Ein ebenso zärtlicher wie unbestechlicher Blick auf die »FATTURA HUMANA«

Weitere Informationen & Karten 


Im Rahmen des in den vergangenen beiden Spielzeiten eröffneten Monteverdi-Zyklus kommt mit der Premiere von Il ritorno d’Ulisse in patria das dritte und letzte vollständig überlieferte Opernwerk Claudio Monteverdis (1567-1643) zur Erstaufführung an der Staatsoper; abermals unter Mitwirkung des Concentus Musicus Wien als Originalklang-Gastorchester, das unter seinem Gründer und langjährigen Leiter Nikolaus Harnoncourt Entscheidendes zur Rückeroberung des Monteverdischen Opernschaffens ins lebendige Kernrepertoire der Opernhäuser geleistet hat. Abermals stehen mit dem Bariton Georg Nigl und der Mezzosopranistin Kate Lindsey zwei charismatische Sängerdarsteller im Zentrum des Monteverdi-Ensembles, das sich in den vergangenen beiden Spielzeiten an der Staatsoper herausgebildet hat. Und abermals übernimmt der erstaunlich vielseitige Pablo Heras-Casado die musikalische Leitung.

Der Weg des 1640 erstaufgeführten Ulisse zurück auf die Opernbühnen unserer Zeit war ein umwegsamer. Trotz der Reputation des Komponisten und des Erfolges, den der 73jährige Meister mit den Erstaufführungen des Ulisse in Venedig und Bologna feiern konnte, scheint sich auch Widerspruch, Kritik sowie Missgunst von Seiten der jüngeren Künstlergeneration geregt zu haben. Und anders als die im 17. Jahrhundert oft nachgespielte Poppea scheint der Ulisse kaum Folgeaufführungen erlebt zu haben. Die Aufführungsmaterialien verschwanden in Bibliotheken und Archiven, wo sie bald unauffindbar waren und lange als spurlos verschollen galten. Erst 1878 wies der österreichische Musikhistoriker August Wilhelm Ambros im vierten, posthum erschienenen Band seiner Geschichte der Musik auf eine anonyme Handschrift unbekannter Provenienz aus der Musiksammlung des Kaiserhauses hin, in der er Monteverdis Ulisse identifizieren zu können glaubte. Diese Zuschreibung wurde in Expertisen folgender Dekaden wechselweise in Frage gestellt oder bestätigt. Erst im 20. Jahrhundert hat sich die Ansicht von der Echtheit des Ritorno d’Ulisse durchgesetzt. Von besonderer Bedeutung waren hierfür die Untersuchungen Wolfgang Osthoffs, der in seiner Studie Das dramatische Spätwerk Claudio Monteverdis (1960) den Ulisse mit der zweifelsfrei weitgehend authentischen Poppea abglich. Die Detailanalyse, mit der er die Fiber des Komponierten durchdrang, ließ nur einen Schluss zu, nämlich »dass die Musik des Ritorno von dem Meister der Incoronazione di Poppea stammt«. Trotz gewisser Auslassungen und Lücken dürfen wir in der einzigen uns bekannten Partitur, so Monteverdiforscher Claudio Gallico, »das auf das Wesentliche konzentrierte Abbild einer der ältesten venezianischen Aufführungen dieser Oper« sehen. Beginnend mit Einrichtungen von Vincent d’Indy (Paris 1927) und Luigi Dallapiccola (Florenz 1942) setzten sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Komponisten wie Siegfried Matthus (Ostberlin 1966) oder Hans Werner Henze (Salzburg 1985) mit dem Ritorno auseinander, zunehmend parallel mit Dirigenten und Originalklangensembles, die mit weiteren Realisierungen der auf zwei Notensystemen überlieferten, nur in den Instrumentalritornellen sich gelegentlich bis zur Fünfstimmigkeit weitenden Gerüstpartitur experimentierten. Nicht zuletzt dank des legendären Zürcher Monteverdi-Zyklus der 1970er-Jahre in der Inszenierung von Jean-Pierre Ponnelle ging auch der Ulisse international ins Kernrepertoire der Opernhäuser ein. Und hatte noch Ponnelle den Ulisse für seine Aufführung um ca. eine Dreiviertelstunde Musik gekürzt, so sind integrale Wiedergaben heute schon fast eine Selbstverständlichkeit.

Monteverdi hat seiner Oper einen Prolog vorangestellt. Dieser bringt die Allegorie der menschlichen Zerbrechlichkeit selbst auf die Bühne, in ihrem Ausgeliefertsein an die Gewalten der Zeit, des Zufalls und der Liebe. Wie in den beiden Schwesterwerken steht also die Erfahrung menschlicher Gefährdung und menschlichen Scheiterns im Zentrum des musiktheatralen Interesses ihres Autors: Nach dem Sänger Orpheus in der Favola d’Orfeo, dessen hochgemute Anrufung seiner »cetra onnipotente«, seiner »allmächtigen Leier« sich als fatale Selbsttäuschung erweist, nach den Verbiegungen, Ängsten und Abstürzen, denen das in der Poppea gezeigte patriarchale Machtsystem Männer und Frauen gleichermaßen ausliefert, nun die Heimkehr nach zwanzigjähriger Abwesenheit von Haus und Hof des homerischen »Städtezerstörers« Odysseus nach Ithaka.

