Die Pracht der Vielfalt
Allein an der Wiener Staatsoper ist Simone Young mit den unterschiedlichsten Werken von nicht weniger als 16 (!) Komponisten vor das Publikum getreten – in zahllosen umjubelten Premieren, Wiederaufnahmen, Neueinstudierungen und denkwürdigen Repertoireaufführungen. Vom Belcanto bis zu Britten reichte die bisherige Auslese, populäre Werke waren ebenso vertreten wie Raritäten, deutsches, italienisches, französisches, slawisches und englisches Fach, ja sogar Gustav Mahlers Lied von der Erde erklang hier unter ihrer Stabführung. Doch einen wesentlichen Komponisten des 20. Jahrhunderts, dessen Œuvre andernorts einen wichtigen Stellenwert im gewaltigen Repertoire der Dirigentin einnimmt, hatte sie im Haus am Ring bisher noch nicht präsentieren können: Hans Werner Henze. Mit der Wiener Erstaufführung des Verratenen Meeres am 13. Dezember 2020 soll sich das nun ändern. Andreas Láng konnte schon während der intensiven Probenphase im Arsenal, der größten Probebühne der Staatsoper, das folgende Interview mit der vielgefragten Künstlerin führen.
Knapp vor der von Ihnen geleiteten Deutschen Erstaufführung an der Hamburgischen Staatsoper von Henzes L’upupa hatten Sie 2006 Gelegenheit den Komponisten in seinem Domizil im italienischen Marino zu besuchen und ein ausführliches Gespräch mit ihm zu führen.
SIMONE YOUNG Ich habe bei diesem Treffen in Bezug auf sein Werk viel von ihm lernen dürfen, aber das vielleicht Wichtigste war: Er erwartete von uns Musikern, dass wir seine Kompositionen im wahrsten Sinn des Wortes interpretieren. Also nicht nur exakt wiedergeben, was in der Partitur von ihm festgelegt wurde – das ist natürlich immer eine Voraussetzung – sondern darüber hinaus unsere persönliche Meinung, Sichtweise zum Ausdruck bringen, mit dem Material, dem Klang, der für ihn übrigens nicht espressivo genug sein konnte, auf ganz individuelle Weise arbeiten. Diese Einstellung wies ihn einmal mehr als Theatermenschen, als Praktiker aus, der mit ganzem Herzen an die lebendige Kunstform Oper geglaubt hat. Er wohnte dann tatsächlich mit großem Interesse der Premiere in Hamburg bei, um unsere Interpretation seiner L’upupa kennen zu lernen.
Die Uraufführung des Verratene Meeres fand 1990 statt, Henze überarbeitete das Werk aber mehrfach: Zunächst kam die ursprünglich deutschsprachige Oper in einer japanischen Fassung heraus, 2005 folgte eine gründlich revidierte Version.
SIMONE YOUNG Sowohl das Regieteam als auch ich geben der etwas längeren 2005er Fassung den Vorzug gegenüber der ursprünglichen von 1990. Wir finden sie insgesamt schlüssiger, musikalisch interessanter. Nicht zuletzt für die zahlreichen phänomenalen Zwischenspiele, genauer Verwandlungsmusiken, nahm sich der reifere Henze mehr Zeit – insbesondere die leisen und zarten, nachdenklichen, sparsam orchestrierten Passagen bekamen ein größeres Gewicht. Ihm war ja immer wichtig, den jeweiligen Stoff in Musik zu übersetzen und dadurch zugleich zu kommentieren – und die ausgedehnteren Zwischenspiele gaben ihm die Möglichkeit, zusätzlich Wichtiges zu erzählen. Mit dem komplett neu komponierten instrumentalen Vorspiel zum zweiten Akt, evozierte er beispielsweise wunderschön die Eiseskälte des Winters. Darüber hinaus hat der Komponist einen großartigen Monolog für den Tenor nachgereicht und das an sich schon wichtige und sehr große Schlagwerk noch mehr ins Zentrum gerückt. So setzte er etwa dem ursprünglichen Beginn der Oper einige intensiv-eindrückliche reine Schlagwerk-Takte voran, um den Hörer gewissermaßen atmosphärisch und inhaltlich gleich in medias res zu führen. Andererseits existieren in der Urfassung ein paar von Henze später gestrichene Passagen, die vor allem vom Text her den Hauptfiguren zusätzliche Konturen verleihen und unserer Meinung nach daher fehlen würden. Also haben wir sie wieder eingefügt. Mit anderen Worten wir spielen die Version „2005 plus“ – man könnte sie auch als „Wiener Fassung“ bezeichnen.
Trotz der Revision hat Henze große Abschnitte unverändert gelassen. Inwieweit haben wir es dadurch mit zwei unterschiedlichen Henze-Stilen zu tun?
