DIE TOILETTE der Venus

Karten »Pique Dame«
 

Die alte Gräfin *** saß in ihrem Ankleidezimmer vor dem Spiegel. Drei Mädchen umgaben sie. Das eine hielt die Dose mit dem Wangenrot, das andere die Schachtel mit den Haarnadeln, das dritte die hohe Haube mit den feuerfarbenen Bändern. Die Gräfin erhob nicht den geringsten Anspruch auf Schönheit, die längst verwelkt war, doch hatte sie sich alle Angewohnheiten ihrer Jugend bewahrt, folgte streng den Moden der siebziger Jahre und kleidete sich ebenso lange, ebenso sorgsam wie sechzig Jahre zuvor.«

Der Beginn des 2. Kapitels von Aleksandr Puškins Erzählung Pique Dame – in der mustergültigen Übersetzung Peter Urbans (Aleksandr Puškin, Die Erzählungen, Berlin 1999) – führt uns in die Gegenwart der Titelheldin. Diese hat in ihrer Jugend, so haben wir im 1. Kapitel erfahren, in Paris als »Vénus moscovite«, also als »moskowitische Venus« Furore gemacht. Puškin rekurriert für diesen ersten Auftritt der Gräfin auf das ikonographische Motiv der Liebesgöttin im Kreis ihrer drei Grazien, hier freilich parodiert durch den körperlichen Verfall der einstigen Schönheit.

Zugleich ist in einem einzigen Satz das Geschehen historisch präzise verortet, nämlich in der Gegenwart des Dichters: Entstanden ist die Erzählung 1833, die glanzvolle Jugend der Gräfin fiel also in die siebziger Jahre des 18. Jahrhunderts. Puškins kristalline Prosa stellt einen planvoll realistischen Kontrapost zu den geschilderten fantastischen Ereignissen dar: Nur ganz allmählich, nahezu unmerklich verschieben sich die Koordinaten ins Traumhafte und Surreale. Dostojewski pries die Erzählung darum als Gipfel der fantastischen Literatur, weil am Ende ihrer Lektüre für den Leser unentscheidbar wäre, ob die Erscheinung der toten Gräfin Herrmanns Fantasie entsprungen oder er tatsächlich mit dem Jenseits und seinen den Menschen feindlichen Geistern in Berührung gekommen sei: »Das Fantastische muss sich mit dem Realen so eng berühren, dass Sie gezwungen sind, es beinahe zu glauben.« (Brief vom 15. Juni 1880 an J. F. Abasa)

In der Oper hingegen häufen sich die Anachronismen. Denn die Tschaikowski-Brüder Pjotr (der Komponist) und Modest (der Librettist) versuchen, das Geschehen aus der Puškinzeit ins späte 18. Jahrhundert, in die letzten Jahre der Regierungszeit Katharina der Großen zurückzuschieben, die bis 1796 regierte. Ein Motiv hierfür ist gewiss der Wunsch, opulente »couleur locale« aufbieten zu können: Sie arbeiten daher mit literarischen Entlehnungen aus der vaterländischen höfischen Kultur jener Epoche ebenso wie mit musikalischen Anklängen: Erinnert sei an die Mozart-Reminiszenzen im eingeschobenen Schäferspiel von der Lauterkeit der Schäferin. Dabei verfahren sie freilich höchst inkonsequent, denn sie integrieren in die Partitur ebenso Anklänge an die russische Romanzenliteratur der Romantik wie an Intonationen der orthodoxen Liturgie. Die berühmteste Entlehnung der Oper stellt eine Gesangsdarbietung dar, mit der die Gräfin einst am französischen Hof reüssierte und an die sich die Greisin vor dem Einschlafen erinnert. Der verschobenen Puškin’schen Timeline entsprechend müsste sie eigentlich die Arie einer Oper der 1730er Jahre – von Leonardo Vinci, Händel, Hasse oder Rameau – intonieren. Stattdessen legen ihr die Autoren eine Ariette aus André Grétrys Opéra comique Richard Löwenherz aus dem Jahr 1784 in den Mund. Das dieser Ariette vorausgehende Namedropping der Gräfin evoziert darüber hinaus Liebhaberaufführungen der späten 1740er Jahre, in denen die Pompadour als Sängerin und Tänzerin mitwirkte, auf der Bühne des 1747 in Versailles eingeweihten und bis 1751 unter der Direktion des Duc de la Vallière betriebenen »Theaters der kleinen Appartements«, das Ludwig XV. seiner Mätresse zum Geschenk gemacht hatte (unter anderem ist ein Auftritt der Pompadour in Die Toilette der Venus bezeugt). Neben den von der Gräfin beschworenen, historisch verbürgten Celebrities – dem Herzog von Ayen, der Herzogin von Brancas – habe auch sie vor dem König geglänzt, freilich nicht in Versailles, sondern in Chantilly, dem Stammschloss der Prinzen von Condé. Dass sich bei dem Grétry-Zitat der gewünschte Effekt einer »musique du temps jadis« dennoch einstellt, verdankt sich dem Kontext von Tschaikowskis spätromantischer Tonsprache, aus der die Partitur seiner 1890 uraufgeführten Oper generiert ist, und die den gleichsam subjektiv-authentischen Ausdruck der Leidenschaften vorstellt.

