Die Suche nach dem reinen Helden

Yannick Nézet-Séguin dirigiert Wagners Lohengrin

Vor kurzem wurden Sie als Musikchef der New Yorker Metropolitan Opera bestellt. Was war das erste Gefühl, das Sie bei der Ernennung verspürten?

Yannick Nézet-Séguin: Das ist sehr gut gefragt! Weil Sie nach dem ersten Gefühl gefragt haben … Es war und ist nämlich eine Mischung aus ganz verschiedenen Emotionen. Da war natürlich zunächst einmal eine sehr große Freude, aber auch etwas Angst vor der Aufgabe, das Bewusstsein der großen Herausforderungen und auch Demut vor der gewaltigen Tradition des Hauses und seiner gigantischen internationalen Bedeutung. Alles bunt gemischt. Jedenfalls habe ich das Gefühl, dass für mich diese Position genau zum richtigen Zeitpunkt gekommen ist. Ich werde beim Antritt 45 Jahre alt sein, und damit nicht zu jung und nicht zu alt. Ich werde die richtige Energie haben, um diese Herausforderung anzunehmen. Und kann dem Haus noch lange verbunden bleiben.

Zum Zeitpunkt dieses Gespräches befinden Sie sich mit den Wiener Philharmonikern auf einer Tournee mit Bruckners neunter Symphonie. Ist es für Sie von besonderem Interesse, mit dem

Orchester gewissermaßen sein „Kernrepertoire“ zu erarbeiten?

Yannick Nézet-Séguin: Ich denke, kein anderer Klangkörper ist in einem solchen Maße mit seiner Vergangenheit verknüpft, wie die Wiener Philharmoniker. Man kann die Augen schließen und schon fühlt man sich Jahrzehnte, Jahrhunderte zurückversetzt. Es ist eine besondere Magie in dem Klang, die aus alter Zeit zu einem spricht. Und das nicht, weil die Musiker in der Vergangenheit leben, sondern weil es ihnen gelingt, den originalen Geist der von ihnen gespielten Kompositionen zu rekreieren. Bekanntlich wird ja gerade Mozart mit dem Orchester stark in Verbindung gebracht (mein philharmonisches Debüt war mit Mozarts Requiem, dann folgte Don Giovanni), aber mindestens in ebensolchem Maße ist auch Bruckner mit ihnen verbunden. Und Bruckner,

zu dem ich eine besondere Beziehung habe, mit diesem Orchester spielen zu dürfen – das war immer mein Traum.

Sie kennen das Staatsopernorchester beziehungsweise die Wiener Philharmoniker sowohl als Konzert-, als auch als Opernorchester. Gibt es im musizierenden Zugang Unterschiede, wenn das Orchester die unterschiedlichen Repertoires spielt?

Yannick Nézet-Séguin: Ich würde sagen: nein. Das hat einen einfachen Grund: Die Basis dieses Orchesters ist das vokale Repertoire. Durch die Abende an der Wiener Staatsoper besitzt der Klangkörper einen entsprechenden Zugang zu allem, was es spielt, also auch zum Symphonischen. Und das ist ein sehr großer Schatz! So sollte sich jedes Orchester, auch wenn es nicht oft Musiktheaterwerke spielt, regelmäßig daran erinnern, dass der Grundstein alles Musizierens der Gesang ist. Denn in letzter Konsequenz imitiert jedes einzelne Instrument stets die menschliche Stimme. Dazu kommt noch, dass ein Musiker, wenn er Sänger begleitet, mit ihnen gemeinsam atmen und phrasieren muss – und das wiederum sensibilisiert die Instrumentalisten. Auch bringt das Musiktheater mit sich, dass es viel Spontaneität erfordert: Die Umstände ändern sich jeden Tag, manchmal muss man auf diesen, dann auf jenen Rücksicht nehmen, manchmal passiert etwas Unerwartetes. Mit anderen Worten: Man muss im Jetzt leben und spontan musizieren. Das ist eine der ganz großen Stärken des Staatsopernorchesters. Und das ist etwas, worauf ich beim Musizieren besonderen Wert lege. Denn Musik entsteht im Moment und soll dem Moment folgen, man muss also Herz und Ohren offen halten. Gute Vorbereitung ist wichtig und entscheidend, aber sie kann nur die Basis fürs spontane Musizieren sein. All diese Faktoren können die Musiker auch als Konzertorchester nützen, wie sie auch Dinge, die sie auf der Konzertbühne lernen, in den Orchestergraben der Oper mitbringen. Es ist im Kern also immer derselbe Zugang und dieselbe Art des Spielens.

