Durch ein Wundertor in die Geschichte
Der britische Regisseur Adrian Noble, der 2010 mit Alcina einen großen Erfolg an der Wiener Staatsoper feiern durfte, kehrt nun mit der Inszenierung von Hänsel und Gretel zurück an das Haus am Ring. Mit ihm sprach Andreas Láng.
Wenn die ersten Töne der Ouvertüre erklingen und sich der Vorhang erhebt, was sieht man dann: den Beginn eines Märchens?
Adrian Noble: Ich habe mir beim Kreieren der Inszenierung immer einen wesentlichen Aspekt vor Augen gehalten: Humperdincks Hänsel und Gretel ist für viele Kinder die erste Oper im Leben, ja gelegentlich sogar die erste Erfahrung mit einem richtigen, lebendigen Theater überhaupt – und dieser erste Eindruck, den sie gewinnen, muss nicht, aber kann die weitere Beziehung der Betreffenden zu diesem herrlichen Metier beeinflussen. Eine Hänsel und Gretel-Vorstellung kann, anders formuliert, als Einladung zu einer lebenslangen Liebe zum und zur Beschäftigung mit Theater respektive Musiktheater verstanden werden. Ich wollte also einen Weg finden, die Kinder abzuholen und sie auf emotional-atmosphärisch wundersame Weise in die Geschichte hineinzuführen. Wenn sich also der Vorhang zu den Klängen des Vorspiels hebt, sieht man auf der Bühne zunächst eine viktorianische Familie um 1890, gemütlich versammelt im Wohnzimmer: Mutter, Vater, Großmutter, und vier Kinder. Es ist Weihnachtszeit und rund um den großen Christbaum liegen Geschenke. Der Vater hat für die Kleinen zusätzlich eine ganz spezielle Überraschung vorbereitet – eine Laterna magica. Mit diesem Projektionsgerät konnte man damals unbekannte, paradiesische, farbenprächtige und wunderbar scheinende Landschaften projizieren. Anhand dieser Projektionen öffnet sich schließlich auch das Tor zum Märchen von Hänsel und Gretel.
Die Geschichte wird dann erzählt wie üblich?
Adrian Noble: Die Geschichte wird dann wie üblich erzählt, aber ich wollte sie mit einem Wunder einleiten und die Bilder einer Laterna magica verbreiteten zu der damaligen Zeit genau dieses Gefühl des Wunders, des Staunens vor einem Wunder. Die einzelnen Bühnenbilder werden in dieser Produktion daher auch durchgehend eine kreisförmige Umrahmung aufweisen, gewissermaßen motivisch die Projektionsränder der Laterna.
Es gibt also auch den Ofen in dem die Hexe verbrannt wird?
Adrian Noble: Ja, selbstverständlich. Es gibt den Ofen, einen großen Käfig, in dem Hänsel eingesperrt wird und es gibt natürlich auch das Knusperhäuschen. Aber unser Knusperhäuschen, von dem die Kinder ein Stückchen abbeißen bevor die Hexe auftaucht, ist keines, das man betreten kann. Es gleicht vielmehr einem sehr großen Kuchen, das die Form eines Knusperhauses aufweist – dieser verführerische Riesenkuchen ist die Falle der Hexe mit der sie die Kinder ködert. Wenn aber dann andererseits die Hexe zum ersten Mal ihr „Knusper, knusper, knäuschen“ singt, erblickt man zunächst im dunklen Bühnenhintergrund nur ein gewaltiges, mehrere Meter großes Auge, das Hexenauge. Wir haben also ein bisschen mit den Perspektiven gespielt.
Ist die Hexe in dieser Produktion eine widerliche Figur oder nur eine gefährliche alte Dame?
Adrian Noble: Sie wird von Sekunde zu Sekunde widerwärtiger. Muss sie ja auch – denn von wem reden wir hier: Sie ist eine Mörderin, eine Killerin, seine Serienmörderin, allerdings eine, die sich verführerisch geben will, nicht umsonst ist auch ihre Musik stellenweise verführerisch. Aber sie soll durchaus Angst einflößen. Ich finde die Musik vor dem Hexenritt in Kombination mit der Hexenrittmusik aus psychologischer Sicht sehr spannend: Bevor sich die Hexe auf ihren Besen schwingt wirft sie Holz ins Feuer und das Feuer wird heißer und größer und die Hexe immer exaltierter, bis sie am Höhepunkt, einer Katharsis gleich den Besen ergreift, aufsteigt und über den Wolken hin- und herjagt. Für das Danach war von ihrer Seite her das Ermorden eines Kindes geplant. Das hat etwas Ritusartiges – für Kriminalisten dürfte dieses sich selbst emotional in Fahrt bringen, sich einen Kick verpassen, bevor es zum Killen geht, nichts Unbekanntes sein. Humperdinck hat das auf einzigartige Weise wunderbar in Musik gefasst. Überhaupt bietet die Partitur unendliche Inspirationsdetails für den Regisseur: So werden einerseits Archetypen zitiert – etwa der betrunkene Vater – andererseits sind genau diese Archtypen, aber auch archetypischen Szenen musikalisch mit enormen Details aufgeladen die wir sichtbar machen wollten.