SIMONE YOUNG Auch dieses Aufeinanderprallen des reifen Henze, mit seiner Ruhe und Transparenz und des früheren, wilden, orchestralen intensiven Henze der später 1980er-Jahre macht mit den Reiz der Spätfassung aus, zumal dadurch die Konfrontation der drei Hauptfiguren und die daraus resultierenden Emotionen noch besser zur Geltung kommen.
Die drei Hauptrollen sind recht klassisch mit Sopran, Tenor und einer tieferen Männerstimme besetzt.
SIMONE YOUNG Fusako soll ein schöner, lyrischer Sopran, allerdings mit extremer Höhe sein – im zweiten Akt geht die Partie bis zum hohen d! Und Ryuji ist ein klassischer dramatischer Bariton, vergleichbar mit einem Dr. Schön in Lulu oder mit der Titelfigur in Aribert Reimanns Lear. So weit, so klar. Dass Noboru jedoch von einem Tenor gesungen wird, überrascht vielleicht im ersten Moment. Im Roman und demnach auch in der Oper handelt es sich um einen 13jährigen Burschen, also erwartet man zu recht eine Knabenstimme. Für Henze war aber die Figur viel zu wichtig. Die Rolle von der Länge her so zu verknappen, dass sie auch ein Bub singen könnte, kam für ihn daher nicht in Frage. Da Noboru überdies immer wieder mit Fusako und Ryuji gemeinsam singt und dementsprechend stimmlich mithalten muss, kam nur eine erwachsene Männerstimme in Frage, genauer ein eleganter, lyrischer Tenor mit einer guten Höhe. Und auch die anderen Burschen in Noborus Jugendbande sind aus ähnlichen Überlegungen heraus durchwegs mit Erwachsenen besetzt: mit einem Bass, einem hohen und einem tiefen Bariton sowie – eine besondere Farbe – einem Countertenor.
Und wie geht Henze mit der Stimmbehandlung, den Gesangslinien um?
SIMONE YOUNG Hier knüpft Henze bewusst an historische Vorbilder an: Zum einen lässt sich eine direkte Verbindung zum Liedgesang des 19. Jahrhunderts ausmachen, zum anderen ist der Einfluss des Expressionismus unverkennbar. Große, üppig-expressionistische Linien voller Ausdruck wie sie in Bergs Lulu vorkommen, standen sicher auch Pate. Auf der anderen Seite gibt es Szenen in dem Stück, in denen der Sprechgesang dominiert, wie wir es aus Wozzeck oder Moses und Aron kennen. Vor allem der zentrale, dramatische Teil der 11. Szene im zweiten Akt, in dem Fusako entdeckt, dass ihr Sohn Noboru sie und Ryuji im Schlafzimmer beobachtet hat, ist ausschließlich für Sprechstimmen konzipiert. Fusako muss hier voller Angst erkennen, dass sie weder ihren Sohn kennt, noch die eigenen Gefühle zu ihm. Außerdem vergiftet diese Situation auch die Verbindung zu Ryuji. Henze hat hier, was Tonhöhe und Rhythmus betrifft, alles ganz präzise notiert – aber es soll eben nicht gesungen, sondern gesprochen werden. Als Kulminationspunkt innerhalb der Handlung hat dieser Abschnitt somit auch in Bezug auf die Sängerbehandlung aus dem Rahmen zu fallen. Das Spannende an diesem Werk ist übrigens, dass es aus dem Blickwinkel aller drei Hauptfiguren gehört und verstanden werden kann.
Sie haben vorhin die instrumentalen Verwandlungsmusiken als phänomenal bezeichnet.
SIMONE YOUNG Wenn ich etwas Zeit finden könnte, würde es mich reizen, aus diesen so genial instrumentierten Kostbarkeiten eine Konzert-Suite zu erstellen. Sie sind zu Unrecht nahezu unbekannt.
Sollen sie, wie in Brittens Peter Grimes, das Meer, das der Seemann Ryuji verrät, versinnbildlichen?
SIMONE YOUNG Nicht grundsätzlich, nur an ein paar Stellen. Viel eher geben sie uns, etwa als Traumbilder, Einblicke in die Psyche der Akteure und zeigen uns auf diese Weise so manches, worüber der Text keine Auskunft gibt.
Vom Schlagwerk war bereits kurz die Rede. In Henzes Opern ist es oft überdurchschnittlich stark vertreten, sogar in seiner Kinderoper Pollicino nimmt es physisch wie akustisch breiten Raum ein.