Der Musiktheaterwelt von Richard Wagner haben Sie sich über den Lohengrin genähert, der Ihr Wagner-Debütstück war. Warum gerade diese Oper? Warum nicht zum Beispiel Der fliegende Holländer?

Yannick Nézet-Séguin: Das hat zunächst einmal einen sehr persönlichen Grund, nämlich, dass ich mich von der Lohengrin-Musik sehr stark angezogen fühle. Das war immer schon

so! Bereits als Student hatte ich eine enge Beziehung zu diesem Werk. Warum? Weil die Oper etwas sehr Kontemplatives in sich trägt. Ich schätze diese zarten, feinen Momente in diesem Werk enorm – wobei es natürlich auch das große Drama, die Massenszenen, die mächtige Chorpassagen gibt. Aber Lohengrins Charakter trägt eine Reinheit und Schlichtheit in sich, die mich sehr berührt. Man denke nur an das Vorspiel, wie fein gesponnen es eröffnet wird. Es ist, als ob sich der Himmel öffnete … Abgesehen davon bin ich, was die Systematik der Chronologie betrifft, nicht sehr konsequent. Meine erste Bruckner-Symphonie war die „Neunte“, da war ich 25 Jahre alt. Bei Gustav Mahler habe ich mit der zweiten Symphonie angefangen, dann folgten die fünfte und neunte, bevor ich die erste dirigiert habe. Ich gehe also weniger nach der korrekten Abfolge, sondern nach dem, was mich augenblicklich anspricht. Im Falle der Wagner-Opern war es Lohengrin vor dem Holländer, so wie ich womöglich Parsifal vor dem Tristan erarbeiten werde. Davon abgesehen: Mit Wagner lasse ich mir Zeit.

Lassen Sie sich Zeit, weil Richard Wagner – auch aufgrund des Kultes, der rund um sein Werk oftmals herrscht – herausfordernder ist als andere Komponisten?

Yannick Nézet-Séguin: Anfangs war ich ein wenig besorgt – eben weil Wagner bei manchen Menschen etwas beinahe Religionshaftes hat. Man muss sich dieser Tatsache bewusst sein, wenn man sich seinen Werken nähert. Es existiert für viele eine Art Wagner-Welt, es existiert ein umfangreiches Theorienwerk und es existiert das, wie Sie sagen, Kulthafte rund um ihn. Dazu kommt, dass Wagners Werke oftmals als Einheit gesehen werden, als ein großes Ganzes. Aber ich persönlich finde es ebenso faszinierend, nicht immer nur das Komplette zu betrachten, sondern jede seiner Opern auch als Einzelwerk, als eine eigene Welt zu sehen. Man muss ja, finde ich, nicht immer alles im Bezug zu den anderen Werken betrachten, sondern kann ruhig auf ein einzelnes Stück fokussieren. Was mich sehr interessiert liegt auf einer rein musikalischen Ebene: Wie sieht es mit jenen Komponisten und Werken aus, die Einfluss auf Wagner hatten? Oder zumindest Einfluss gehabt haben könnten? Natürlich steckt in der Orchesterbehandlung im Holländer viel von Carl Maria von Weber oder von Felix Mendelssohn Bartholdy. Das zu erforschen hat mir musikalisch viele Hinweise gegeben. Ein anderes Beispiel, weil wir vorhin über Bruckner sprachen, sind dessen Symphonien. Natürlich konnten diese keinen Einfluss auf Wagner haben, aber es gibt eine geistige Verwandtschaft. Und sich nur mit der Musik und den unterschiedlichen Verwandtschaften zu beschäftigen, ist mitunter ein guter Weg. Und führt ein wenig weg von vorgefassten

Meinungen.

Hat sich Ihre Sicht auf den Lohengrin verändert, nachdem Sie andere Wagner-Opern dirigiert hatten?

Yannick Nézet-Séguin: Nicht wirklich. Ich stehe nach wie vor ziemlich am Anfang eines eingeschlagenen Weges … Fragen Sie mich in zehn Jahren noch einmal! Spannend finde ich es derzeit, wie sich meine Sicht auf das Werk (und auf andere Wagner-Werke) mit der jeweiligen szenischen Umsetzung mischt.

