Die Nuance des Blickwinkels
Die Mär vom konservativen Publikum der Wiener Staatsoper ist genauso beständig und unausrottbar wie falsch. Nicht zuletzt die hohe Akzeptanz, ja sogar triumphale Aufnahme mit der in jüngster Vergangenheit zeitgenössische Erst- sowie Uraufführungen an diesem Haus bedacht wurden, belegen das Vorhandensein eines großen Interesses an Neuem sowie die Bereitschaft, ungewohnte Musiktheaterpfade zu erkunden. Jüngstes Beispiel war die Weltpremiere von Olga Neuwirths Orlando, aber auch die Erfolge von Thomas Adès The Tempest, Johannes Maria Stauds Weiden und ganz besonders von Péter Eötvös’ Tri Sestri sprechen für sich. Gerade das letztgenannte Werk fügt sich ja schon von der bewussten Auflösung einer linearen Erzählstruktur her nicht in das gewohnte Handlungsmuster ein – und dennoch: Das auf Tschechow basierende Stück konnte nicht nur weltweit, sondern in ganz hohem Maße gerade an der Wiener Staatsoper begeistern. Und zwar auf allen Ebenen. Der Premierenjubel schloss im März 2016 sowohl die Oper an sich, den dirigierenden Komponisten Eötvös, die Interpreten der herausfordernden Partien als auch – und nicht zuletzt – Regisseur Yuval Sharon ein, der mit dieser Inszenierung ein mehr als beachtenswertes Hausdebüt gab: Die einprägsamen Bilder – etwa von den drei, wie in einer Ewigkeitsschleife gefangenen schaukelnden Schwestern im Prolog, oder die auf Fließbändern vorbeiziehenden Erinnerungsmomente – zeugen von einer überaus authentischen, kreativen und zugleich effektvollen Theaterpranke, die die komplexe Dramaturgie von Tri Sestri optisch versinnbildlicht.
In dieser Komplexität steckt allerdings zugleich auch der besondere narrative und psychologische Reiz dieser ersten abendfüllenden Oper von Péter Eötvös: In drei als Sequenzen bezeichneten Abschnitten wird (ähnlich wie schon in Akira Kurosawas Rashomon) dieselbe Handlung jeweils aus einer anderen Perspektive geschildert: Aus dem Blickwinkel der Schwestern Irina und Mascha sowie des schwachen Bruders Andrei. Der gewissermaßen gleichbleibende Aspekt und rote Faden in diesen drei hintereinander gebrachten Versionen von ein und derselben Geschichte ist die Betonung der Themenkreise Erinnerung, Abschied, Leere, Sehnsucht und Schmerz. (Vorangestellt ist dem Gesamten noch ein Prolog, der das Publikum in die Grundstimmung des Abends einführen soll.) Als wesentlicher musikalischer Leitfaden durch diese – für viele ungewohnte – Musiktheaterdramaturgie und zugleich als Grundlage der Partitur dient die bewusste Verbundenheit einzelner Instrumente mit den Charakteren auf der Bühne. So entspricht etwa die Gruppe der Holzbläser den Familienmitgliedern, also den drei Schwestern und ihrem Bruder Andrei: Olga ist demnach die Altflöte, Irina die Oboe, Mascha die Klarinette, ihrem Gatten Kulygin die Bassklarinette und Andrei das Fagott zugewiesen; die Soldaten werden hingegen von Blechbläsern repräsentiert. Die Musiker dieser Instrumente sitzen übrigens im Graben, für den symphonischen Klang ist ein zweites Orchester verantwortlich, das hinter der Szene positioniert ist.
Ziemlich exakt vier Jahre später besteht nun die Möglichkeit die Drei Schwestern – so der deutsche Titel – in einer zum Teil neuen Besetzung erneut zu erleben. (Wobei die für die Wiener Staatsoper entwickelte Mischfassung, nach der – anders als bei der Uraufführung in Lyon – die drei weiblichen Hauptpartien tatsächlich von Frauen gesungen werden und nur die ungeliebte Schwägerin Natascha und die Amme von einem Kontertenor bzw. einem Bass, auch diesmal zum Einsatz kommt.) So wird beispielsweise Valentina Nafornita erstmals die jüngste Schwester Irina verkörpern, Samuel Hasselhorn und Ayk Martirossian die um ihre Gunst eifernden (und sich tragisch duellierenden) Offiziere Tusenbach und Soljony, Morten Frank Larsen den Kommandanten Verschinin und Jörg Schneider den mit der Familie befreundeten, vom medizinischen Standpunkt aus gesehen fragwürdigen Doktor. Péter Eötvös selbst lässt es sich freilich nicht nehmen, für die Aufführungen wieder persönlich ans Dirigentenpult im Orchestergraben zu treten und damit sein überaus erfolgreiches Werk mit der für ihn typischen Hingabe zu neuem Bühnenleben zu erwecken.
Andreas Láng
KURZINHALT
Die drei Schwestern Olga, Mascha und Irina sowie ihr verheirateter Bruder Andrei leben in einer russischen Provinzstadt und hoffen sehnsuchtsvoll auf eine bessere Zukunft, auf wahre Liebe und ein erfülltes Leben: Maschas Ehe mit Kulygin ist nur noch eine Fassade, die noch unverheiratete Irina hofieren Männer, für die die junge Frau keine tieferen Gefühle empfindet und der spielsüchtige Andrei ist zum willenlosen Werkzeug seiner Frau Natascha geworden, die die Herrschaft im Haus an sich zu ziehen trachtet. Olga erkennt das Zusammenbrechen ihrer einst stolzen Familie. Gemeinsam beklagen die drei Schwestern das Abschiednehmen, die persönliche Einsamkeit und das damit verbundene Leiden. Alles hat sich lediglich in Erinnerung verwandelt.
TERMINE
Peter Eötvös | Tri sestri
12., 14., 17. März 2020
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BESETZUNG
Dirigent: Péter Eötvös
Dirigent des Bühnenorchesters: Jonathan Stockhammer
Irina: Valentina Nafornita
Mascha: Margarita Gritskova
Olga: Ilseyar Khayrullova
Natascha: Eric Jurenas
Tusenbach: Samuel Hasselhorn
Verschinin: Morten Frank Larsen
Andrei: Gabriel Bermúdez
Kulygin: Dan Paul Dumitrescu
Doktor: Jörg Schneider
Soljony: Ayk Martirossian
Anfissa: Marcus Pelz
Rodé: Pavel Kolgatin
Fedotik: Jinxu Xiahou