Jossi Wieler, Sergio Morabito und Anna Viebrock, die an der Staatsoper 2020 mit Henzes Das verratene Meer debütierten, suchen in ihrer Inszenierung nach einer Theatersprache, die in ihrem Nuancen- und Detailreichtum, in ihrer offenen, installativen Durchlässigkeit und Fragilität der ebenso zärtlichen wie unbestechlichen Genauigkeit von Monteverdis Blick auf die Conditio humana gerecht zu werden versucht.


HANDLUNG

Prolog

Die menschliche Zerbrechlichkeit ist der Zeit, dem Zufall und der Liebe ausgesetzt.

1. Teil

In Ithaka wartet Penelope seit zwanzig Jahren auf die Rückkehr ihres Mannes Ulisse, der nach dem Trojanischen Krieg verschollen ist. Ericlea, Ulisses alte Amme, glaubt fest an seine Rückkehr.
Die Magd Melanto hat sich in Eurimaco, einen der Freier Penelopes, verliebt. Eurimaco verlangt von ihr, Penelopes »diamantenes Herz« wieder für die Liebe zu öffnen.
Gegen Neptuns Verbot haben die Phäaken seinen Todfeind Ulisse nach Ithaka gebracht. Neptun prangert die menschliche Freiheit an, die Götter- und Schicksals- glaube eine Absage erteilt. Jupiter gestattet Neptun, sich an den Phäaken zu rächen.
Ulisse erwacht in Ithaka, ohne seine Heimat wiederzuerkennen. Er flucht dem Schlaf, sich selbst und den vermeintlich treulosen Phäaken.
Die Göttin Minerva erscheint. Um nach dem Sturz Trojas ihr Rachewerk zu vollenden, will sie Ulisse wieder als Herrscher von Ithaka einsetzen. Sie weiht ihn in ihren Plan ein.
Melanto malt Penelope die Freuden der Liebe aus.
Eumete wirft Iro, der die Zeche nicht bezahlen kann, aus seiner Taverne. Der gealterte Ulisse kehrt in die Taverne ein. Er wird von Eumete nicht erkannt.
Minerva entführt Ulisses und Penelopes Sohn Telemaco von Sparta nach Ithaka und konfrontiert ihn mit seinem Vater, den er nie kennenlernen konnte.
Die drei Freier Antinoo, Eurimaco und Pisandro bedrängen Penelope.
Eumete berichtet von der Ankunft Telemacos und der möglicherweise bevorstehenden Rückkehr Ulisses. Die Freier beschließen, eine neue Eheschließung Penelopes mit großzügigen Geschenken voranzutreiben.
Minerva entwirft den Schlachtplan zur Abrechnung Ulisses mit den Freiern.

2. Teil

Telemaco peinigt seine Mutter mit einer Liebeserklärung an die schöne Helena, die am Trojanischen Krieg Mitschuld trägt.
In Eumetes Taverne kommt es zu einem Kräftemessen zwischen dem unerkannten Ulisse und Iro.
Die Freier präsentieren ihre Geschenke für Penelope. Penelope revanchiert sich mit der Aufforderung zu einer Bogenprobe: Wer Ulisses Bogen zu spannen vermag, soll sein Reich und seine Frau erhalten.
Die drei Freier scheitern. Ulisse spannt mit Hilfe der Götter den Bogen und ermordet mit ihm die drei Freier. Iro bringt sich selbst um.
Penelope weigert sich, in dem Mörder ihren Mann wiederzuerkennen.
Minerva, Juno und Jupiter bewegen Neptun, seiner Rache an Ulisse zu entsagen. Sie demonstrieren dadurch den Sterblichen, dass erzürnte Götter durch Gebete zu besänftigen sind.
Penelope spürt in dem ihr Fremden einen Funken jenes Ulisse glühen, der sie vor zwanzig Jahren verließ, um in den Krieg zu ziehen.
 

IL RITORNO D’ULISSE IN PATRIA
2. (Premiere) / 4. / 8. / 11. / 14. April 2023
Musikalische Leitung Pablo Heras-Casado Inszenierung Jossi Wieler & Sergio Morabito
Bühne & Kostüme Anna Viebrock
Ko-Bühnenbildner Torsten Köpf
Licht Reinhard Traub Video Tobias Dusche
Mit u.a. Georg Nigl / Kate Lindsey / Josh Lovell / Isabel Signoret / Andrea Mastroni / Hiroshi Amako / Jörg Schneider / Helene Schneiderman / Daria Sushkova / Katleho Mokhoabane / Anna Bondarenko / Robert Bartneck / Daniel Jenz / Alma Neuhaus / Miriam Kutrowatz
Concentus Musicus Wien

 

Text Sergio Morabito