Die unerlöste Frage: Künstlerische Fiktion und biografische Realität
Andreas Meyer und Regisseur Marco Arturo Marelli im Gespräch zur Konzeption von Giacomo Puccinis Turandot.
Turandot gibt nicht nur ihren Freiern Rätsel auf, was für diese bekanntlich letale Konsequenzen hat, sondern auch der Nachwelt ist Puccinis eisumgürtete Prinzessin einigermaßen rätselhaft geblieben. Diese, seine letzte Oper, entstanden zwischen 1920 und 1924, blieb ein Fragment?
Marco Arturo Marelli: Puccini versprach sich von diesem Stoff, sein Lebensthema – die unstillbare Sehnsucht nach Liebe – in einer Art Parabel formulieren zu können. Charakteristisch für Puccinis Menschenbild in seinen realistischen Werken ist die Einheit von Liebe und Tod. Liebe wird fast ausschließlich als tragische Verstrickung erfahren, die zwangsläufig in den Tod mündet. Von Anfang an war es die Psyche der Frau, des rätselhaften, bewunderten, wie auch verachteten Wesens, das ihn, als Zeitgenossen Freuds, fesselte. Für fast alle seine Frauengestalten gilt, was der Liedverkäufer in Tabarro singt „Chi ha vissuto per amore, per amore si morì“ („wer von der Liebe gelebt hat, wird an der Liebe sterben.“) Doch nun ist Turandot eine ganz andere Frauenfigur. Dazu eine ganz neue Art von Libretto, eine wundersame Mischung von marionettenhaftem Märchenspiel und psychologischem Musikdrama, von Tragödie und Komödie, mit fernöstlicher Exotik und italienischer Emotionalität.
Als Vorlage zu dieser Oper diente unter anderem das tragisch komische Märchen von Carlo Gozzi aus dem Jahre 1762. Worin siehst du die Veränderungen gegenüber dieser Vorlage?
Marco Arturo Marelli: Die originale Geschichte stammt nicht aus China, sondern aus dem islamischen Kulturkreis und ist von dort aus nach Europa gelangt. Der Commedia dell’arte Dichter Gozzi verlegte mit viel Phantasie und Sinn für Exotik die Handlung nach Peking. In allen Vorlagen ist Turandots Männerhass nicht ausgeprägt. Sie hat ihrem Vater lediglich das Versprechen abgerungen, ihren Gatten selbst wählen zu dürfen, ein Vorgang der damals keinesfalls üblich war. Doch Puccini verlangte von seinen Librettisten: „Machen wir ein Märchen, doch gefiltert durch unser modernes Gehirn.“ Gozzis Märchenspiel kommt völlig ohne psychologische Erklärungen aus. Ganz anders in der Oper, wo die Autoren eine wichtige psychologische Ebene einbauen: Turandots Verhalten den Männern gegenüber wird durch die Einfügung einer Erzählung erklärend motiviert. In ihrer Auftrittsarie schildert Turandot ihre Angst psychologisch genau: Einst herrschte in reiner Freude ihre Ahnin Lou-Ling, dann wurde sie von einem fremden Mann geschändet und getötet. Der Schrei dieser Prinzessin durchdringt die Zeiten und Turandot erlebt ihn in sich. Sie verwandelt sich selbst in Lou-Ling und verlangt jetzt Sühne für das Vergehen.
… also eine Frau, welche zunächst die Liebe negiert. In der italienischen Oper, die reich bevölkert ist von sich aufopfernden und sich hingebenden Heldinnen, ist dies ein ganz neuartiger Typ von Weiblichkeit…
Marco Arturo Marelli: … ja, eher an Lulu und Salome erinnernd. Diesmal steht die Primadonna dem Tenor als Todfeind gegenüber. Es herrscht Feindschaft, ja Krieg zwischen den Geschlechtern. Die Rätselszene: ein volltönender Zweikampf auf Leben und Tod, oder wie Nietzsche es ausdrückt „Todhass der Geschlechter“. Das Duett wird zu einem Duell, eine wild expressionistische Musiksprache durchwühlt alle Auseinandersetzungen, gefährlich wie aufbrechendes Magma. Eine Oper der extremen Kontraste, aus Feuer und Eis.
