Ein Kreislauf mit ungewissem Ausgang
Die letzte Freischütz-Vorstellung im Haus am Ring ist nun schon wieder fast unglaubliche 20 Jahre her – selbstredend, dass in der anstehenden Neuproduktion im Juni in allen Partien Staatsopern-Rollendebüts zu verzeichnen sind. Da diesmal auch noch ein Perspektivenwechsel stattfindet und die Geschichte verstärkt aus dem Blickwinkel von Max gesehen wird, luden wir Camilla Nylund, Daniela Fally, Alan Held und Hans Peter Kammerer alias Agathe, Ännchen, Caspar und Samiel zu einer Standortbestimmung.
Wie fühlt es sich an, die Vision eines Komponisten zu verkörpern?
Camilla Nylund: Also, ich glaube, wir hier sind uns alle einig, dass wir auf der Bühne durchaus sehr real sind (lacht)…
Daniela Fally: Zumindest zeitweise. Nicht alles, was in dieser Inszenierung gezeigt wird, ist Max’ Vision und nicht alles ist Wirklichkeit. Im Wiener Künstlerhaus gab es vor vielen Jahren die Ausstellung Traum und Wirklichkeit, ich glaube, dieser Titel passt gut zu unserer Produktion: Die Grenzen sind verschwommen, alles geht ineinander über.
Alan Held: Gerade bei Caspar wird dies deutlich: Einerseits kann ich mir gut vorstellen, eine Art mephistophelische Seite in Max zu sein, der Versucher, der auf Abwege führt. Andererseits sind Caspars Gründe Max zu verführen sehr handfest: Er will sein Leben vor Samiel retten, seine Frist verlängern – und warum sollte eine Vision Angst vor seinem Ende haben?
Hans Peter Kammerer: Samiel ist sicher das absolut Böse, eine personifizierte archaische Figur. Andererseits kann der Leibhaftige als sichtbare Person natürlich nicht wirklich real sein. Es ist ein wunderbares Privileg des Theaters, solche Figuren zum Leben zu erwecken – warum einmal nicht auch als Illusion des Protagonisten? Die Theater- und Schauspieltechnik ermöglicht vieles.
Camilla Nylund: Letztlich muss auch nicht alles aufgeschlüsselt werden, jeder im Publikum darf und soll sogar mit den Details spielen, sie weiterspinnen, über das Gezeigte nachdenken. Wichtig ist, dass die Musik gemeinsam mit den Bildern der Inszenierung etwas transportiert, was für den Zuschauer zum Erlebnis wird.
Hans Peter Kammerer: In diesem Fall vielleicht sogar ein kleines Schaudererlebnis.
Apropos schaudern: Inwieweit darf man sich das Dunkle, das Böse als Künstler dienstbar machen – Max ist hier Komponist und benützt es als Kreativpotenzial?
Hans Peter Kammerer: E.T.A. Hoffmann ist ein Paradebeispiel eines Künstlers, der die Grenze zum damals Unerlaubten, wie soll ich sagen, sehr persönlich definiert hat. Und natürlich kennen Künstler ganz allgemein eine Spannung, einen Widerspruch in sich, der durchaus schöpferisch sein kann.
Alan Held: Das Wort Spannung ist sehr zutreffend: Es muss für einen Künstler etwas geben, was sich aneinander reibt und gegeneinander steht, einen Konflikt. Warum singe ich – nur um schöne Kunst zu machen? Nein! Kunst ist auch eine Form, um sich auszudrücken. Wenn man sich als Darsteller in verschiedene Charaktere hineinversetzt, hilft das, etwas in sich selbst freizusetzen. Ein Maler kann nur tätig werden, wenn er Farben hat, der Sänger und Schauspieler, wenn er bestimmte Aspekte in sich aufdeckt und als Farben benützt. Und Caspar bringt aus Max etwas heraus, was dieser für seine Kunst benötigt und was die gesicherte, bequeme, „gute“ Welt der Agathe nicht bieten kann.
