dem Publikum nahebringen, schließlich lässt sich nicht alles gleichzeitig verwirklichen? Bei einer Symphonie, einer Sonate ist das leichter: Da gibt es Wiederholungen, die ich unterschiedlich gestalten kann: Einmal unterstreiche ich eher die harmonischen Besonderheiten, dann lasse ich vielleicht bestimmte Gegenstimmen hervortreten. Solche Wiederholungen ganzer Passagen sind in der Oper aber eher selten. Hilft es, wenn man das Tempo gelegentlich so weit wie möglich drosselt, um dadurch quasi ein Vergrößerungsglas auf bestimmte Stellen zu richten und auf diese Weise die Vielfalt der Partitur eindrücklicher zu vergegenwärtigen?

FRANZ WELSER-MÖST Jedes Werk besitzt eine vom Komponisten geschaffene Architektur, die unbedingt gewahrt bleiben muss und in der alles aufeinander bezogen ist. Herbert von Karajan sprach in diesem Zusammenhang von der notwendigen Vogelperspektive, vom alles überschauenden Blick. Es wäre verfehlt, wenn man nach dem Motto aus Goethes Faust – »Verweile doch, du bist so schön« – nur von Moment zu Moment wechselt und das große Ganze aus den Augen verliert. Wenn ich zum Beispiel ununterbrochen gewaltige Rubati oder Ritardandi mache und dadurch die Form ausfranse, nur um in einzelnen Passagen zu baden, können diese paar Takte im Augenblick jeweils sehr wirkungsvoll sein – im Gesamten stellt sich aber sehr bald unweigerlich das Gefühl der Abgegriffenheit und Langeweile ein. So etwas hat wenig mit dem Kunstwerk, aber viel mit der Selbstverliebtheit des Interpreten zu tun. Allerdings kann ich sehr wohl beispielsweise durch Klangfarbenmischungen einzelne Nebenstimmen hervorholen oder harmonische Strukturen offenlegen. Da mir heute bestimmte dunkle Aspekte einer Geschichte wichtiger sind als früher, freue ich mich in diesen beiden Ring-Serien ganz besonders über Eric Owens als Wotan/Wanderer, weil er eine sehr dunkle Stimme besitzt und die Figur dadurch eine mir wichtige zusätzliche Dimension erhält. Auf der anderen Seite wird man diesmal mit Giorgio Berrugi einen echten italienischen Tenor als Siegmund erleben und dadurch einerseits daran erinnert, dass Wagner den Belcanto-Gesang durchaus als Vorbild angesehen hat, und andererseits das Verhältnis Siegmunds zu anderen Charakteren unter einem anderen Licht betrachten können. Interpretation beginnt somit schon mit der Auswahl der Sängerinnen und Sänger – aber sicher nicht mit willkürlichen Ausbeulungen der Form.


Wenn man von Klangfarbenmischungen spricht, kommt man in unserem Fall sehr rasch zum Staatsopernorchester und dessen unverwechselbarem Klang, der im Wesentlichen von der Akustik der Staatsoper und des Musikvereins geprägt wurde. Ergibt dieser automatisch eine Art Wiener Ring-Interpretation?

FRANZ WELSER-MÖST Denkt man an den geradezu süchtig machenden Klang der Musik Wagners, verwundert es kaum, dass Friedrich Nietzsche diese einmal als Nervengift bezeichnet hat. Natürlich ist der Orchesterklang, den Wagner im Laufe des Rings – und ganz besonders in der Götterdämmerung – immer deutlicher zu einem der Hauptakteure macht, daher ganz essenziell für die Interpretation. Und in Wien kommt die besondere Tradition dieses unbestritten großartigsten Opernorchesters der Welt hinzu: Wir beide haben noch den ehemaligen Konzertmeister Walter Barylli erlebt, der wiederum Arnold Rosé erlebt hat, der unter Mahler gespielt hat und dessen Kollegen noch unter Wagner musizieren durften. Das ist eine nur kurze, wenig gliedrige Generationenkette, die unter anderem auch unterstreicht, dass dieser süße Wiener Geigenklang schon zu Wagners Lebzeiten genau in dieser Form existiert hat. Wir haben also in der Wiener Staatsoper tatsächlich eine Art Originalklang-Ensemble im Graben, wenn wir Wagner spielen – genauso wie im Fall von Richard Strauss, Johann Strauß, Gustav Mahler, Anton Bruckner usw.


Mozart, Verdi sind bekannt dafür, alle ihre Bühnencharaktere zu lieben – so wie dies schon Shakespeare tat. Bei diesen dreien gibt es daher keine Parteinahme und keine Verurteilung einzelner Figuren. Wagner scheint mir einen anderen Weg zu gehen: Eine viel schwärzere, fahlere, unfrohere Musik beispielsweise als die Unterredung Hagen-Alberich in der Götterdämmerung gibt es fast nicht und der Tritonus in Hagens »Zurück vom Ring« sagt ja wiederum etwas Wertendes über die Figur aus.