Einen weitereren folgenschweren Eingriff der Tschaikowski-Brüder stellt die Rückführung der Konflikte ihrer Vorlage auf die Kapitalisierung aller Lebensbereiche dar, nicht zuletzt auf die im Petersburg ihrer Zeit allgegenwärtige Prostitution. Bei ihnen wurde bereits die Vénus moscovite gezwungen, ihren Körper zu verkaufen, um das Geheimnis der drei unfehlbaren Karten zu erlangen (»sie gewann alles zurück, doch um welchen Preis!«). Und der Herrmann der Oper ist nicht mehr der Nutznießer eines »kleinen Kapitals«, das ihm sein Vater, ein russifizierter Deutscher hinterlassen hat und das er ausschließlich aus Gründen anerzogener Sparsamkeit nicht antastet. Stattdessen wird er schon im ersten Dialog der Oper als völlig mittellos bezeichnet. Es ist nicht der Ständegesellschaft geschuldet, wenn Lisa für Herrmann unerreichbar ist (selbst wenn Herrmann das an einer Stelle als Begründung anzuführen scheint, wobei er zugleich angibt, die Identität der schwärmerisch Verehrten gar nicht zu kennen); nein, er kann sehr wohl hoffen, sich durch ein im Glücksspiel erworbenes Vermögen als Heiratskandidat zu qualifizieren. Das eingefügte Schäferspiel spiegelt das Problem der Käuflichkeit als Theater auf dem Theater: die »lautere Schäferin« (= Lisa) muss sich zwischen einem mittellosen Schäfer (= dem heimlich geliebten Herrmann) und dem reichen Gutsbesitzer (= Jeletzki, ihrem offiziellen Verlobten) entscheiden.

Vera Nemirova, die Regisseurin der Wiener Staatsopern-Produktion, tat Recht daran, das Geschehen aus der historisierenden Verklammerung einer vorrevolutionären Ständegesellschaft zu lösen. In Zusammenarbeit mit dem Bühnenbildner Johannes Leiacker schuf sie ein kahl-monumentales, unwirtliches Vestibül, das mal als Außen- mal als Innenraum deutbar ist. Wechselnde Zeitläufe haben hier ihre architektonischen Spuren hinterlassen: Neben einem barocken Wappen, das das Portal eines breiten Treppenaufgangs zur Rechten krönt, ragt ein mächtiger verglaster Erker in den Raum, dessen Gestaltung an konstruktivistische Bautechniken der frühen Moderne gemahnt. Links wird eine schräg in die Bühnentiefe führende Mauer durch hohe Fenster gegliedert: So oder so ähnlich könnte eine Palast-, eine Kirchen- oder auch eine Fabrikmauer sie aufweisen. Durch unterschiedliche Objekte und Leuchtelemente – vom Kronleuchter bis zur Lichtorgel – bewegen wir uns mit den Akteuren mal durch ein Kinderheim, mal durch ein Sanierungsobjekt, eine Event-Location, eine Kathedrale oder eine Spielhölle. Die Kostüme sind im weitesten Sinne der heutigen Gegenwart verpflichtet. Historische oder pseudohisto- rische Kostüme und Accessoires des 18. Jahrhunderts deutet die Regisseurin als Mummenschanz einer res- taurativen Gesellschaft, in exakter Entsprechung zum musikalischen Stilkostüm, das Tschaikowski einigen Gesellschaftsszenen übergeworfen hat: Sie werden so von Anfang an zu einem Teil jenes Maskenballs, der in der Oper im zweiten Akt gefeiert wird, an dessen Hö- hepunkt die alte Gräfin selbst in der Maskierung Ka- tharinas der Großen ein umjubeltes Comeback feiert.

Der ins Schlafzimmer der Gräfin heimlich eingedrungene Herrmann betrachtet ein – im Original der Künstlerin Vigée-Lebrun, einer seit den 1770er Jahren für die französische Aristokratie tätigen Gesellschaftsmalerin, zugeschriebenes – Jugendbildnis der Hausherrin. In der Oper richtet er sogar das Wort an die Dargestellte (»Ich an dir oder du an mir, das fühle ich: Einer von uns beiden wird an dem anderen zugrunde gehen!«). In der Inszenierung Vera Nemirovas gibt es kein Porträt, stattdessen werden wir mit Herrmann Zeuge des Couchers, des Zubettgehens der Gräfin, wie es von Puškin dem eingangs zitierten Lever entsprechend geschildert wird:

»Die Gräfin begann sich vor dem Spiegel zu entkleiden. Man steckte die Haube los, die mit Rosen verzierte; nahm die gepuderte Perücke von ihrem grauen, kurzgeschorenen Kopf. Ein Regen von Nadeln ergoss sich um sie. Das gelbe, silberdurchwirkte Kleid fiel über ihre geschwollenen Füße. Herrmann wurde Zeuge der widerwärtigen Geheimnisse ihrer Toilette; schließlich war sie mit Nachtjacke und Häubchen bekleidet. In diesem Aufzug, ihrem Alter eher gemäß, wirkte sie weniger schrecklich und hässlich.«

Nemirova lässt diesen Vorgang im verglasten Erker sichtbar werden: Hinter den trübe beschlagenen Scheiben schimmert ein kostbares Interieur des 18. Jahrhunderts auf, und zugleich erscheint einen magischen Moment lang die von ihren Zofen umringte Gestalt der Gräfin wie im Weichzeichner: Vor dem Blick des Voyeurs verwandelt sie sich in die Vénus moscovite, die kurz vor ihrem Tod ihrer erotischen Verheißung noch einmal mächtig wird.


WIEDERAUFNAHME PIQUE DAME
23. / 27. / 30. Jänner 2022

Musikalische Leitung Valery Gergiev Regie Vera Nemirova
Bühne Johannes Leiacker
Kostüme Marie-Luise Strandt

Herrmann Dmitry Golovnin
Tomski & Pluto Alexey Markov
Jeletzki Boris Pinkhasovich
Gräfin Olga Borodina
Lisa Elena Guseva