Dunkel und poetisch
Pierre Audi inszeniert die Neuproduktion von Verdis Rigoletto (Premiere 20. Dezember 2014) an der Wiener Staatsoper. Im Gespräch mit Bettina Auer sprach er über seine Sichtweise des Werkes.
Verdi ist der Meister der knappsten, dichtesten Expositionen. In Rigoletto wird bereits in dem kurzen Gespräch zwischen Duca und Borsa, das die Oper eröffnet, der zentrale Konflikt entfaltet.
Pierre Audi: Die erste Szene ist sehr modern, weil sie musikalisch wie ein Film geschrieben ist. Die Musik ist die Kamera und bewegt sich frei von Totale zu Halbtotale zur Nahaufnahme durch eine orgiastische Party. Auf dieser Party sehen wir auf sehr merkwürdige Beziehungen zwischen dem Duca, seinen Höflingen, Rigoletto und Monterone. Sehr schnell und virtuos wird dort eine komplizierte Geschichte über einen Mann und seinen Hof erzählt, der seine eigene Philosophie spiegeln soll, die Philosophie des „anything goes“: Wenn mich eine Frau langweilt, nehme ich eine andre; ich bin also nicht treu, weil zehn andere auf mich warten. Gleichzeitig gibt es Regeln an diesem Hof, denn dort herrschen Macht, Geld und Korruption.
Warum ist der Duca, dessen erotische Unersättlichkeit und notorische Untreue bekannt ist, für die Frauen dennoch so attraktiv?
Pierre Audi: Der Duca ist ein Charmeur und ein Naturtalent im Lügen. Lügner können sich sehr schnell in andere Menschen hineinversetzen. Als bipolarer Charakter wechselt er blitzartig von schwarz auf weiß, was auch attraktiv sein kann, weil er genau das hervorkehren kann, was der jeweiligen Frau gefällt: Macht, Geld, Sex oder den romantischen Liebhaber. Bei Gilda gibt sich der Duca als armer Student aus, um den Sehnsüchten dieser armen jungen Frau zu entsprechen, die er missbrauchen wird. Es ist nicht nur ein moralischer Skandal, einen König (der aufgrund der Zensur im 19. Jahrhundert in einen Herzog verwandelt werden musste) so darzustellen, sondern auch ein sehr merkwürdiges, schockierendes Paradox von Verdi, einen solch zerstörerischen, manipulativen Charakter zu entwerfen und ihm gleichzeitig all diese verführerische Musik zu geben. Ich frage mich wirklich, wie kritisch Verdi diesem Charakter gegenübersteht? Das bringt den Regisseur in eine schwierige Lage: Du kannst den Duca als wahres Monster vorführen, aber du kannst ihn auch sehr ehrlich zeigen, wie er ist, und das Urteil dem Publikum überlassen. Letzteres finde ich interessanter.
Hat das Leben in dieser verrohten, brutalen Hofgesellschaft Rigoletto böse und zynisch gemacht?
Pierre Audi: Rigoletto hat einen Job am Hof. Er ist der Narr, der die Leute zum Lachen bringen muss, aber auch die Wahrheit sagen darf. Deshalb darf er selbst die Adligen in aller Öffentlichkeit verletzen, obwohl er im Grunde nur ein Diener ist. In Rigolettos Privatleben ist offensichtlich etwas Schreckliches, Traumatisches passiert, wie er im Duett mit Gilda im ersten Akt andeutet. Wir erfahren nichts Genaues darüber, nur dass Gilda Waise ist, da ihre Mutter gestorben ist. Als Familie ist ihr nur einVater geblieben, der in dieser wahnwitzigen Welt solche Angst um seine Tochter hat, dass er sie einsperrt und Giovanna angestellt hat, um Gilda zu überwachen. Eigentlich zerstört er Gildas Leben.Rigoletto hasst seine Arbeit, hasst es, dass er für diesen schrecklichen Mann, den Duca, arbeiten muss. Das sagt Rigoletto mehrmals in der Oper. Als er in der ersten Szene beim Grafen Ceprano in seiner Bösartigkeit zu weit geht, erleben wir, wie aggressiv der Duca ihm gegenüber werden kann. Am Ende der Party hasst ihn der ganze Hof, so dass Rigoletto alle, inklusive des Duca, gegen sich hat. Er ist völlig isoliert – an seinem Arbeitsplatz und auch zuhause. Für mich ist Rigoletto gewissermaßenein italienischer Wozzeck.
Wenn ich während der Proben beobachte, wie du mit Simon Keenlyside an der Figur des Rigoletto arbeitest, muss ich einerseits an ein verwundetes Tier denken, andererseits an einen Maniac. Ist Rigoletto Opfer oder Täter?
Pierre Audi: Es gibt einen pathologischen Charakterzug an ihm, eine Beschädigung, mit der er vielleicht geboren wurde und die durch sein Leben schlimmer geworden ist. Dadurch ist er fähig, die Idee, jemanden zu töten, zu akzeptieren, denn er beauftragt Sparafucile, den Duca zu ermorden. Wenn jemand zu diesem Punkt kommt, hat der die Grenze des Normalen überschritten. Seine Tochter bittet ihn zu vergeben, auch wenn sie bedauert, dass sie den Duca noch liebt. Doch Gilda würdenie daran denken, jemanden zu töten. Rigoletto hingegen kann zum Tier werden. Rigoletto ist also beides, Opfer und Täter. Das kann man leicht damit begründen, dass etwas Schlimmes in seinem Leben passiert ist. Ich denke aber, dass es auch mit genetischer Veranlagung zu tun hat. Rigoletto ist einfach ein Mensch, manches hat ihn schlechter und manches auch sehr empathisch gemacht. Ein komplizierter Charakter!
