DIE RÜCKKEHR DES GEALTERTEN DON GIOVANNI

Was haben die (selbsternannten) Musik-Großkopferten nördlich der Alpen Verdi bezüglich seiner Werke doch alles vorgeworfen! Wie oft hat man ihn genüsslich seiner angeblichen Leierkastenmusik wegen gezeiht, ihn bestenfalls nachsichtig belächelt, seine im Laufe der Zeit immer deftigeren und bestimmenderen chromatischen Einsprengsel lediglich dem Einfluss Richard Wagners zugeordnet. Andererseits: Wie populär und beliebt war Verdi beim Publikum südlich und nördlich der Alpen! Der Beifall bezeugte seine dramatische, seine bühnenwirksame Hand, die melodische Erfindungsgabe, die Charakterisierungskunst, mit der er Figuren auf der Bühne plastisch zum Leben erweckte und ihnen Tiefe verlieh.


Doch dann kam zum Schluss der Falstaff. Und mit diesem verfressenen, verarmten, geldgierigen, adeligen, aber alles in allem doch sympathischen Möchtegernfrauenhelden schienen die Kritiker ebenso überfordert, wie die meisten, die von der sterbenden Violetta oder Gilda oder Leonora oder Aida zu Tränen gerührt waren. Folglich galt der Erfolg an jenem überaus festlich zelebrierten Falstaff-Uraufführungstag an der Mailänder Scala (9. Februar 1893) weniger dem Stück als dem bescheiden, asketisch-schlanken Greis, der seinem Tragödienlebenswerk eine klug-humoristische Krone aufsetzte.

Mit diesem fast das komplette Werk durchziehenden Dauerparlando hatte niemand gerechnet. Und wenn da und dort schließlich doch eine Arie aufkeimt oder ein Liebesduett, dann ist das dazugehörige Anführungszeichen, das Verdi wie ein Rufzeichen gebrauchend einsetzte, förmlich spürbar. Schon der Beginn verstörte: Wenn bereits beim Otello ein wirkliches Vorspiel fehlte, so hatte Verdi immerhin noch mit einem handfesten Sturm die Tragödie eingeleitet. Doch der Falstaff? Beginnt mit einer Pause auf Eins, gefolgt von einem akzentuierten Akkord auf die schwache Zwei des Viervierteltaktes, um dann wenig spöter polternd ins erste Ensemble zu münden, das – von kurzen unsentimentalen Rufen und tonwiederholenden Parlandoketten geprägt – recht abrupt ins Geschehen einführt.

Und der Schluss? Eine Fuge. Eine Fuge in C-Dur, in der die Tonarten gewechselt werden, dass es eine Freude ist. In der zugleich gezählte 66 Mal der Welt ins Stammbuch geschrieben wird, dass alles auf Erden Spott wäre. Wie weit war Verdi da schon von jenem Mann entfernt, der sich als Galeerensklave sah, der Sträuße mit der Zensur ausfocht, der einen Misserfolg überschießend gleich als Fiasko apostrophierte. Altersmild? Alterweise? Dem entlarvenden Falstaff-Humor nach urteilend eher Letzteres. Wenn der junge Fenton im Park von Windsor eine Liebesarie singt, so steht nicht der junge und mittlere Verdi hinter ihm, um der hier vorgebrachten wahren Inbrünstigkeit Nachdruck zu verleihen. Hier schwebt der alte Verdi weit über dem jungen Liebenden – und wenn er Richard Strauss und der Falstaff-Librettist Arrigo Boito Hugo von Hofmannsthal wäre, so sagten die beiden wie im Rosenkavalier wohl: »Sind halt aso, die jungen Leut.« Aber Verdi ist Verdi und Boito ist Boito. Und so wird Fenton zusammen mit seiner geliebten Nannetta durch den mütterlichen Realitätssinn Alices ins Geschehen zurückgeholt. Aber die Erkenntnis ist trotzdem dieselbe: »Sind halt aso die jungen Leut.« Verdi, der Menschenkenner, wei. um die Emotionen, die uns bewegen, er kennt die hehren und die weniger hehren Gefühle. Er hat so vieles in seinen unzähligen Bühnenfiguren durchlitten, durchhofft, durchlebt. Am Ende wusste er »Alles ist Spott auf Erden«. Mit diesem Wissen schrieb er den Falstaff und deklinierte für sein Publikum: »Sind halt aso, die jungen Leut, sind halt aso, die eifersüchtigen Ehemänner, sind halt aso, die schlitzohrigen Gauner, sind halt aso, die gewieften Frauen. – die aber insgeheim selbst von einem Liebesbrief eines Verachteten mehr als geschmeichelt sind, solange nur sie selbst die Adressatinnen sind (die kurz aufblühende Musik im Frauenquartett am Ende des ersten Aktes verrät dies). Aber alles in allem muss man nichts wirklich ernst nehmen. Auch nicht das scheinbar Mystisch-Zauberhafte. Wie vollblutig ließ Verdi in seinem Macbeth Hexen und Visionen durch die Partitur gruseln. Nannetta und ihr Feengefolge schlagen da im Falstaff ganz andere Töne an. Leichtfüßig wird hier die Tür zum Impressionismus aufgestoßen, und so entrückt es mit einem Mal auch klingen mag – von der Titelfigur ausgenommen, wissen alle auf der Bühne und im Zuschauerraum: Es ist nur Spiel! Und wenn kleine atmosphärische Reminiszenzen, Andeutungen, Anspielungen, aus Verdis früheren Werken in der Falstaff-Partitur aufblitzen, dann sind es nur Zitate, die ebenfalls unterstreichen sollen: Es ist nur Spiel!

