© Yota
Kate Lindsey
Kate Lindsey als Donna Elvira in »Don Giovanni«
Kate Lindsey als Nerone in »L'Incoronazione di Poppea«
Kate Lindsey als Die Musik in »L'Orfeo«

Die Musik Spüren

Kate Lindsey. Das ist zunächst einmal eine international fulminant agierende Sängerin mit einem großen Repertoire: Barock bis Gegenwart, Englisches bis Deutsches, Lied und Oper. Doch Kate Lindsey ist nicht nur Stimme und Vielfalt, sie ist auch eine Darstellerin, die in ihren Rollen vollkommen aufzugehen scheint, voller Intensität ist, ganz mit den Figuren verschmilzt. Wer hat ihr nicht fasziniert zugesehen, als sie als Kaiser Nero in Monteverdis Poppea-Oper auf der Bühne stand? Als sie die Titelfigur in der Uraufführung von Orlando stupend gestaltete? Wer folgt nicht atemlos all ihren Transformationen? Gerade noch der 17-jährige Octavian, und schon die mythologische Penelope, die den heimgekehrten Odysseus wieder lieben lernen muss. Vor ihrer Così fan tutte-Premiere im Juni singt sie im Mai die Partie der Miranda in der Wiederaufnahme der Shakespeare/Adès-Oper The Tempest. Noch in der Probenzeit dazu sprach sie mit Oliver Láng über das emotionale Begreifen eines Werks, den Unterschied von Oper und Netflix und was uns heute mit Shakespeares Sturm verbindet.


Wann immer der Name Shakespeare fällt, hört man Dinge wie: Ein absoluter Kenner der menschlichen Seele! Zeitlos! Allgemeingültig! Ist das so? Hat Shakespeare wirklich eine so universelle Bedeutung? Und wenn ja: Warum?

Das ist eine sehr weitgreifende Frage… Ich denke, dass sein Werk auf manche zunächst sogar einschüchternd wirken kann: die Handlungen, die Sprache, die Komplexität. Und doch erzeugen seine Stücke bei vielen Menschen einen Wider- und Nachhall und doch kehren wir immer wieder zu ihnen zurück. Warum? Ich glaube, weil sie immer wieder Dinge aufzeigen, die für unsere Existenz zentral sind. Aspekte menschlicher Beziehungen, die Art und Weise, wie wir miteinander umgehen. Und wie er das zeigt: das inspiriert uns seit Hunderten von Jahren! Im Falle von The Tempest ist für mich das Erforschen der Beziehung zwischen Vater und Tochter ein wichtiges Element. Wir haben eine Konstellation, in der ein Vater seine Tochter schützen und beschützen will, ihr aber nie wirklich sagt, was zuvor passiert ist und warum sie in dieser Lebenssituation sind. Miranda, die Tochter, ist also immer auf der Suche nach Informationen und weiß nicht, warum sie mit ihrem Vater Pros-pero so isoliert auf der Insel lebt. Auch wenn The Tempest Fiktion ist, erinnert sie uns vielleicht an Momente unserer eigenen Biografie: Viele von uns haben mitunter womöglich nicht verstanden, warum Eltern etwas taten, und brachten sie nicht dazu, es zu erklären. Solche gedanklichen und emotionalen Verbindungen führen dazu, dass Künstlerinnen und Künstler sich immer wieder aufs Neue mit dem Werk Shakespeares auseinandersetzen. Oder sich viele moderne Stücke auf Ideen Shakespeares beziehen. Wobei es natürlich nicht nur um Shakespeare geht. Das betrifft alle Großen, von Mozart bis Verdi und all die anderen: Sie berühren und beschreiben etwas zutiefst Menschliches – und sind daher ewig.

Abgesehen von diesem Gefühl, persönlich angesprochen zu werden: Welche »Funktion« haben diese großen Werke, über die wir reden? Lernt man etwas über Politik? Geht es um ein ästhetisches Glück? Oder nur um die persönliche Bezugnahme?

Das hängt auch sehr stark von der jeweiligen Produktion ab. Wenn man eine Inszinierung hat, die ein starkes politisches Statement setzen will, die das Zeitgenössische und Aktuelle anspricht, dann kann das im Vordergrund stehen. Muss es aber nicht, man kann auch andere Schwerpunkte setzen. Bei der Tempest-Produktion der Wiener Staatsoper würde ich sagen, dass es weniger um eine politische Vision geht als um die Erforschung einer Geschichte und der beteiligten Figuren.

Und worin liegt der Unterschied einer Theateraufführung zu einem (Shakespeare-)Film auf Netflix? Was kann vermittelt werden, was der Bildschirm nicht kann?

