Die Meisterin des Details
Wenn Speranza Scappucci am 3. November zum ersten Mal für eine Vorstellung das Dirigentenpult der Wiener Staatsoper betreten wird, könnte es sein, dass so mancher im Publikum sich erinnert, die junge Italienerin schon einmal im Graben gesehen zu haben. Und tatsächlich: In ihrem „früheren“ Leben hatte sie als Solorepetitorin des Hauses auch Cembalo- beziehungsweise Hammerklavierdienste absolviert. Tempi passati. Eine Zeit lang arbeitete sie noch als freischaffende Korrepetitorin mit namhaften Dirigenten zusammen – unter anderem sehr viel mit Riccardo Muti – doch der Wunsch selbst die musikalische Gestaltung zu übernehmen, wuchs in ihr immer weiter an, und als sich an der Universität in Yale die Möglichkeit ergab Mozarts Così fan tutte zu dirigieren, ergriff sie die Gelegenheit beim Schopf – und reüssierte. „Schon als Korrepetitorin konnte ich bei so manchen Proben für den abwesenden Dirigenten einspringend realisieren, dass mir das Schlagtechnische gut von der Hand ging“, erinnert sich Speranza Scappucci. Wichtiger noch als die präzise Zeichengebung ist für einen Dirigenten freilich das Umsetzen einer interpretatorischen Idee, das Wissen um die musikalischen Zusammenhänge und die Fähigkeit ein Kollektiv führen zu können ohne es dominieren zu wollen. All diese Fertigkeiten konnte sich Speranza Scappucci als Korrepetitorin, als Kammermusikerin und Sängerbegleiterin über die Jahre hin erwerben: Ein Repertoire von rund hundert Opern, mit den unterschiedlichsten Dirigenten erarbeitet – das schafft ein Detailwissen, um das sie so mancher Kollege beneiden darf. Und ein zusätzlich absolvierter mehrjähriger Harmonielehrekurs an der New Yorker Juilliard School, der gewissermaßen einem Kompositionsstudium gleichkam, ist für ihr heutiges Betätigungsfeld auch nicht eben schädlich…
Die Berufung zur Dirigentin hatte Speranza Scappucci allerdings ursprünglich gar nicht verspürt, das kam erst später. Mit vier Jahren begann sie das Klavierstudium, das sie auf eine Solistenkarriere vorbereiten sollte, merkte jedoch bald, dass ihr das gemeinsame Musizieren mehr Freude bereitete als das Leben einer einsamen Virtuosin. Und sie entdeckte ihre Leidenschaft für die menschliche Stimme und das Musiktheater und so folgte die Zwischenstation Korrepetitorin: an der New Yorker Met, in Glyndebourne, in Chicago, Salzburg, Rom und eben in Wien.
Mittlerweile ist sie also Dirigentin, noch dazu mit einem geradezu kometenhaften Karrierestart. Der erwähnten Così fan tutte folgten immer mehr Angebote, schließlich kam eine Agentur dazu und nun weist ihr Kalender Engagements rund um den Erdball auf: Einen Attila am Mariinskij-Theater in St. Petersburg beispielsweise oder eine Traviata beim Festival in Macerata oder eine Cenerentola am Teatro regio in Turin und in Washington, Turco in Italia in Pesaro, La Bohème in Los Angeles, Così fan tutte in Rom, Norma in Lissabon, Don Giovanni in Glasgow, das Verdi-Requiem in Parma; das Liceu in Barcelona verpflichtete sie darüber hinaus ebenso wie das Zürcher Opernhaus oder jenes in Liège … und die Liste ist bei Gott nicht vollständig! Dazu kommen noch Auftritte mit rein symphonischen Programmen. Mit anderen Worten: Der Sprung ins kalte Wasser – sie hatte einen bestehenden Vertrag für eine Studienleiterstelle in Zürich gelöst und ohne Sicherheiten die neue Laufbahn begonnen – hatte sich gelohnt.
Und wie sieht die Werkstatt der Maestra aus? Wie bereitet sie die Stücke vor? Übt sie zu Hause vor dem Spiegel? Letzteres wird von ihr mit einem klaren Nein beantwortet. „Wenn ich ein Werk noch nie dirigiert habe, spiele ich die Partitur am Klavier durch, sehe mir den Verlauf der einzelnen Instrumentengruppen an, überlege genau, welche Einsätze notwendig sein werden, schreibe die eine oder andere Gedankenstütze in die Noten und gehe frohgemut den Proben entgegen. Manchmal gibt es natürlich Überraschungen. Vor meiner ersten Bohème etwa hatte ich ziemliche Angst, da ich um die rhythmische Komplexität und die vielen Rubati dieser Oper wusste. Aber offenbar war mir das Stück durch meine Korrepetitionsvergangenheit so ins Blut übergegangen, dass ich gar keine Schwierigkeiten vorfand. Umgekehrt konnte ich feststellen, dass Rossini eine wirkliche Herausforderung für den Dirigenten darstellt: Manches – wie beispielsweise das Quintett im ersten Akt der Cenerentola – erinnert an Mozart, vieles ist sehr transparent, die Beziehungen von Text und Orchester ist sehr diffizil – kurz: Rossini ist eine gute Schule.“ Apropos Text und Orchester – dieser Aspekt liegt Speranza Scappucci besonders am Herzen, hier will sie so gut es geht vermitteln: denn wenn der jeweilige Instrumentalist weiß, dass eine bestimmte Verzierung oder Melodiefolge nicht bloß schöner Selbstzweck ist, sondern Bezug nimmt auf das Gesungene, wird automatisch auf eine andere Art und Weise musiziert. Dasselbe gilt für die Rezitative, die Speranza Scappucci gelegentlich selbst vom Dirigentenpult aus am Cembalo spielt – auch hier muss jeder Akkord, jeder Ton die Farbe und Intention des Textes widerspiegeln. Das wird sie in Wien vorerst noch nicht machen, denn jetzt gilt es in einer ganz anderen Funktion an eine frühere, geliebte Wirkungsstätte zurückzukehren und da möchte sie sich auf das Wesentliche konzentrieren. Doch zukünftig wird sie wohl auch hier als Rezitativspielerin ein Comeback feiern – mit dem feinen Unterschied,dass sie danach den Stab (sie verwendet einen mittelgroßen, rund 30 cm langen Stab) wieder in die Hand nimmt, um den nächsten Auftakt zu geben …
Dirigate:
La cenerentola | Gioachino Rossini
3., 6.,10. November 2016
La traviata | Giuseppe Verdi
19., 23., 26.,29. November 2016
1. Dezember 2016
https://www.wiener-staatsoper.at/Content.Node/home/spielplan/Spielplandetail.php?eventid=963497067
Don Pasquale | Gaetano Donizetti
9., 14., 16. Juni 2017