Aber was liebt Agathe dann ihrerseits an Max?
Camilla Nylund: Wir haben lange mit dem Regisseur darüber gesprochen: Vielleicht hat sie Mitleid mit ihm, ein Rettersyndrom? Frauen wollen doch so oft Männer vor sich selber schützen. Auf jeden Fall ist sie verliebt in ihn und lässt sich von niemandem diese Liebe ausreden. Selbst die Tatsache, dass sie die Schwierigkeiten im Zusammenleben mit einem Künstler erkennt, noch dazu mit einem, der an sich zweifelt, lässt sie nicht umdenken. Auch nicht ihr augenscheinlichstes Dilemma: Einerseits sucht sie in seiner Musik Trost, wie man bei uns in ihrer ersten Arie sehen wird, andererseits ist Max eher an seiner Musik interessiert als an ihr. Sie weiß, dass das Komponieren der Sinn seines Lebens ist, dass es aber zugleich zwischen ihnen steht.
Fühlt sie seine dunkle Seite?
Camilla Nylund: Ich denke schon, auf jeden Fall hat sie Angst davor, dass er Dinge tut, die für ihn gefährlich und bedrohlich sind.
Daniela Fally: In diesem Punkt unterscheidet sich Agathe klar vom Ännchen. Ännchen ist nicht gefeit davor, ebenfalls auf dunklen Wegen zu lustwandeln und sie findet es überaus spannend, was Max über die Wolfsschlucht erzählt: Sie ahnt, wie alle in der Umgebung, was dort passiert, sie weiß, wer dort angeblich haust und ist entsprechend verängstigt, aber… sie ist neugierig!
Auch das Publikum ist fasziniert von der Wolfsschlucht, vom Bösen auf der Bühne, warum?
Hans Peter Kammerer: Wenn man etwas benennt, bannt man es zugleich. Wenn ich den Teufel spiele, darstelle, auf der Bühne vorgeführt bekomme, scheine ich Macht über ihn zu bekommen. Die Visualisierung dessen, wovor ich Angst habe, worüber ich nicht sprechen kann, nimmt mir zugleich die Furcht. Eine andere, eigentlich widersprüchliche Erklärung wäre: Das Dämonische hat etwas Geheimnisvolles, und das wiederum reizt unser Interesse. Ich plädiere immer für das Geheimnis…
Alan Held: Jedem ist klar, dass es Böses auf der Welt gibt. Wenn wir ihn darstellen, wird es konkret, fassbar und verliert das Nebulose. Jeder im Zuschauerraum kann mit dem Finger drauf zeigen und endlich sagen: Genau das ist das Böse. Davon abgesehen brauchen wir die Prototypen. Hans Peter hat vorhin von der Archaik des Samiel gesprochen, genauso gibt es den Helden, die reine Frau…
Hans Peter Kammerer: … Agathe, die keusche, sehr biedermeierliche, schwer zu verführende junge Frau.
Camilla Nylund: Ich weiß gar nicht, ob Agathe wirklich so rein ist, auf keinen Fall aber ist sie die passive leidende Biedermeier-Frau, sondern eine lebendige Person, die Entscheidungen trifft.
Warum verführt Caspar Max, warum nicht Agathe?
Hans Peter Kammerer: Das hätte wahrscheinlich nicht in die Zeit Webers gepasst? Interessanterweise ist 30 Jahre vorher bei Mozart die Königin der Nacht, also die Frau, die Böse!
Alan Held: Max ist das leichtere Opfer: Erfolglos, verzweifelt, Agathe hingegen behütet und in ihrem Glauben fest – das Böse sucht immer nach der Schwachstelle, durch die es eindringen kann. Eine andere Frage ist, warum sich Samiel nicht direkt an Max wendet.