Sie sprachen am ersten Probentag beim Konzeptionsgespräch davon, dass der Wald als solcher in England mit einer ganz anderen symbolischen Bedeutung aufgeladen ist als in deutschsprachigen Ländern.
Adrian Noble: Nun, der Wald als Ort ist, meines Erachtens nach, sehr zentral in den deutschen Märchen und Sagen, insbesondere der dunkle, undurchdringliche und gefährliche Wald, der von allerlei Kreaturen bevölkert wird und in dem man verloren gehen kann – nicht umsonst hat der Wald bei Richard Wagner und natürlich hier bei Humperdinck in Hänsel und Gretel eine so wichtige Funktion. In meiner Heimat, also in England, verbreitet der Wald per se keine Schrecken, er ist auch nicht so wichtig. In der englischen Literatur nimmt vielmehr der Garten eine vergleichbar wichtige Position ein, schon bei Shakespeare kommt in vielen Stücken ein Garten als Symbol, als Ort, als Metapher vor.
Zurück zu Ihrer Inszenierung: Warum wählten sie als Rahmenhandlung gerade die viktorianische Zeit?
Adrian Noble: Für mich könnte die Familie des Vorspiels durchaus zur Verwandtschaft des Komponisten Humperdinck gehören. Ich entschied mich bewusst für jene Zeit, in der diese Oper entstanden ist. Das hat auf die eigentliche Handlung zwar keinerlei Auswirkungen, verdeutlicht aber einige Zusammenhänge. Schon unser Blick auf die Mutter wird dadurch ein anderer – sie ist nicht böse, sie ist keine schlechte Mutter, nur weil sie die Kinder anschreit und in den Wald hinausjagt: Das Libretto spricht von Hunger, vor allem im ersten Akt. Vom wirklichen Hunger,
den wir in der heutigen westlichen Welt nicht mehr kennen. Die Kinder haben nichts zu essen, seit Tagen nicht und ihr höchstes Vergnügen ist ein Krug Milch, und dass sie diese Milch unabsichtlich verschütten, kommt einer furchtbaren Katastrophe gleich. Humperdinck wusste, auch wenn es ihn und seine Familie nicht betraf, wovon er sprach, denn zu seiner Zeit war genau
diese Not, dieses Elend in ganz Europa omnipräsent. Knapp bevor ich nach Wien zu den Proben kam, habe ich meinen Sohn zur Universität geführt und dort in der Nähe ein altes, ehemaliges
Bleibergwerk besichtigt. In diesem Bergwerk haben im 19. Jahrhundert Kinder gearbeitet, den ganzen Tag über und sie haben barfuß gearbeitet! Vor dem Hintergrund dieser Furchtbarkeiten
müssen wir die Mutter in dieser Oper sehen, die ob der Armut, ob des Hungers ihrer Kinder verzweifelt und daher durchaus auch die Nerven verliert. Wer diese Mutter verurteilt, tut dies in
einem bequemen Fauteuil des 21. Jahrhunderts sitzend und die Hände auf die Armlehnen aufstützend.
Gibt es in dieser Produktion verschiedene Botschaften für Kinder und für Erwachsene?