Verdi hat bekanntlich immer Partei für die Schwachen, die Verlierer und die Geächteten ergriffen. Im Falstaff ergreift er die Partei für das menschliche Leben in seiner kompletten Fülle, ohne jedoch einzelne Aspekte überbetonen zu wollen. Vielleicht handelt es sich bei Verdi gar nicht um Altersweisheit, sondern um Altersliebe, denn sein Blick auf das gesamte Falstaff-Personal bleibt trotz allen humoristischen Schärfen und Kanten ein liebevoller. Puccini wird anderthalb Jahrzehnte sp.ter mit dem Gianni Schicchi ein deutlich böseres Menschenvolk auf die Bühne bitten. Der Falstaff ist versöhnlicher.

In Wien war es einmal mehr Gustav Mahler, der als Hofoperndirektor nach anderen wichtigen Stücken auch den Falstaff im Spielbetrieb dieses Hauses verankert hat. Der Erfolg des einige Jahre zuvor über diese Bühne gegangenen Falstaff-Gastspiels der Mailänder Scala, mit dem Uraufführungsdirigenten und dem Uraufführungssänger der Titelpartie, war ohne größere Auswirkungen auf die hiesige Rezeption. Unbestritten ist freilich, dass es seine Zeit brauchte, bis dieses so kostbare Werk in Wien eine ähnliche Popularität erreichte, wie die übrigen beliebten Verdi-Opern. Die bedeutende Produktion von Luchino Visconti (1966) kam beispielsweise auf nur vier Jahre bzw. 26 Aufführungen, die nachfolgende von Filippo Sanjust immerhin auf über 40 Vorstellungen. Einen Glücksgriff stellte unbestritten die Inszenierung  Marco Arturo Marellis dar (Premiere 2003). Marelli, der im Laufe der Jahre eine Reihe gelungener Regiearbeiten an der Staatsoper präsentieren konnte (dass er zum Ehrenmitglied des Hauses ernannt wurde, kommt nicht von ungefähr), hatte sich auf verschiedenen internationalen Bühnen immer wieder mit dem Falstaff beschäftigt und ihn jedes Mal überarbeitet und optimiert. Dieses jahrelange Ringen merkt man der schlussendlich für Wien erarbeitete Fassung auch an: Sie gehört mit Sicherheit zu seinen besten Arbeiten! Und diese kehrt nun am 4. September (in einer fast durchwegs neuen Besetzung!) nach exakt zehn Jahren Pause zurück in den Spielplan: Bei Marelli erlebt man einen in die Jahre gekommenen Don Giovanni, der nicht vom Teufel geholt wurde, sondern nur zum Außenseiter abgerutscht ist. Von der grauen bürgerlichen Gesellschaft vergessen, ja sogar bewusst aus der Erinnerung verdrängt, hat er es sich, alt und fett geworden, in seinem extrem bunt gehaltenen und lebensbejahenden Untergrunddasein gemütlich gemacht. Aber dieser Falstaff lässt sich nicht negieren. Mit einem Mal bricht er wieder aus seinem Paralleluniversum in die farblose Alltagswelt der Dutzendmenschen ein, nimmt ihnen die Langeweile, bricht die starren Abläufe auf und l.sst alle die existenziellen Unterschiede zwischen Sein und Schein erfahren. Mit Hilfe einer kippbaren Bühnen-Bretterschräge wechselt der Regisseur und Bühnenbildner Marelli auch optisch eindrucksvoll immer wieder zwischen den gegensätzlichen, sich belauernden Lebensphilosophien, um schließlich im Ensemble der Schlussfuge auf die Unverzichtbarkeit jeder einzelnen Persönlichkeit hinzuweisen.


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