© Peter Mayr

DIE VIELSCHICHTIGKEIT eines tollen Tages

Mit der aktuellen Neuproduktion von »Le nozze di Figaro« wird der im Vorjahr begonnene Mozart-Da Ponte-Zyklus fortgesetzt. Am Pult des bis heute mit Abstand meistgespielten Werkes an der Wiener Staatsoper steht wieder Musikdirektor Philippe Jordan, der im folgenden Gespräch Einblicke in diese einzigartige Partitur gibt.

Informationen & Karten »Le nozze di Figaro«
 

Den drei gemeinsam mit Da Ponte geschaffenen Werken wird innerhalb des Mozart’schen Opern-Œuvres eine Sonderstellung eingeräumt. Über die »Rangordung« innerhalb der Trias wird hingegen oft und gern diskutiert.

PHILIPPE JORDAN Le nozze di Figaro ist wie aus einem Guss geformt und vielleicht Mozarts am perfektesten gebaute Schöpfung für die Musiktheaterbühne. Spätestens mit der Entführung aus dem Serail hatte er ja begonnen, elementar in die Libretti einzugreifen, mitzugestalten, dem von schablonenartigen Archetypen geprägten Personal Leben einzuhauchen und die seelischen Tiefenbohrungen musikdramaturgisch immer nuancierter zu begründen. Seine kompositorische Weiterentwicklung, die immense, nicht zuletzt durch zahllose Theaterbesuche geschärfte Erfahrung, sowie das Glück der künstlerisch so fruchtbaren Partnerschaft mit dem kongenialen Lorenzo Da Ponte haben ihn aber im Figaro einen weiteren Gipfel erreichen lassen. Dass die drei mit Mozart gemeinsam in kurzer Abfolge geschaffenen Meisterwerke Nozze di Figaro, Don Giovanni und Così fan tutte sich in der Art eines Triptychons gegenseitig zu ergänzen scheinen, erhöht ihre Sonderstellung noch zusätzlich. Die Handlung jeder dieser Komödien umfasst einen Zeitraum von maximal 24 Stunden – gemäß dem im Titel der Beaumarchais’schen Vorlage konkretisierenden Hinweis La Folle Journée verkörpert Le nozze di Figaro demnach das Tagstück – und in allen drei Fällen ist eine südländische Brise, eine an italienischen Vorbildern geschulte besondere Farbe spürbar, insbesondere in der Ausformung der Charaktere, die in den deutschsprachigen Bühnenwerken Mozarts in dieser Form nicht vorkommt.

Eine besondere, nirgendwo zuvor zu beobachtende Qualität erreichte Mozart im Figaro auch in der Gestaltung der Rezitative.

PJ In ihrer Lebendigkeit, ihrer musikalischen Gestik animieren sie regelrecht zum Mitsingen, in ihrer psychologischen Raffinesse und grundsätzlichen Vielschichtigkeit und Doppeldeutigkeit fördern und fordern sie die kreative Interpretationsarbeit, gerade weil nichts, kein Ton, keine Pause, keine rhythmische Wendung zufällig notiert ist. Mozart zeigt ein unglaubliches Gefühl, einen Instinkt, wie er mit den genialen textlichen Vorgaben Da Pontes umgeht. Jedem Detail, jeder Interpunktion wird musikalisch entsprochen, sodass von der Interpretin, vom Interpreten ein unentwegtes Denken zwischen den Zeilen und Worten erwartet wird. Barrie Kosky hat es schön auf den Punkt gebracht, als er bei einer der Proben feststellte, dass man beim Singen eines Satzes im Kopf bereits den nächsten Gedanken formulieren muss. Wenn Pointen und Schlüsselworte gut gesetzt werden, wenn man das Gesangstempo der oft sehr gedrängten inhaltlichen Information am dramaturgischen Zusammenhang ausrichtet, einen durchgehenden Rhythmus findet, zeigen sich diese oft unterschätzten, mitunter sträflich vernachlässigten Passagen als funkelnde Kleinodien, die sich zudem organisch mit den Arien und Ensemblenummern verbinden. Lässt man beispielsweise im Rezitativ vor Cherubinos »Non so più cosa son« Susanna als Kontrast zum aufgeregten, sich überschlagenden Pagen eher langsam, beruhigend reden, wird ein wirkungsvoller symbolischer Doppelpunkt gesetzt, der nahtlos und stringent in die Arie überleitet. Wie groß ist doch die diesbezügliche Fallhöhe zu den von Süßmayr verfertigten eher linkischen und steifen Secco-Rezitativen in Mozarts letzter Oper La clemenza di Tito!

Diese Lebendigkeit, psychologische Raffinesse, Vielschichtigkeit beschränken sich selbstverständlich nicht auf die Rezitative allein.