FRANZ WELSER-MÖST Ich glaube, Wagner liebte zu allererst sich selbst. (lacht) Nein, im Ernst: Man muss bei Wagner differenzieren: Im Ring, Parsifal, Lohengrin, Holländer haben wir es mehr oder weniger mit mythologischen Figuren zu tun, die symbolhaft für etwas stehen. Da ist sein persönlicher Bezug ein anderer als in den Meistersingern, in denen Personen aus Fleisch- und Blut auftreten. Diese liebt Wagner sehr wohl – zumal er sich in Hans Sachs und Walther von Stolzing wiederfindet. Aber er liebt auch das Evchen. Beim antisemitisch gezeichneten Beckmesser sieht die Sache dann allerdings wieder anders aus...


Im gesamten Ring weisen Wotan und Brünnhilde die größte Entwicklung auf. Ist dieses Reifen musikalisch ebenfalls nachvollziehbar?

FRANZ WELSER-MÖST Rein von der Tessitura her entwickelt sich Wotan vom Rheingold bis zum Siegfried in die Höhe, ist also zum Schluss deutlich eher Bariton als zu Beginn. Darüber hinaus wirkt er im Rheingold richtiggehend selbstbewusst, was auch durch seine Redefreudigkeit unterstrichen wird. Je weiter die Geschichte aber voranschreitet, desto zielloser und verschlossener scheint er zu werden. Ich finde es also sehr bezeichnend, dass er in der Götterdämmerung gar nicht mehr auftaucht. Bei Brünnhilde geschieht interessanterweise vokal eine gegenläufige Entwicklung, die mit der charakterlichen Wandlung von der Schlachten-Heldin zum opferbereiten, liebenden Menschen Hand in Hand geht. Schmettert sie in der Walküre noch ihre hohen Hs und Cs heraus, so erinnert ihr Schlussgesang in der Götterdämmerung vom Ausdruck her an den Liebestod in Tristan und Isolde.


Der Ring entstand über einen Zeitraum von rund 25 Jahren, in denen sich Wagner stets weiterentwickelte. Dennoch vermittelt die Tetralogie das Gefühl einer Einheit.

FRANZ WELSER-MÖST Ähnliches gelang schon Johann Sebastian Bach mit seiner h-Moll Messe, die auch ungefähr über einen Zeitraum von 25 Jahren geschrieben wurde und ebenfalls wie aus einem Guss geformt ist. Da sind wir wieder bei der oben angesprochenen Struktur eines Werkes. Wagner begann spätestens nach dem Fliegenden Holländer aus der Dichtkunst stammende Formen – wie Barform oder Strophenform – für seine Musik fruchtbar zu machen, denen er bis zum Parsifal treu blieb. Dadurch schuf er eine Art Überbau, die eine grundsätzliche Geschlossenheit garantierte – beim Ring sogar trotz der Kompositions-Unterbrechung mitten im Siegfried.


Rein musikalisch sind die Meistersinger und Tristan gewissermaßen zwei Antithesen, die als Synthese dann Parsifal ergeben? Wo liegt der Ring in diesem Spannungsfeld?

FRANZ WELSER-MÖST Mit dem Ring hat Wagner versucht, die Welt zu ergründen, im Modell zu erklären – und das über eine geradezu privat entwickelte, oder zumindest weiterentwickelte Mythologie. Wir haben also einen ganz eigenen Kosmos vor uns, der abseits von der Trias Tristan-Meistersinger-Parsifal liegt.


Aber ist Parsifal inhaltlich nicht genau jener Held, der im Ring fehlt? Der Held, der aus eigener Erkenntnis heraus das Erlösende vollbringt, der Held, von dem Wotan in der Walküre träumt?

Ich würde insofern dagegenhalten, als die sogenannte »Erlösung« im Parsifal letztlich in drei Minuten abgehandelt wird. So intensiv beschäftigt Wagner dieses Thema in seinem letzten Bühnenwerk gar nicht mehr. Im Ring zeigt er hingegen ein echtes Weltentheater, das nicht umsonst gern mit Goethes Faust verglichen wird. Ein Weltentheater, bei dem es im letzten Teil, in der Götterdämmerung, schließlich um ein großes Abschiednehmen geht. Aber wovon Abschied genommen wird, ist eigentlich nicht ganz klar. Wir wissen jedenfalls, dass Wagner nach einer Vorlesung des Ring in Zürich auf die Frage, was das Ganze denn sollte, die Antwort »Das weiß ich auch nicht« gegeben haben soll. Viel- leicht ist der Nibelungenring unbewusst Wagners Abschiednehmen von der Utopie, dass es die Menschen einst besser machen werden als die Götter, die ja kolossal in ihrem Weltenentwurf scheitern.


DER RING DES NIBELUNGEN
Das Rheingold / 1. & 21. Juni /
Die Wallküre / 4. & 22. Juni /
Siegfried / 11. & 25. Juni /
Götterdämmerung / 18. & 30. Juni 2023

Musikalische Leitung Franz Welser-Möst
Regie Sven-Eric Bechtolf
Mit u.a. Eric Owens / Giorgio Berrugi / Klaus Florian Vogt / Burkhard Fritz /
Ricarda Merbeth / Simone Schneider / Michael Laurenz / Tanja Ariane Baumgartner /
Noa Beinart / Michael Nagy / Matthäus Schmidlechner / Ain Anger / Mika Kares