Mir geht es bei einer Aufführung nicht nur um das Live-Geschehen auf der Bühne, also die Handlung, die in Echtzeit vor einem stattfindet. Mir geht es auch um die Gemeinschaft, das Gefühl, mit anderen Menschen zusammenzusitzen und etwas gemeinsam zu erleben. Das empfinde ich heutzutage sogar noch wichtiger! Weil wir alle, selbst wenn man viel auf Reisen ist, manchmal in unserer eigenen, isolierten Welt gefangen sind. Natürlich, es ist einfacher, auf einen Knopf zu drücken und dann etwas auf einem Bildschirm zu sehen. Aber wenn ich ins Theater gehe und mit anderen zusammensitze, dann spüre ich, wie mächtig eine kollektive Erfahrung sein kann.

The Tempest von Shakespeare wird gerne als besonders vielschichtig, ja, etwas rätselhaft angesehen. Daher die Frage: Worum geht es an diesem Abend?

Um ganz ehrlich zu sein: genau das versuche ich herauszufinden. Ich habe einen besonderen Zugang, weil ich eine Katie-Mitchell-Produktion mit dem Titel Miranda gemacht habe, die eine Art modernere Interpretation der Tempest-Geschichte ist – mit Miranda im Zentrum. Sie stellt die Geschichte ihres Vaters infrage und überdenkt alles neu… Das ergibt eine eigene Sichtweise auf das Ganze. Ich habe mich mit diesem Zugang sehr intensiv auseinandergesetzt und habe viel mit Mirandas Wut zu tun gehabt, es ging dabei mehr um die dunkle Seite dieser Vater-Tochter-Beziehung. Die Themen von Tempest umfassen natürlich auch Prosperos Versuch, Dinge zu kontrollieren, sein Bedürfnis nach Isolation und seinen Einsatz von Magie, um Rache zu üben. Ebenso gibt es eine Ebene der Vergebung, die am Ende erreicht wird. Ich docke aber auch an Dingen wie die Machtstrukturen in einer Familie an. Denn wir alle, von Tochter zu Vater, von Vater zu Bruder, von Vater zu Sohn werden durch diese herausgefordert. Oder auch vom Wettbewerb zwischen Geschwistern um die Gunst der Eltern. Das alles fühlt sich sehr menschlich und echt an. Und so versuche ich, eine Verbindung des Stücks zu jenen Geschichten zu schaffen, die wir in unserem eigenen Leben wiederfinden.

»Die Themen von Tempest umfassen natürlich auch Prosperos Versuch, Dinge zu kontrollieren, sein Bedürfnis nach Isolation und seinen Einsatz von Magie, um Rache zu üben. Ebenso gibt es eine Ebene der Vergebung, die am Ende erreicht wird.«

Miranda lebt seit zwölf Jahren auf der Insel, fernab von all dem, das sie kannte. Man muss sie als traumatisierte Figur sehen, oder?

Sie ist zweifellos traumatisiert. Und sie ist in einem Alter, in dem man Fragen stellt. Als Kind, da akzeptiert man manches, man nimmt es hin, dass Dinge sind, wie sie sind. Aber später, da will man mehr wissen, man drängt auf Antwort: Warum? Warum leben wir so? Warum sind wir isoliert? Wo sind all die anderen? Bedürfnisse entstehen, Bedürfnisse nach mehr, mehr als nur nach einer Familienperson. Und all das zusammen führt zu Konflikten. Denn der Vater kann sich nicht mehr abwenden von all den Fragen, die beantwortet werden müssen. Dazu kommt, dass Prosperos Einsatz von Macht, seine Fähigkeit, Magie einzusetzen eine Bedrohung darstellt. Aber er ist ihre einzige Bezugsperson… sie liebt ihn und sie fürchtet ihn.

Die Musik ist von Thomas Adès. Wie würden Sie diese jemandem beschreiben, der sie gar nicht kennt?

In diesem Stück ist es »ozeanische« Musik. Man ist inmitten des Sturms und das hört man im laufenden Wechsel des Metrums der Musik. Man zählt 1-2-3, 1-2-3-4-5, 1-2-3 und so weiter. Dadurch entsteht ein ständiges Rollen, man bekommt den Eindruck einer Instabilität. Es fühlt sich wie ein Wellengang an, wenn man auf einem Boot ist.

Wie läuft die gesanglich-handwerkliche Annäherung an dieses Werk ab? Studieren Sie die Rolle von Miranda in The Tempest von Adès anders ein als die Despina in Così fan tutte von Mozart?