PJ Sie durchziehen natürlich die gesamte Partitur. Ein Reichtum, der sich gleich im ersten Akt in seiner gesamten Pracht vor dem Zuschauer ausbreitet und in seiner Diversität den Beteiligten, allen voran dem Dirigenten, immer wieder zur anregenden, spannenden Herausforderung wird: Innerhalb von rund 40 Minuten werden neben dem Chor nicht weniger als sieben der acht zentralen Charaktere in rascher Reihenfolge eingeführt und eine unglaubliche Intrige am Laufen gehalten: Figaro und Susanna mit ihren Hochzeitsabsichten, der antagonistische Graf, der Querschläger Cherubino, dazu Marcellina, Bartolo, Basilio, die wiederum von je eigenen Interessen angetriebenen werden. Lediglich die Gräfin fehlt in diesem dramaturgisch so genial gestalteten Getümmel, wodurch ihr Sonderstatus elegant unterstrichen wird. Um den von den Schöpfern intendierten Schwung dieses Aktes zu realisieren, der beabsichtigten Komplexität zu begegnen, ist der Dirigent auf eine ausgefeilte Tempodramaturgie angewiesen. Er muss darauf achten, einen gewissen pulsierenden Zug, eine von der quirligen Ouvertüre ausgehende Relation aufrecht zu erhalten. Da gibt es kein Stop- and-Go! Gleich die ersten beiden Duette werden daher, meines Erachtens nach, gelegentlich zu gemütlich genommen. Aber sie sollten vielmehr einen spielerischen Charakter erhalten – schließlich wird hier die ganze Bühnenaktion in Gang gesetzt. Man könnte darüber diskutieren, ob die erste Cherubino-Arie als kurzer Moment des Innehaltens zu verstehen ist. Ich persönlich sehe hier aber eher ein atemloses Abbild des zutiefst hormongesteuerten, pubertierenden, unentwegt stürmenden und drängenden Burschen und behalte daher den schon mit der Ouvertüre aufgenommenen, vorwärtstreibenden Duktus bis zur Gräfinnen-Arie am Beginn des zweiten Aktes bei.

Man findet im ersten Akt ja auch keine einzige langsame Tempobezeichnung. Das Larghetto der besagten ersten Gräfinnen-Arie ist das bis dahin Langsamste.

PJ Und auch diese Stelle ist nicht wirklich langsam – zumal sie im 2/4-Takt steht. Grundsätzlich sind die von Mozart verlangten Zusatzinformationen aussagekräftiger als die eigentliche Tempo-Angabe: Bei einem »Allegro con spirito« ist zum Beispiel das »con spirito« von größerer Wichtigkeit für den Interpreten als das »Allegro«. Zudem sollte man immer vom natürlichen Sprachrhythmus ausgehen und auch die Tempo-Relationen in der Gesamtarchitektur aufeinander abstimmen. Besonders deutlich wird das in den beiden Ketten-Finali – am Ende des zweiten und vierten Aktes: Die hier sprudelnden musikalischen Einfälle sind in eine Form gegossen, in der sich jeder Abschnitt auf geniale Weise aus dem vorangehenden entwickelt. Hier gilt es die Übergänge schlüssig zu gestalten und die Tempi der einzelnen Szenen in Beziehung zueinander zu setzen. Wenn man es genau nimmt, sind solche Finali ein Stück weit die Vorboten der durchkomponierten Oper!

Interessanterweise gibt es im gesamten Werk kaum Moll-Abschnitte. Ins Auge stechen nur die Barbarina-Kavatine am Beginn des vierten Aktes, das halbe Duett Susanna/Graf und der Fandango im dritten Akt.

PJ Die vor allem ab der Romantik gebräuchliche Gleichung »heiter ist Dur und traurig ist Moll« stimmt in der Wiener Klassik noch nicht. Gerade der Fandango ist alles andere als traurig – trotz des a-Moll. Und wie phänomenal gelang es Mozart doch, mit beiden Gräfinnen-Arien Schwermut und Melancholie in Dur auszudrücken! Andererseits wissen wir, dass es sich bei der Gräfin jeweils nur um emotionale Momentaufnahmen handelt und keine manifeste depressive Stimmung der immer noch jungen Frau vermittelt werden soll. Sie wird ja, wie wir wissen, mit Cherubino und auch Susanna durchaus noch Spaß haben, ist also nicht unbedingt selbstmordgefährdet. Richard Strauss hat im ersten Aufzug des Rosenkavalier beim »Kann mich auch an ein Mädel erinnern« der Marschallin genau diese Stimmung aufgegriffen – man möchte fast von einem Plagiat sprechen – und die Stelle mit »heiter bewegt« überschrieben... Dass Mozart die Grundmelodie seines »Dove sono« schon sieben Jahre vorher als »Agnus Dei« in seiner Krönungsmesse verwendet hat und sie in beiden Fällen optimal ins jeweilige inhaltliche Ambiente passt, spricht übrigens zusätzlich für die Größe des Einfalls.

Eine kleine Detail-Frage: Worin unterscheiden sich die beiden Gräfinnen-Arien?

