»Die wesentliche Frage ist die nach der emotionalen Verkleidung.«
In deinem Opernkalender steht unsere Neuproduktion von Così fan tutte an einer interessanten Stelle: Du hast gerade in Amsterdam Puccinis Il trittico neu erarbeitet. Im Sommer zeigst du in Aix-en-Provence einen ungewöhnlichen Doppelabend mit Peter Maxwell Davies’ Eight Songs for a Mad King und György Kurtágs Kafka-Fragmente: ein Monodrama für Bariton, ein Miniaturenzyklus für Sopran. Welchen Stellenwert nimmt Così fan tutte in deinem arbeitsreichen Opernjahr ein?
Was den Trittico betrifft: ich war immer ein riesiger Puccini-Fan. Es ist ein Privileg, diese Musik zu proben Ich denke, Puccini hat die Emotion und die Psychologie verstanden wie nur wenige außer ihm, die besten – Janáček, Monteverdi, Mozart oder Wagner. Was Puccini vor allem in Werken wie Il tabarro und Gianni Schicchi gelingt, sind die ständigen Wechsel, diese ständigen Überraschungen in den Klängen. Man weiß nie, wohin die Musik führen wird – weil sie immer von den Emotionen und der Psychologie des Narrativs geleitet ist. Und genau so ist es bei Mozart und Da Ponte. Auch wenn man die Stücke gut kennt, wird man immer aufs Neue überrascht. Im zweiten Akt von Le nozze di Figaro überrascht es mich immer aufs Neue, wie die Musik sich entspinnt und an der Geschichte entlang entwickelt, und ich finde die Ensembles in Così in dieser Hinsicht ähnlich – man wird mitten in die Turbulenzen der Figuren geführt, ohne zunächst zu wissen, wo all das hinführen wird. Das ist etwas, das Mozart meisterhaft beherrscht hat, und Così fan tutte ist ein perfektes Beispiel für diese Meisterschaft. Für mich hat diese Saison darum einen ganz wunderbaren Bogen. Meine Saison wird in Aix mit zwei kleinen Produktionen von Kammerwerken von Peter Maxwell Davies und György Kurtág enden – zwei Komponisten, die ich sehr bewundere. Unsere Così-Produktion ist der ideale Ort zwischen dem Trittico und diesem kleinen Projekt: In ihr verbindet sich das großartige Komponieren emotionaler Verwerfungen mit der Kammerspielsituation, die ich in Aix haben werde. Denn unsere Così wird sehr kammerspielartig sein, mit dem Chor aus dem Off, ohne Tänzer, ohne Statisterie.
»In Così fan tutte – im Gegensatz zu Don Giovanni und Le nozze di Figaro – sind Rollenspiel und Verkleidung der
natürliche Kern der Oper, was uns einen sehr fruchtbaren Boden für die Inszenierung bietet.«
In den vergangenen Jahren hast du sowohl Don Giovanni als auch Le nozze di Figaro an der Wiener Staatsoper inszeniert. Beide Opern hattest du schon vorher erarbeitet, Le nozze di Figaro sogar mehrmals. Così fan tutte dagegen noch nie. Warum nicht?
Ich habe fünfunddreißig Jahre gewartet, ehe ich gewagt habe, Così fan tutte zu machen. Nicht, weil ich nicht wollte. Ich fand, dass ich noch nicht so weit war. Viele Intendanten beauftragen sehr junge Regisseurinnen und Regisseure mit Così fan tutte, was ich nicht für die beste Idee halte. Ich denke, man braucht eine ganze Menge Erfahrung, um dieses Stück auf die Bühne zu bringen. Und selbst dann ist es schwer. Eigentlich ist Così fan tutte für mich die am schwierigsten zu inszenierende der drei Mozart-Da-Ponte-Opern. Figaro und Don Giovanni sind schwierige Stücke, aber für mich ist Così fan tutte eine noch viel größere Herausforderung.
Was macht das Werk so schwierig?