Doch daneben gibt es eine zweite Frauengestalt, Liù. In vielen Vorlagen gibt es diese zweite Frau, meist ist sie Turandot behilflich, das Rätsel vom Namen des Fremden zu lüften…
Marco Arturo Marelli: … bei Gozzi heißt sie „Adelma“ und ist eine entmachtete Prinzessin aus dem Tartarenreich, Inzwischen lebt sie als Sklavin und Vertraute von Turandot in Peking. Sie kennt und liebt insgeheim den fremden Prinzen, will ihn zur Flucht überreden. Als er aber nicht will, verrät sie seinen Namen und treibt so die Handlung unwillentlich einem guten Ende entgegen. Gozzi zeichnet diese Figur als eine negative Intrigantin. Puccini verändert diesen Charakter völlig und schuf daraus eine ganz neue, und sehr eigene Figur, eben jene „traditionelle“ Puccini-Opernheldin, die einzige, die in diesem Werk das Publikum bis heute wirklich zu berühren versteht.
Doch wie kam es zu dieser Veränderung?
Marco Arturo Marelli: Von Puccini selbst stammt der Vorschlag, Liù durch eine Art Liebestod sterben zu lassen…
…hatte er dabei die Tragödie, die sich einige Jahre zuvor in seinem eigenen Haus abspielte vor Augen?
Marco Arturo Marelli: Ja, dessen bin ich sicher, denn diese unglückliche Geschichte hat ihn, seinen Briefen nach, noch lange beschäftigt. Nach Puccinis Autounfall wurde die sechzehnjährige Doria Manfredi als Krankenpflegerin und Haushaltshilfe in der Villa Torre del Lago aufgenommen. Puccini empfand Sympathie für das einfache Mädchen. Seine Frau Elvira wurde argwöhnisch, begann Doria zu beschimpfen und öffentlich zu verleumden, das Mädchen wusste keinen anderen Ausweg als sich auf eine äußerst quälende Art selbst umzubringen.
1923, ein Jahr vor seinem Tode, kam die Arbeit ins Stocken. Die Oper ist bis zu Liùs Tod gediehen, mit diesem Trauergesang bricht Puccinis Werk ab. Warum…
Marco Arturo Marelli: Die Weiterführung der Oper bot ein nahezu unlösbares Problem. Nun hatte Puccini mit der Sterbeszene der Liù eine seiner berührendsten Szenen geschrieben, die das Zueinanderfinden von Turandot und Calaf, unter einen unheimlichen Schatten zu stellen drohte. Sicher war er sich der Gefahr bewusst, dass sich das Finale zu einer riskanten Antiklimax entwickeln könnte. Seine Vorstellung hatte er den Librettisten klar vorgegeben: Die Sklavin Liù soll eine Liebeswärme ausstrahlen, die in der kalten Frau eine mächtige Umkehrung auslöst. Doch wie sollte sich dies im szenischen Ablauf entwickeln? Liù hat sich soeben umgebracht, Calaf, der „Held“ stand dabei und hat diese Selbsttötung nicht verhindert, er ist somit auf eine Art schuldig geworden, und nun soll er Turandot die Liebe „beibringen“. Auch Turandot, die ja den Befehl zur Folter gegeben hat, hat dies alles miterlebt. Kann überhaupt, nach Timurs Fluch, das finale Happyend auf dem Opfer der menschlich anrührenden Sklavin aufgebaut werden? Dass dies ein sehr schwierig zu realisierender Vorgang ist, wurde dem Komponisten bewusst, und so verlangte er nach neuen Textversionen.
… so scheint in dieser Oper Leben und Werk stark verbunden zu sein
Marco Arturo Marelli: Ja, sicherlich viel stärker als in den anderen Werken, das Faszinierende an dieser Oper sind für mich die verschiedenen Ebenen, die sich andauernd überschneiden und überlagern. Wichtig dabei wurde für mich eine Notiz in der Partitur über die innere Situation von Calaf im dritten Akt: „se quasi non vivesse più nella realità“ („wie wenn er nicht mehr in der Realität leben würde“). Da überschneidet sich die fiebrige Suche nach dem Namen des fremden Prinzen geheimnisvoll mit Puccinis eigener verzweifelter Suche nach einem möglichen Schluss dieser Oper und taucht das ganze Werk in eine einzige traumartige, nächtliche Vision. Mich selbst berührt diese unheimliche Spannung zwischen der biografischen Realität und der künstlerischen Fiktion immer wieder aufs Neue.