Ich gehe definitiv anders an Mozart heran als an Adès. Bei Mozart gibt es Muster, Muster von Rhythmus und Melodie. Bei Adès – und an sich bei vielen Werken der zeitgenössischen Musik – ändern sich die Rhythmen laufend. Das verändert die Art, wie wir phrasieren. Bei der Musik der Klassik suchen wir nach einer gewissen Geschmeidigkeit, Adès hingegen ist kantiger. Und natürlich spielt auch die Sprache – bei Adès englisch – eine Rolle und verändert die gesangliche Herangehensweise. Ich würde fast sagen: Adès ist in dieser Hinsicht dem deutschen Repertoire näher. Und: Bei Adès braucht man viel länger, um eine Partie zu lernen.

Allein ihr Repertoire an der Wiener Staatsoper umfasst die gesamte Operngeschichte. Von Monteverdi bis Olga Neuwirth, dazwischen Mozart, Strauss, Rossini, Gounod. Ist das ein bewusst breit gewählter Ansatz?

Das hat mehrere Aspekte. Zunächst einmal entspringt diese Breite einem Gefühl von Ich möchte nicht bereuen, etwas nicht gewagt zu haben. Denn ich genieße es, mich selbst herauszufordern. Und es gibt so etwas wie eine amerikanische Mentalität, die ein Denken der Vielfalt mit sich bringt. Wenn man etwa an eine Universität geht, wird einem vermittelt, dass es gut ist, vielseitig zu sein, viele Dinge zu können, Fähigkeiten in verschiedenen Bereichen zu haben. Und ich habe mir das angeeignet. Deshalb widerstrebt es mir zu denken: Ich mache nur dieses oder jenes. Denn wenn ich mich einschränke, schränke ich vor allem meinen Geist ein. Wenn ich ihn aber ermutigen kann, sich zu öffnen, kann ich Grenzen überschreiten! Und dann kommt dazu, dass es für einen lyrischen Mezzo, wie ich es bin, wichtig ist, eine Flexibilität in puncto Repertoire zu haben. Am Anfang meiner Karriere eröffnete mir jemand, dass ich mich ständig neu erfinden werden müsse, und das auf unterschiedlichste Weise. Man muss sich stets selbst herausfordern und neue Türen öffnen. In meinem Fall hat das mein Interesse auf jeden Fall wachgehalten. Es war ohne Zweifel künstlerisch gut für mich!

Der Denker und Benediktinermönch David Steindl-Rast meinte einst, dass man die Welt nicht nur aus dem Intellekt heraus verstehen kann. Es braucht auch das Herz. Trifft das auch auf die Kunst zu?

Das ist so richtig und wahr! Manchmal treffe ich Menschen, die vor einem Theater- oder Opernbesuch eingeschüchtert sind, weil sie denken, nicht genug zu wissen und zu verstehen. Das Spannende ist aber, dass genau diese Menschen nach einem solchen Besuch tiefgründigere Dinge über einen Abend und ihr Erlebnis sagen können als eine Expertin. Denn manchmal sind wir alle so von einem intellektuellen Zugang eingenommen, dass es schwierig ist, sich einfach zurückzulehnen und Dinge aus einer kindlicheren Perspektive zu betrachten. Sie mit Staunen zu empfangen. Ja, es ist großartig, viel zu wissen. Und es ist großartig, dass es Menschen gibt, die sich einer Sache mit solcher Hingabe widmen können. Gleichzeitig aber darf man auch Erfahrungen machen, ohne sie zu zerdenken. Einfach fühlen und die Musik spüren! Ich finde es so aufregend, in einem Raum zu sein und die Schwingungen des Orchesters zu spüren, das Zusammenspiel zu erleben. Dieses gemeinsame Fühlen – es ist so mächtig! Und jede und jeder darf kommen und genießen!


Kate Lindseys bisherige auftritte an der Wiener Staatsoper:

  • Ariadne auf Naxos / Komponist (10-mal) – Debütrolle
  • Der Rosenkavalier / Octavian (3-mal)
  • Don Giovanni / Donna Elvira (15-mal)
  • Faust / Siébel (1-mal)
  • Il barbiere di Siviglia / Rosina (4-mal)
  • Il ritorno dʼUlisse in patria / Penelope (5-mal)
  • Lʼincoronazione di Poppea / Nerone (9-mal)
  • LʼOrfeo / Die Musik, Die Hoffnung, Echo (4-mal)
  • La clemenza di Tito / Sesto (3-mal)
  • Le nozze di Figaro / Cherubino (3-mal)
  • Orlando / Orlando (5-mal)