Die Erzählstruktur von Così fan tutte ist sehr klar und einfach. Es geht um Kollisionen, die sich zwischen einer Gruppe unterschiedlicher Menschen ergeben. Aber das Aneinanderfügen dieser Konstellationen ist wie ein filigranes Puzzle, das nur durch eine sehr präzise Arbeit zusammengesetzt werden kann. Così fan tutte lebt – mehr als Figaro und mehr als Don Giovanni – von der konkreten Darstellung auf der Bühne. Denn das Werk ist letztlich viel abstrakter, als es zuerst scheint: Wenn man zum zweiten Akt kommt, hat sich die Erzählung aufgelöst. Aber gerade im zweiten Akt, in dieser Auflösung, gibt es außergewöhnliche Momente menschlicher Interaktion, die völlig ungeschützt und schmerzhaft und schön sind. Und deshalb ist Così ein solches Meisterwerk – und so schwer zu inszenieren.
Du hast die Disposition von Così fan tutte oft als die eines »Experiments« bezeichnet, manchmal hast du das Stück auch ein »Laboratorium« genannt. Despina spielt zwar eine bedeutsame Rolle, aber derjenige, der das Experiment letztlich betreibt, ist Don Alfonso. Eine Grundfrage für jede Auseinandersetzung mit dem Werk ist: Warum macht er das? Was treibt ihn in deiner Version der Geschichte an?
Ich denke, dieser Frage muss man sich im größeren Zusammenhang widmen: Was ist Don Alfonsos Status, was ist sein Verhältnis zu den jüngeren Männern? Das Stück entwickelt sich im Lauf des Abends immer weiter in Richtung emotionale Abstraktion – man muss vorher ein ganz bestimmtes Setting für das Experiment etabliert haben. Ich
habe Produktionen von Così fan tutte gesehen, die sich gar nicht mit der Frage beschäftigt haben, wer Don Alfonso eigentlich ist. Für mich war das eine sehr wichtige Frage. Darum habe ich auch lange über den Rahmen nachgedacht, in den ich ihn stellen könnte: Was wäre ein Setting, in dem man damit spielen kann, was echte Emotion und was gespielte Emotion ist; was das Annehmen einer Rolle, eines Kostüms oder einer Haltung zu Liebe bedeutet? In was für einem Raum kann man die Emotion auf Kommando starten und wieder stoppen, in sie eintreten und aus ihr aussteigen und sie auch noch kommentieren? Was wäre das für eine Welt? Irgendwann wurde mir klar: Es ist der Probenraum.
Deine Überlegungen haben dich also in die Theaterwelt geführt.
Ich habe begonnen, mir Don Alfonso als Regisseur und Theaterintendanten vorzustellen. Er arbeitet mit vier jungen Sängerinnen und Sängern, die eine mehr oder weniger obskure Oper einstudieren, und Despina ist die Inspizientin. Die vier jungen Leute bilden zwei Liebespaare. Wir spielen mit der Idee, dass Don Alfonso eine Art Method-Regisseur aus der Hölle ist. [Method Acting: Schauspieltechnik auf der Grundlage von Einfühlung und kalkulierter Reproduktion von Emotionen nach Lee Strasberg und
K. Stanislawski, Anm.] Er benutzt nun den Rahmen von Probe und Spiel, um seinen Standpunkt zu belegen: Dass Frauen prinzipiell untreu sind. Es ist wichtig, das zu betonen, man kann der immanenten Misogynie des Stücks nicht entgehen. Don Alfonso ist ein unangenehmer Character. Wir müssen also einen Weg finden, dass wir nicht im 21. Jahrhundert einfach sagen: Es ist so, wie er es sagt. Das kann nicht das Stück sein.
Die Originalgeschichte ist so konstruiert, dass die scuola degli amanti eine Schule für Männer ist. Die Frauen sind in gewisser Weise der Unterrichtsgegenstand. Wie stärkst du die Position der Frauen in deiner Inszenierung?
Das ist eine essenzielle Frage. Ich denke, es hilft sehr, dass wir Fiordiligi und Dorabella in unserer Produktion schon ganz am Anfang auf der Bühne haben. Das heißt, dass die Frauen hören, was Don Alfonso über sie sagt, und darauf reagieren können. Die werden entsprechend einen ganz anderen Weg durch das Stück nehmen. Grundsätzlich
finde ich die Entwicklung der Frauen im Verlauf des Stücks viel interessanter als die der Männer. Ihre Arien sind auch viel facettenreicher und interessanter. Und zugleich finde ich es erstaunlich, wie viel man in diesem Stück mit ein wenig Humor und Selbstreflexion erreichen kann, was den Blick der Frauen auf ihre eigenen Positionen betrifft.