Hans Peter Kammerer: Vermutlich wollten Weber und sein Librettist Max unbeschädigt aus der Geschichte herausholen. Wenn er nur über Umwege mit dem Teufel paktiert, ist Max nicht wirklich schuldig – eine sehr kleinbürgerliche Ansicht übrigens, wohl ein dramaturgisches Zugeständnis an das Publikum der Entstehungs- also Restaurationszeit. Es ist gut, dass Regisseur Christian Räth in dieser Produktion solche und ähnliche Klischees sowie betuliche Elemente durch seine Sichtweise eliminiert.
Und was ist mit Ännchen? Sie ist dem Dunklen offenbar nicht ganz abgeneigt… Warum wendet sich Caspar beziehungsweise Samiel nicht an sie?
Daniela Fally: Erstens wäre es dramaturgisch gesehen einfach falsch, vollkommen untheatral gedacht, nicht den Protagonisten oder die Protagonistin zu verführen. Und das ist das Ännchen nun einmal nicht. Außerdem ist sie, nur weil sie neugierig ist, ja nicht per se böse. Allerdings auch nicht biedermeierlich idyllisch, zumindest nicht in dieser Inszenierung. Sie ist schlicht und einfach ein junges Mädchen, das den Platz im Leben noch nicht gefunden hat.
Camilla Nylund: Ein Kobold mit Kanten…
Daniela Fally: Ein Zwischenwesen, das sich an Agathe dranhängt und sich für die Zukunft noch alle Optionen offen lässt.
Anders als in vielen anderen Opern, fehlt hier das zweite Paar: Ännchen hat keinen adäquaten Partner – kann sie Agathe als Nebenbuhlerin gefährlich werden?
Daniela Fally: Zumindest ist sie eifersüchtig auf Max, weil sie Agathe gewissermaßen an ihn abtreten muss. Der Verlust der Freundschaft, ein Aspekt der sonst oft zu kurz kommt, wird bei uns sehr wohl thematisiert.
Camilla Nylund: Ganz grundsätzlich versuchen wir den zwischenmenschlichen Beziehungen in dieser Oper, die schon ohne Caspar und Samiel nicht unkompliziert sind, mehr Raum zu geben.
Daniela Fally: Immerhin hat das Ännchen durch das Probejahr Aufschub bekommen.
Camilla Nylund: So gesehen, muss sie froh darüber sein, dass Max auf die falsche Bahn gekommen ist.
Daniela Fally: Das ist sie… leider.
Das Ende in dieser Inszenierung ist offen: Wird es Max ohne Rückgriff auf das Böse schaffen, sein Werk zu vollenden? Wird es ein Happy End geben?
Alan Held: Wer weiß, was Samiel mit Caspar vorhat. Vielleicht bringt er ihn sogar zurück ins Spiel… ich glaube nämlich nicht, dass Samiel nun nicht mehr versuchen wird, Max zu verführen. So gesehen befinden wir uns in einem Kreislauf – mit keinem oder einem sehr ungewissen Ausgang.
Camilla Nylund: Max ist ein Sturkopf, auch ohne die „Droge“ Caspar. Ob es gut ausgeht? Ich weiß es nicht. Ich habe zuvor gesagt, dass Agathe Max retten und ändern will, aber genau das ist so fraglich. Wie sehr kann man einen Menschen schon ändern? Agathe hofft zumindest – verständlicherweise – auf einen positiven Ausgang.
Daniela Fally: Vielleicht ist es überhaupt besser, die Frage nach dem Schluss der Fantasie der Zuschauer zu überlassen.
Hans Peter Kammerer: Überwunden ist am Ende im besten Fall Caspar, nicht aber Samiel. Und bei mir hätte Samiel das letzte Wort… (lacht)
Andreas Láng
Carl Maria von Weber
Der Freischütz
Premiere: 11. Juni 2018
Reprisen: 14., 17., 20., 25., 28. Juni 2018
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