Welchen Stellenwert hat das chinesische Element in deiner Inszenierung?
Marco Arturo Marelli: Puccini litt sehr unter dem Älterwerden und befürchtete, dass seine Musiksprache nicht mehr zeitgemäß sei. So war das fernöstliche Kolorit sehr willkommen, denn er konnte so seine Musiksprache erweitern. Der ausschlaggebende Impuls zur Komposition erfolgte bei einem Besuch bei seinem Freund Baron Fassini, einem Diplomaten, der selbst länger in China war und eine Sammlung chinesischer Spieluhren besaß, deren Melodien in die Partitur eingegangen sind.
In der Inszenierung sehe ich dieses chinesische Kolorit jedoch mehr als Hintergrundfolie?
Marco Arturo Marelli: Die Handlung soll laut Textbuch in einer märchenhaften Vorzeit spielen, dann schildert die Protagonistin, dass sich das Drama um Lou-Ling wiederum vor tausenden von Jahren abgespielt hat. Bedeutet die Verschiebung in die Zeitlosigkeit nicht, dass es sich um ein Gegenwartsstück handelt?
Aus Gozzis reichem Commedia dell’arte-Theaterpersonal haben die Autoren die drei Figuren der Minister geschaffen…
Marco Arturo Marelli: … ja, als wunderbares Gegengewicht zum tragischen Grundton der Oper, man stelle sich nur einmal vor, sie würden fehlen und diese Oper müsste ohne diese sehr theatralische Ebene auskommen. Ping, Pang, Pong sind drei absurde Opportunisten, die nur halb zum Geschehen dazu gehören und öfters auch als Kommentatoren auftreten, zwischen Zynismus, Komik und Anteilnahme oszillierend.
Rückblickend hat sich Turandot als die letzte italienische Repertoireoper erwiesen und ist heute so auch ein Endpunkt in ihrer Geschichte…
Marco Arturo Marelli: … und reflektiert noch einmal die Strukturen der großen Oper mit ihrer Verschränkung von Staatsaktion und Privatleben. Wie in Aida, jedoch unter etwas anderen Vorzeichen, da gibt es keinen Tod in verträumter Zweisamkeit, einsam stirbt die kleine Liù als Opfer der lebensfeindlichen Inhumanität.
Calaf hat im zweiten Akt Turandots Rätsel gelöst, da könnte ja eigentlich die Oper zu Ende sein …
Marco Arturo Marelli: Ja, sicher hat er gesiegt, in der Liebe jedoch darf es nicht um Sieger und Besiegte gehen. Nach dem hysterischen Ausbruch von Turandot, versucht Calaf einen leisen Ton anzuschlagen und ihr im zärtlichen Piano die Frage nach seiner Identität und nach dem Wesen des Menschen zu stellen. Eigentlich hat sich, indem ein Mann die Rätsel gelöst hat, für Turandot eine ausweglose Situation ergeben. Auch ist die Folge der Rätsel für die tödliche Erstarrung von Turandot und ihrem System bezeichnend, denn das erste Lösungswort heißt: Die Hoffnung. Es gibt kein Leben ohne positiven Entwurf der Zukunft (Turandots Situation hat weder Hoffnung noch Zukunft). Zweites Lösungswort: Das Blut – das Sinnbild allen Lebens, der pulsierenden Bewegung, die Lebendigkeit selbst. (Turandot Verhalten gleicht einer tödlichen Erstarrung, todbringend für die Männer wie auch für ihre Untertanen.) Drittes Lösungswort: Turandot – das enträtselte Rätsel. Zu raten ist das eine, einzige Rätsel: jenes des Lebens. Auch Ödipus konnte als Fremder das Rätsel der Sphinx lösen, indem er sich selbst erriet, den Menschen. Seine tragische Verblendung bestand darin, dass er sich selbst als Täter seiner Tat nicht erkennt, sich aber dadurch wieder selbst trifft. Das gleiche trifft auch auf Turandot zu, weder als Frau noch als Repräsentantin dieses Staates ist sie in der Lage, sich selbst als die Ursache zu erkennen. Sie ist selber das entfremdete Leben, welches das Gefühl, Liù, tötet.