Così fan tutte hat eine lange Bearbeitungstradition – schon einige Jahre nach der Uraufführung begannen die Theater, Änderungen am Text und an der Geschichte vorzunehmen, bis hin zu Versionen, die Da Pontes Text vollständig ersetzten. Aber auch weniger radikale Adaptionen legten oft Wert darauf, dass die Frauen von der Intrige – der Wette – erfahren und entweder mitspielen oder sich rächen. Durchschauen Dorabella und Fiordiligi in deiner Version, was gespielt wird? Oder stellt sich die Frage angesichts der Theatersituation, die du etablierst, ganz anders?
Die Grundannahme führt zu einem ungewöhnlichen Verlauf. In unserer Version werden sich die vier jungen Leute bewusst entscheiden, an einem Theaterexperiment teilzunehmen. Wir werden also vier Menschen sehen, die in alles eingeweiht sind, aber spielen, dass sie nicht wissen, was gespielt wird. Und dabei Charaktere darstellen, die ebenfalls keine Ahnung haben. Dadurch können wir eine Situation schaffen, die zum Kern des Tacheles führt, um das es in dem ganzen Stück geht: Kann man Emotionen »faken«? Kann ich dich überzeugen, dass ich dich liebe – durch die Art, wie ich mich ausdrücke? Und was geschieht, wenn es im Verlauf eines künstlichen, erfundenen Spiels plötzlich zu einer Offenbarung kommt?
Ein wichtiger Punkt: In dem ganzen Stück geht es darum, Wahrheit zu erzeugen, Wirklichkeit zu manifestieren. Don Alfonsos Projekt ist es, einen Punkt zu beweisen – allerdings innerhalb eines Spiels von Verkleidung und Versuchung, das die Grenzen der vier Liebenden verschiebt. Du hast Method Acting erwähnt, jene künstlerische Technik, die glaubwürdige, »authentische« Emotionen auf der Bühne und im Film erzeugen und reproduzieren soll. Nun können wir diese Idee, authentische Emotionen zu erzeugen, mit den jüngsten Diskussionen über das Theater als einen Raum in Verbindung bringen, in dem das Überschreiten von Grenzen traditionell als Teil der Kunst angesehen wird.
Absolut. Zunächst hat Così fan tutte eines mit allen großen Musiktheaterwerken gemeinsam: Es folgt einer Logik und Regeln, die nicht die Regeln des Lebens sind. Es gibt nichts Realistisches oder Natürliches an der Oper – und durch ihre Künstlichkeit, durch die Noten der Musik und die Silben des Textes, wird eine größere Wahrheit enthüllt. Meiner Meinung nach ist das der Sinn der Kunst und des Theaters. In Così fan tutte – im Gegensatz zu Don Giovanni und Le nozze di Figaro – sind Rollenspiel und Verkleidung der natürliche Kern der Oper, was uns einen sehr fruchtbaren Boden für die Inszenierung bietet. Ich glaube nicht, dass es in dem Stück um Treue geht. Die wichtigen Themen im Kern des Werks habe ich schon angesprochen: Kann ich Liebe vortäuschen? Was passiert, wenn ich mich beim Vortäuschen von Liebe verliebe? Wir befinden uns hier in Shakespeare’schen Gefilden. Durch die Komödie, durch die Skurrilität des Rollenspiels, kommt es zu einer Offenbarung. Ein Motiv, das bis in die griechische Antike zurückgeht und sich durch die gesamte Geschichte des Theaters zieht.
Shakespeares Cymbeline wird manchmal als Quelle einiger Topoi in Così fan tutte genannt, die sich wiederum auch in Boccaccios Decamerone finden. Als wir zum ersten Mal über Così fan tutte gesprochen haben, war dir aber ein anderes Werk Shakespeares wichtig: The Tempest – Der Sturm.
In The Tempest versucht Prospero, die Handlung zu kontrollieren. Die Insel, die er beherrscht, hat viel mit einem Theater gemeinsam. Man könnte sagen, dass er versucht, die ganze Vorgeschichte und dann auch die Hauptgeschichte von The Tempest zu inszenieren: Ariel und Caliban, seine Tochter, die Liebesgeschichte, der Sturm: der ganze Mechanismus von The Tempest ist eine Theatermetapher. Don Alfonso ist nicht Prospero, aber er ist von seiner Fähigkeit überzeugt, alles zu kontrollieren und die vier jungen Leute wie Schachfiguren durch sein Spiel hindurchzudirigieren und zu manipulieren. Der Unterschied ist, dass Prospero entscheidet, sein Spiel zu beenden. Don Alfonso trifft diese Entscheidung nicht. Das Experiment gerät außer Kontrolle. Das macht ihn zu einer Art gescheitertem Prospero.