SIMONE YOUNG Hier im Verratenen Meer hat es, wie schon erwähnt, auch eine ganz konkrete musikdramaturgische Funktion. Das diesbezügliche Instrumentarium ist in der Tat recht eindrucksvoll: Vibraphon, Marimbaphon, chinesische Gongs, Tamtam, Peitsche, eine O-Daiko, also eine große traditionelle japanische Trommel, dazu Celesta und Klavier in Kombination mit zwei Harfen. Ich entnehme dieser Klangwelt, dass Henze daran lag, eine Art pseudoostasiatisches Flair zu schaffen. Die Oper beginnt in der Spätfassung gleich mit einem dreifachen Forte-Schlag auf der O-Daiko – da weiß man sofort: Wir sind in Japan und es wird brutal zugehen. Die Partitur sieht auch Tonbandeinspielungen von Hafengeräuschen vor, die einen gewissen Rhythmus haben. Durchaus denkbar, dass diese der ursprüngliche Ausgangspunkt für die Schlagwerk-Konzeption war, die Henze dann weiterentwickelte. Die klassischen Pauken verwendet er hingegen eher nur als Unterstützung des Blechs.
Gemeinsam mit der restlichen Orchesterbesetzung, die immerhin so Exoten wie ein Sopransaxophon aufweist, hat man also einen recht üppigen Apparat im Graben …
SIMONE YOUNG … den Henze das eine Mal mit voller Wucht und Macht einsetzt, das andere Mal wieder extrem ausdünnt und dabei nur wenige Instrumente miteinander kombiniert, zum Beispiel vier Solostreicher mit Harfe oder Marimbaphon. Dadurch entstehen die unterschiedlichsten Farbvaleurs mit denen Henze der breiten Palette an Emotionen seiner Akteure musikalisch entsprechen kann. Ähnliches gilt für die dynamische Bandbreite: Man findet alle Schattierungen, vom dreifachen Forte bis hin zum vierfachen Piano.
Sowohl in der Romanvorlage von Mishima als auch in der Oper trifft man inhaltliche Anspielungen auf Französisches: das französisches Restaurant etwa oder die Boutique Fusakos. Wie viel Französismen finden sich nun in der Musik?
SIMONE YOUNG Das Japan der Nachkriegszeit zeichnet sich unter anderem durch eine große Liebe zur westlichen Kultur aus, die dann allerdings nur sehr ausschnitthaft in die eigene Tradition integriert wird. Man betont grundsätzlich das Eigene, das Japanische, schwärmt aber zugleich zum Beispiel für die französische Küche oder französische Süßigkeiten. Im konkreten Fall des Verratenen Meeres steht demnach auf der einen Seite etwa der typisch japanische Seemann, das Ambiente von Yokohama und auf der anderen eben diese französisch anmutende Boutique oder die Tatsache, dass Noboru seinem gesellschaftlichen Stand entsprechend englische Vokabeln lernen muss. Natürlich blitzen hier und da Stellen in der Partitur auf, die an die Klangwelt des französischen Impressionismus erinnern und die wir in den Proben der Einfachheit halber gerne als Debussy-Stellen titulierten. Aber das sind nur kurze Momente.
Auffallend sind in der Partitur Passagen die mit Tanzbezeichnungen wie Tango, Musette, Bourré, „Tanzliedchen“ übertitelt sind.
SIMONE YOUNG Tänze beziehungsweise Ballette waren bekanntlich fixe Bestandteile der Opern der Barockzeit, in denen sogar der Hof inklusive Kaiser oder König mitgewirkt haben – und Henze
wurzelt mit seinem Musiktheater ja tief in der Tradition der Gattung Oper, war zudem angetan von diversen musikalischen Strukturen und Formen. Beim Tango in der 9. Szene bin ich mir überdies nicht sicher, ob nicht eine auch Portion Ironie mitschwingt: Denn die Instrumentierung Vibraphon, Marimbaphon, Celesta, 2 Harfen entspricht in keinster Weise dem Klischee einer Tangobesetzung.
Die Musiksprache des Verratenen Meeres ist im Wesentlichen freitonal.
SIMONE YOUNG Wobei Henze uns ab und zu mit tonalen Einsprengseln überrascht, die aber dann wieder gleich wieder verschwinden. Zugleich erkennt man den Einfluss der Zweiten Wiener Schule, wenn Tonfolgen gelegentlich nicht vertikal zu verstehen sind, so wie man sie aufs erste wahrnimmt, sondern horizontal. Und an manchen Stellen wiederum spielt er mit Clusterbildungen, wenn er Akkorde und Dissonanzen gnadenlos aufeinandertreffen lässt. Auf jeden Fall ist die Musik des Verratenen Meeres keine, die man einfach so nebenher konsumieren kann, von der sich der Hörer einfach tragen lassen kann. Sie ist definitiv anspruchsvoll, aber es lohnt sich wirklich in sie einzutauchen.