Wie wichtig ist die politische Komponente des Werkes für dich…
Marco Arturo Marelli: Wenn man das Werk in dieser Hinsicht bis zur letzten Konsequenz durchdenkt, zeigen sich äußerst erschreckende Aspekte: eine brutale Show um Machtausübung, in der beide Protagonisten über Leichen gehen. Um im Geschlechterkampf Sieger zu bleiben, wird jedes menschliche Gefühl geopfert und es bleibt nur beider Gier nach Macht. Für mich jedoch gerät dann das Werk auch sofort in eine fatale Nähe zum Gedankengut des aufkommenden Faschismus. Dies zu zeigen, interessiert mich nicht besonders, denn es verengt sich dadurch die ganze Aussage und nimmt ihr jegliche Poesie. Sicher zeigt sich die Masse als eine entmenschlichte Gesellschaft, die auf der Suche nach einem besonderen Kick ist, und die Oper funktioniert auch als eine große Show.
Welche Rolle spielt in deiner Inszenierung der Chor?
Marco Arturo Marelli: Die eines Zuschauers, denn tatsächlich verhält sich ja das Volk von Peking in seiner Sensationsgier wie das Publikum einer Show. Das Augenmerk ist einzig auf Turandot gerichtet, den grandiosen Star dieses Spektakels um Leben und Tod. Soll sie sich entgegen ihrem Sühnegedanken einem Mann hingeben. Was sie nicht kann! Denn sowohl aus ihrer abgehobenen Position als auch aus der selbst auferlegten menschlichen Unerreichbarkeit heraus ist sie zum Opfer geworden, die Beherrschende wird zur Beherrschten, zur Vonaußen-Gelenkten!
Stichwort „Primadonna“ …
Marco Arturo Marelli: ... Puccini ist der letzte, der ihnen große Rollen schrieb. Turandot sollte die allerletzte sein, gewaltiger als alle anderen. Was bei Monteverdi mit der Klage um Verlust und Liebesschmerz („lasciatemi morire”) begonnen hatte, sollte mit einer Verherrlichung der Liebe enden. Doch Puccini hat uns darauf keine Antwort gegeben. Auf einem der Skizzenblätter für das Schlussduett vermerkte Puccini: „E poi Tristano“– vielleicht lässt sich diese Notiz auch so deuten, dass die große Liebe nur in der Transzendenz zu suchen sei. Beide Liebenden finden ja in Wagners Oper den Tod.
Das Werk blieb bei Puccinis Tod unvollendet, wie gehst du mit dem Finale um?
Marco Arturo Marelli: Bei meiner ersten Inszenierung vor über 30 Jahren hatte ich das Werk als Fragment enden lassen. Alle Versuche, dem Werk ein wirklich befriedigendes und glaubhaftes Finale zu geben, mussten irgendwie scheitern. Puccini, unzufrieden mit den Finalversionen, fand selbst keine Lösung und er dachte sogar schon daran, die Verwandlung der Titelfigur einzig durch ein sinfonisches Zwischenspiel und ohne Worte zu schildern. Franco Alfanos Version für den Schluss wurde ja kurz vor der Uraufführung um fast ein Drittel gekürzt. Dabei entstanden jedoch abrupte Übergänge, auch wird die Kussszene in Alfanos Originalfassung wesentlich feinfühliger vorbereitet, Turandot bekommt so auch mehr Zeit, um sich ihres neuen Befindens zu vergewissern. Eine wirklich bewegende Stelle und so haben wir uns für diese Inszenierung entschlossen, diesen Strich wieder aufzumachen.
Giacomo Puccini:
Turandot
Besetzung:
Lise Lindstrom | Turandot
Heinz Zednik | Altoum
Johan Botha | Kalaf
Anita Hartig | Liù Dan
Paul Dumitrescu/ Ryan
Speedo Green | Timur
Paolo Rumetz | Mandarin
Gabriel Bermúdez | Ping
Carlos Osuna | Pang
Norbert Ernst | Pong
Premiere: 28. April 2016
Reprisen: 1., 5., 8., 12. Mai 2016
Einführungsmatinee am Sonntag, 17. April 2016