Sprechen wir über das Verkleiden. Es ist ein unheimlich wichtiges Thema in Così fan tutte – die ganze Geschichte basiert darauf, und jede Inszenierung muss Entscheidungen über die Art und Funktionsweise der Verkleidung treffen, die das Ergebnis drastisch beeinflussen. Die Geschichte des Verkleidens ist uralt und faszinierend, im Theater wie in der Mythologie. Masken wurden mit Verführung und Erotik, aber auch mit Verrat und Missbrauch in Verbindung gebracht.
Hier zeigt sich diese außergewöhnliche Reflexion aus der Mythologie, dem Märchen, der Literatur und dem Theater. Einer der verbreitetsten Topoi in allen Formen des Geschichtenerzählens ist die Idee, sich zu verkleiden: Jupiter, Merkur, Pluto. Aber was bedeutet das? Tatsächlich ist das Verkleiden omnipräsent: Schon durch die Kleidung, die wir tragen, verkleiden wir uns. Wir verstecken uns. Wir versuchen, uns durch unsere Körper und unsere Kleidung so in Szene zu setzen, wie wir gesehen werden wollen. Unser Leben ist performativ. Und das spiegelt sich natürlich auch im Theater wider. Shakespeare war besessen von Verkleidungen. Don Giovanni und Le nozze di Figaro haben prominente und wichtige Episoden, in denen Verkleidungen verwendet werden. In Così ist die Verkleidung aber das Fleisch, sie ist das Hauptgericht. Hier ist die Verkleidung die absolute theatralische Metapher für das Liebesexperiment, um das es geht: Die wesentliche Frage, die gestellt wird, ist die nach der emotionalen Verkleidung. Emotionen werden mit anderen Emotionen getarnt, künstlich erzeugte, erfundene Emotionen werden real und erzeugen neue Emotionen – und am Ende wird niemand mehr sagen können, welche dieser Emotionen authentisch sind. Oder die Frage ist sogar obsolet. Überhaupt ist die Verkleidung etwas ganz Ursprüngliches in der Kunst des Theatermachens. Sie ist die Grundlage des Theaterspiels.
Du hast öfter darauf hingewiesen, dass du den Schmerz und die Emotionen in diesem Stück über das Verkleiden und Täuschen als sehr real empfindest. Kannst du Momente nennen – auch musikalische – auf die das für dich zutrifft?
Das Quintett im ersten Akt ist ein ideales Beispiel dafür. Alle warten auf das Trio »Soave sia il vento«, das natürlich eine außergewöhnliche Musik beinhaltet – es erzählt von Abschied, Melancholie, Sehnsucht, Schönheit. Aber ich finde, dass die schmerzhafteste Musik davor zu hören ist, im Quintett. Das ist Mozart in seiner phänomenalsten Form. Und meine Lieblingsarie ist wahrscheinlich Fiordiligis »Per pietà« im zweiten Akt. Für mich ist diese Arie eine unglaubliche Achterbahnfahrt. Es gibt noch viele andere, aber ich möchte diese beiden Beispiele dafür anführen, wie Schmerz und Schönheit, Sehnsucht und Frustration in Musik umgesetzt werden können. Mozart präsentiert uns eine menschliche Erfahrung ohne Haut. Es ist Blut und Muskeln und Knochen – es tut weh.
Eine sehr künstliche Situation, die in Musik gesetzt sehr reale Emotionen erzeugt.
Die Künstlichkeit ist der Auslöser, aus dem diese Emotion folgt. Wie alle große Musik und wie alle großen Momente in der Oper spielen aber viele Aspekte eine Rolle. Wenn Wotan am Ende der Walküre den Abschied von Brünnhilde singt, geht es nicht nur um eine Sache. Wenn Wozzeck zu artikulieren versucht, was er in seiner zerbrochenen Sprache nicht artikulieren kann, hat das viele Facetten. Bei Così fan tutte ist wahrscheinlich das Wesentliche, dass die ganze Geschichte niemals in Klarheit enden kann.