Hat eine szenische Umsetzung Einfluss auf Ihre musikalische Gestaltung?

Yannick Nézet-Séguin: Das hängt davon ab. Einerseits denke ich, dass wir Dirigenten treu und loyal zu unseren eigenen Konzeptionen sein müssen. Vor allem aber auch zu den Ideen des Komponisten und es liegt in unserer Verantwortung, dass eine Produktion diesen Vorstellungen nicht widerspricht. Andererseits allerdings müssen wir auch die Vision unterstützen, die ein Regisseur hat. Und wenn dessen Sicht auf ein Werk gut und klug ist, dann kann die Musik, unsere musikalische Interpretation, ihm sogar helfen und ihn unterstützen. Ich sehe mich also nicht als Gegenspieler eines Regisseurs, sondern als Brücke, als Verstärker. Natürlich: Wenn man keine Neuproduktion erarbeitet sondern in eine bestehende Inszenierung einsteigt, dann ist es mit der Einflussnahme nicht mehr so einfach. Aber ich denke, wenn man aufmerksam ist und den Willen hat, dann finden sich immer Wege, einen sinnvollen Beitrag zu leisten. Ich kann übrigens ein Beispiel bringen, wie musikalische und szenische Interpretation zusammenhängen. Vor einigen Jahren brachten Jossi Wieler und Sergio Morabito in Salzburg eine Rusalka heraus, Franz Welser-Möst war Dirigent. Später habe ich diese Produktion am Covent Garden in London nachdirigiert, und das Regieduo meinte nach der ersten Aufführung: „Hätten Sie die Premiere in Salzburg geleitet, hätten wir manches anders inszeniert.“ Einfach, weil ich in der Musik anderes betont habe als Franz Welser-Möst. Man sieht also: Im Idealfall wirken musikalische und szenische Interpretation direkt beeinflussend aufeinander.

Wieweit hat Wagner in seinem Lohengrin etwas verfasst, was ganz dieses Werk ist und in keinem anderen seiner Werke vorkommt? Etwas originär „Lohengrinhaftes“?

Yannick Nézet-Séguin: Das Spezifische liegt im Charakter der Titelfigur. Ich sprach schon von seiner Reinheit, und in der Oper wird seine gesamte Entwicklung, quer durch alle Stadien gezeigt: Die besagte Reinheit, die Liebe, die Leidenschaft bis hin zum Finale. Man erlebt zunächst einen eher geistigen Charakter, der immer körperlicher wird. Natürlich: auch Siegfried erzählt die Geschichte einer Entwicklung. Aber bei Lohengrin steht dieser Wandel stark im Zentrum, dieses Transzendente und In-die-Welt-Kommende. Übrigens ist gerade darum auch Klaus-Florian Vogt so perfekt in dieser Rolle: weil er den spirituellen Charakter der Figur ebenso zeigen kann wie das Menschliche.

Als Pianist stellt sich bei Ihnen natürlich die Frage, ob Sie sich bei der Einstudierung einer Oper ans Klavier setzen und das Werk durchspielen und so lernen?

Yannick Nézet-Séguin: Interessanterweise mache ich das praktisch gar nicht. Mitunter spiele ich bei einer Probe die eine oder andere Stelle an, um einer Sängerin oder einem Sänger etwas zu demonstrieren. Aber ich nütze das Instrument nicht, um eine Oper zu lernen. Das ist paradox, aber es ist so. Ich liebe nämlich die Stille bei der Beschäftigung mit einer Partitur, den unverstellten Kontakt zu einem Werk, die direkte, durch nichts übersetzte Sicht auf ein Stück. Sobald ich mich ans Klavier setze, ist ein Vermittler zwischen uns. Das nimmt dem Kontakt aber seine Unmittelbarkeit. Ich nütze das Klavier lieber, wenn es um das Klavierspiel an sich geht: also in der Kammermusik oder in der Liedbegleitung.

Das Gespräch führte Oliver Láng


An der Wiener Staatsoper debütierte Yannick Nézet-Séguin im Herbst 2014 mit Wagners Fliegendem Holländer. Nun leitet er hier erstmals dessen Lohengrin.