PJ Die erste – »Porgi amor« – hat einen absoluten Lied-Charakter, sie könnte fast von Schubert sein – es handelt sich ja auch »nur« um eine Kavatine. Das »Dove sono« hingegen ist eine klassische Opernarie mit einem Rezitativ, einem langsamen und einem nachfolgenden schnellen Teil.

Die Ouvertüre haben wir schon angesprochen. Im Grunde ist sie untypisch für die damalige Zeit. Es fehlt zum Beispiel der Langsam-Schnell-Aufbau.

PJ Und die bei Mozart üblichen einleitenden Orchesterakkorde. Genau genommen existiert nicht einmal ein wirkliches Thema, sondern eher Figuren, die sich um sich selbst drehen. Und wenn wir doch von einem Thema sprechen wollen, so finden wir ein siebentaktiges, statt eines erwartbaren achttaktigen. Es wird also schon formal angedeutet, dass hier etwas aus den Fugen geraten ist. Auch dieses nervöse Presto sowie der Pianissimo-Beginn, der dann in ein Fortissimo umschlägt – Mozart lässt die für seine Zeit extremsten dynamischen Möglichkeiten unmittelbar aufeinanderprallen – soll all die unerwarteten, gleichsam sprudelnden Geschehnisse dieses sogleich anbrechenden tollen Tags antizipieren und das Publikum in entsprechende Aufregung versetzen.

Wie sieht es in puncto Dynamik nach der Ouvertüre aus? Wie viele Freiheiten hat der Interpret, die Interpretin?

PJ Mozart geht hier einen neuen Weg, da er vor allem in den Ensemblestellen ungewöhnlich oft dynamische Angaben macht. Da ein Piano oder sotto voce, dort ein Forte oder Diminuendo. Wir treffen erneut – wie schon bei den Secco-Rezitativen – auf die zahllosen Zwischentöne, Wortspiele und Mehrdeutigkeiten dieser Partitur. Die Sänger sind hier in der Tat gefordert!

Könnte man sagen, dass jeder Akt eine eigene Grundfarbe besitzt?

PJ Sicherlich besitzt der erste Akt, beginnend mit der Ouvertüre, eine helle und brillante Anmutung, der zweite strahlt durch die b-Tonartenlastigkeit eine gewisse noble und kammerspielartige Intimität aus – wir befinden uns schließlich im Gemach der Gräfin. Der dritte Akt changiert zwischen dem dunkel-bedrohlichen Gericht und einer hoffnungsfrohen Hochzeitsatmosphäre, und der vierte spiegelt eine gewisse Nachtstimmung, eine Sommernachtstraumstimmung wider. Aber ganz grundsätzlich hat Mozart in puncto Tonarten und Instrumentation den schon in der Entführung eingeschlagenen Weg noch ausgereifter fortgeführt. Schlechterdings besitzt dadurch auch jede Nummer und jeder Charakter eine eigene Farbe – Susanna befindet sich zum Beispiel eher im Kreuztonarten-Bereich, ist in der Begleitung eher streicher- und oboenlastig, der Graf verfügt über Pauken und Trompeten – andererseits treten subkutane Beziehungslinien deutlicher hervor: dass Cherubino und die Gräfin mit b-Tonarten und Klarinetten in diesem Bereich sehr nahe beieinanderliegen, ist wohl eher nicht dem Zufall geschuldet.

Über die sehr fragwürdige Beständigkeit des Glückes und der Liebe gibt Beaumarchais im letzten Teil seiner Figaro-Trilogie eine sehr ernüchternde Antwort. Was meint aber Mozart? Was sagt uns seine Musik am Schluss von Nozze di Figaro?

Mit dem »Contessa perdono« des Grafen und der liebevoll-verzeihenden Antwort der Gräfin am Schluss der Oper schuf Mozart einen weiteren, intensiv bewegenden Augenblick. Natürlich bleibt das Fragezeichen im Raum stehen, wie dauerhaft die Einsicht ihres Ehemannes sein wird – doch die Musik macht uns ein paar Atemzüge lang glauben, dass noch bleibende Liebe zu finden ist. Für eine kurze Weile sind Wahrscheinlichkeit und nüchterne Wirklichkeit ausgeblendet. Ein wahrlich transzendentaler Moment! Hier findet eine Entwicklung hin zu einem kathartischen Scheitelpunkt, da sich das herrschaftliche Ehepaar im Shakespeare’schen Sinne durch die während der Handlung gemachten Erfahrungen anrühren und verwandeln ließ. Aber, und das ist das Kostbare und Schöne bei Mozart, auch die übrigen facettenreichen Charaktere durchleben Verwandlungen – im Falle von Figaro und Susanna im vierten Akt durchaus ins Schmerzvolle und dadurch Läuternde reichende Metamorphosen.

LE NOZZE DI FIGARO
11. (Premiere) / 13. / 15. / 17. / 19. / 23. / 26. März 2023