Adrian Noble: Nein, nicht wirklich. Zum einen möchte ich, dass die Erwachsenen die Geschichte ein wenig auch mit den Augen der Kinder sehen und die Musik mit den Ohren der Kinder hören. Zum anderen: Wenn wir spielende Kinder beobachten, so zeigt sich, dass sie oft Spiele erfinden, die sie selbst erschrecken. Warum? Weil sie auf diese Weise unbewusst das Erwachsensein und die Probleme des Erwachsenseins üben. In diversen Variationen gibt es überall auf der Welt das Spiel vom bösen Wolf, der das Kind verfolgt – bei diesem Spiel können die Kleinen zwar das Gefühl des Erschreckens, der Angst erfahren, wissen sich aber letztendlich in Sicherheit. Gruselig-schön könnte man das Empfinden umschreiben, dass hier angestrebt wird. Und etwas Ähnliches passiert beim Anhören von Märchen und beim Erleben einer Oper wie Hänsel und Gretel. Vergessen wir nicht, dass viele der Grimm-Märchen Furcht einjagen, Gewalt beinhalten, gruselige Charaktere aufweisen. In Hänsel und Gretel werden Kinder ermordet und zu Lebkuchen verarbeitet und auch die beiden Protagonisten schrammen nur knapp an der Vernichtung vorbei. Aber am Ende erwachen alle wieder zum Leben, und das ist sehr wesentlich, denn damit wird eine sehr alte, letztendlich beruhigende Idee durchdekliniert: Die Reise vom Leben über den Tod zur Auferstehung oder Wiedergeburt. Der Traum, die Pantomime der 14 Engel am Ende des zweiten Aktes von Hänsel und Gretel symbolisiert für mich folgerichtig den Traum vom Tod, der, im Gegensatz zur Hexe, keinen Schrecken verbreitet und zeigt, dass es letztlich eine Grundsicherheit gibt. Um also auf die Frage zurückzukommen: Die Botschaft von Leben-Tod-erneutes-Leben gilt, auf unterschiedliche Weise zwar, aber gleichermaßen für Kinder wie für Erwachsene.
Fanden Gedanken von Sigmund Freud oder Bruno Bettelheim Eingang in die Produktion?
Adrian Noble: Nein, nicht direkt. Sicherlich helfen uns Freud, Bettelheim und andere Märchen zu verstehen, aber wir müssen das in der Inszenierung nicht aufdringlich durchbuchstabieren, das wäre zu viel des Guten. Freud ist ohnehin in der Luft die wir atmen – er hat ja zu jener Zeit hier in Wien gearbeitet, als Humperdinck die Musik zu Hänsel und Gretel schrieb.
Warum weiß der Vater so viel von der Hexe und die Mutter offenbar so wenig – der Vater muss diesbezüglich richtiggehend Aufklärungsarbeit leisten.
Adrian Noble: Da kommen zwei Gedanken zusammen: Erstens ist sie im Gegensatz zu ihrem Mann nicht regelmäßig in diversen Wirtshäusern, wo der jüngste Tratsch, die neuesten mysteriösen Vorkommnisse besprochen werden. Zweitens weiß sie zwar grundsätzlich einiges über die Hexe und über das Gebiet im Wald, wo sie haust – sie nennt den Ilsenstein ja explizit, aber in ihrem Wutanfall denkt sie nicht viel nach, vor allem nicht an Konsequenzen und sagt zu den Kindern sinngemäß so etwas wie: „Geht zur Hölle, mir ist egal wohin ihr geht, geht von mir aus zur Hölle!“ Und die Kinder gehen zur Hölle. Das hat sie natürlich in Wahrheit nicht so gemeint und bedauert es auch furchtbar, wie man später an ihrer Angst um die Kinder sieht.
Kommen wir jetzt zu den wichtigsten Protagonisten: Hänsel und Gretel, was sind das für Kinder?
Adrian Noble: Humperdinck und die Librettistin haben Kinder sehr genau beobachtet und hier porträtiert. Die burschikose Gretel ist ein bisschen älter als Hänsel und dementsprechend gelegentlich mütterlich zu ihrem Bruder, der freche Hänsel möchte – als Bub – tapfer scheinen, was er in Wahrheit nicht ist. Wie alle Geschwister streiten und kämpfen sie miteinander, taucht aber eine dritte gegnerische Partei auf, stehen sie zusammen gegen den äußeren Feind.
Sie haben selbst Kinder, gibt es etwas, was Sie von ihnen gelernt haben, etwas was Sie hier in der Produktion verwenden konnten?
Adrian Noble: Absolut – ich habe zu Hause auch eine ähnliche Konstellation: ein Mädchen und einen Bub, das Mädchen etwas älter – ich bin ein glücklicher Mensch. Und selbstverständlich habe ich das gesamte Verhalten der beiden und das ihrer Freunde absorbiert – ich konnte hierbei übrigens viel Politik sehen …
Was wird geschehen, wenn die Geschichte von Hänsel und Gretel zu Ende ist?
Adrian Noble: Wenn man durch all diese Erfahrungen und Gefahren durchgeht, ist man nicht derselbe wie vorher, nicht wahr? Die Kinder sind ein bisschen älter, ein bisschen weiser geworden und ich glaube, dass vielleicht auch die Eltern sich gewandelt haben. Jeder erhält eine zweite Chance – und das ist etwas Wunderbares.