Warum lässt sich Gilda – für mich die stärkste Figur von allen – anstelle des Duca von Sparafucile töten?
Pierre Audi: Ich denke, Gilda spaltet sich. Ein Teil von ihr weiß, dass sich die Probleme mit ihrem Vater nicht lösen werden, und der andere Teil weiß, dass der Duca niemals der Mann werden wird, für den sie ihn hält. Oder Gilda hängt an ihrer Vision von Liebe – das letzte, was sie hat. Doch in dieser Vision wird die Liebe sehr leicht die Vision vom Tod. Liebe und Tod kommen sich schließlich so nahe, dass sie kein Problem hat, Selbstmord zu begehen. Denn das ist es: Sie beendet ihr Leben.Das Ende kündigt sich schon in ihrer „Gualtier Maldé“-Arie im ersten Akt an, gewissermaßen eine transzendente Arie, eine Form von Levitation, bei der Gilda diese Erde schon verlässt. Wie eine Wolke steigt sie zu einem anderen Ort auf. Das erste Anzeichen ihres Verständnisses von Tod ist diese „Schlaf“-Arie, in der Gilda davon spricht, mit diesem Mann in einer anderen Welt verbunden zu sein.
Wie aktuell ist die Geschichte von Rigoletto für dich?
Pierre Audi: Die Geschichte ist unglaublich düster – erstaunlich, dass dies eine der populärsten Opern des Repertoires ist! Es wäre sehr einfach, Rigoletto beispielsweise in eine Gangsterwelt zu versetzen, nach Las Vegas oder in eine heutige korrupte Gesellschaft. Wir haben aber beschlossen, die Geschichte nicht zu aktualisieren, da sie zeitlos ist - genau wie Shakespeares Dramen, die er im 16. Jahrhundert geschrieben hat und mit deren Figuren man sich auch heute völlig identifizieren kann. Wir müssen ein österreichisches Publikum nicht darüber belehren, was es bedeutet, wenn ein Vater seine Tochter einsperrt. Wir als Team sind mehr daran interessiert, Rigoletto auf poetische, dunkle Weise zu erzählen.
Das Gespräch führte Bettina Auer
Pierre Audi wurde in Beirut (Libanon) geboren. Er studierte an der Universität Oxford (Großbritannien). 1979 gründete er das Almeida Theatre in London und dessen Festival für zeitgenössische Musik, das er bis 1989 leitete. Seit 1988 ist er Direktor von De Nationale Opera in Amsterdam. Als Regisseur arbeitete er mit zahlreichen Bildenden Künstlern wie Karel Appel, Georg Baselitz, Anish Kapoor, Herzog & De Meuron, Jannis Kounellis und Jonathan Meese zusammen.Audi inszenierte an seinem Haus zahlreiche Opern, darunter einen Monteverdi-Zyklus, den Ring, Werke von Mozart, Gluck, Berlioz, Rameau, Händel, Rossini, Puccini und zuletzt Schönbergs Gurre-Lieder. Außerdem verwirklichte er als Regisseur ein breites Spektrum zeitgenössischer Musiktheaterwerke, u. a. Punch and Judy, Neither, Reves d'un Marco Polo sowie Uraufführungen von Loevendie, Janssen, Harvey, Henze, Tan Dun, Vir, Saariaho, Knaifel, Zuidam und Rihm.Als Gastregisseur war er u. a. eingeladen an die Münchener Staatsoper (Venus und Adonis), das Königliche Schlosstheater Drottningholm (Tamerlano, Alcina, Zoroastre), die Salzburger Festspiele (Zauberflöte, Dionysos), die Opéra de Paris (La Juive, Tosca), das Théâtre des Champs-Elysees (II matrimonio segreto, Orlando furioso, Médée), das Theater an der Wien (Partenope), das Théâtre de la Monnaie (Pelléas et Melisande, Iphigénie en Aulide, Iphigénie en Tauride, Orlando), die MET (Attila), die Ruhrtriennale (Gisela!) und das Teatro Real Madrid (Die Eroberung von Mexico). Im Schauspiel inszenierte Pierre Audi Timon von Athen, Ödipus und Nach Damaskus für Toneelgroep Amsterdam, Maß für Maß und Berenice für Zuidelijk Toneel.Er erhielt zahlreiche Preise, darunter den Preis der holländischen Theaterkritik und den Theaterpreis des Prinz Bernhard Kulturfonds. 2009 war er der erste Preisträger des Johannes Vermeer Preises, einem Staatspreis für Kultur in den Niederlanden. Er wurde zum Ritter im Orden des holländischen Löwen und zum Chevalier de la Legion d'Honneur ernannt.Von 2004 bis 2014 war Audi zudem Künstlerischer Direktor des Holland Festivals, wofür er mit der Silver Medal of the City of Amsterdam geehrt wurde.