Die Kraft der grossen Liebe

Jubiläen machen vieles möglich: Und so hat, dank des Beethoven-Jahres, das Wiener Publikum die weltweit einzigartige und in der bisherigen Operngeschichte erstmalige Gelegenheit, innerhalb weniger Wochen alle drei Fassungen Fidelios, der einzigen Oper des gefeierten Jubilars, zu erleben und miteinander zu vergleichen: Zunächst die Urfassung an der Wiener Staatsoper, dann die zweite Version am Theater an der Wien und schließlich die bekannte Produktion der üblicherweise gespielten Fassung an der Wiener Staatsoper. Viele kennen den Scherz, dass Bruckner in Wahrheit nur eine Symphonie geschrieben hätte, diese aber gleich mehrfach. Nun, im Falle von Fidelio wäre dieser Satz im Grunde wesentlich zutreffender – doch wie kam es zu diesen drei einander in vielem ähnlichen, aber in ebenso zahlreichen Details sehr unterschiedlichen Versionen?

Joseph Sonnleithner, seines Zeichens Direktor des noch jungen Theater an der Wien, konnte Beethoven, nach dessen gescheitertem Opernversuch Vestas Feuer auf ein Libretto von Emanuel Schikaneder, zu einem neuen Musiktheaterprojekt gewinnen: Sonnleithner selbst hatte Pierre Gaveaux’ und Jean Nicolas Bouillys französische Rettungs-Oper Léonore, ou L’amour conjugal ins Deutsche übertragen und bearbeitet (unter anderem die allzu republikanischen Aspekte eliminiert) und dem Komponisten angeboten. Beethoven fand Gefallen an dem Stück und vertonte ihn in anderthalbjähriger Arbeit. Nach Beendigung der Partitur musste noch ein kleiner Strauß mit der Zensur ausgefochten werden, die dem aus Frankreich kommenden Stoff misstrauisch gegenüberstand, doch Sonnleithner wusste diese Erschwernisse schließlich aus dem Weg zu räumen. Um eine Verwechslung mit anderen Vertonungen dieses Leonoren-Stoffes zu vermeiden, entschied man sich schließlich die Oper Fidelio zu nennen. Unter diesem Titel kam das Werk am 20. November 1805 im Theater an der Wien zur Uraufführung. Da aber Napoleons Truppen eben in der Donaumetropole einmarschiert waren und das übliche Opernpublikum die Stadt großteils verlassen hatte, fand diese wichtige Weltpremiere vor schlecht besuchtem Haus statt. Beethoven überarbeitete das Stück und brachte es ein Jahr später als Leonore abermals im Theater an der Wien heraus. Der Erfolg war erneut enden wollend und der Komponist zog die Partitur abermals zurück. In seiner endgültigen dritten Umarbeitung gelangte das Werk schließlich 1814 als Fidelio im Kärntnertortheater, dem Vorgängerbau der Wiener Staatsoper, zur Premiere, um fortan nicht mehr von den Spielplänen zu verschwinden.

Da das Autograph der Urfassung verschwand, musste die erste Version dieser Oper erst in einer beinahe wissenschaftlichen-kriminologischen Detailarbeit wiederhergestellt werden und konnte genau 100 Jahre nach der Uraufführung, also 1905, unter Richard Strauss wieder dem Publikum prä- sentiert werden.
Mit der Erstaufführung dieses Beethoven’schen Ur-Fidelios an der Wiener Staatsoper dürften nun so manche Kostbarkeiten, die den Umarbeitungen zum Opfer fielen, den meisten im Publikum ebenso überraschen, wie der noch deutlich spürbare Einfluss Mozarts, Haydns und sogar der französischen Vorlage oder der deutlich kritischere Tonfall gegenüber der Obrigkeit (so zum Beispiel in der zweiten Strophe von Roccos „Gold-Arie“, in der offen Kritik an der Korruptheit der Wohlhabenden angestimmt wird.) Dass sich Beethoven bei der Kompositionsarbeit am Fidelio an eigenen früheren Werken bediente, sei hier auch nicht verschwiegen. So fand zum Beispiel ein Motiv aus seiner 1790 geschrieben Trauerkantate auf den Tod Joseph II. Eingang in die Partitur (aller drei Fassungen).

Für die Inszenierung dieser Erstaufführung konnte die deutsche Regisseurin Amélie Niermeyer gewonnen werden (sie war zuletzt u.a. am Theater an der Wien und am Theater in der Josefstadt zu erleben), die die Handlung in die Gegenwart, oder besser in eine zu vermeidende unmittelbare Zukunft verlegt, in der die demokratischen Spielregeln außer Kraft gesetzt wurden und Oppositionelle ohne Angaben von Gründen in übergroßer Zahl in zu Gefängnissen umfunktionierten ehemaligen öffentlichen Gebäuden verschwinden. Auch Florestan gehört zu diesen Opfern und wird mit vielen anderen nunmehr seit längerer Zeit in einem ehemaligen Bahnhof unter menschenunwürdigen Zuständen festgehalten. Die Figur der Leonore ist in dieser Produktion zweigeteilt – in die Sängerin und eine Schauspielerin – die gewissermaßen im inneren Diskurs mit ihrem Alter Ego auf eine Reise zu ihrem Mann, aber auch zu sich selbst aufbricht. Von Selbstzweifel und Ängsten gequält, geht sie die Rettung ihres Mannes als Schließer Fidelio an, um sich über ihre Liebe zu Florestan schließlich zu einer tiefen Empathie und allgemeinen Menschenliebe aufzuschwingen. Als der Gefängnisgouverneur Pizarro kommt, um Florestan in seinem Verlies zu ermorden, stellt Leonore sich schützend vor ihren Mann und wird von Pizarro erstochen. In einer utopischen Todesvision erlebt sie daraufhin die Ankunft des Ministers und die Befreiung aller Gefangenen. Damit soll mit dieser Produktion die Kraft der großen Liebe zum Ausdruck gebracht werden, die politisch fragwürdige Systeme letztlich viel nachhaltiger zum Einsturz bringen kann, als jede Form des Druckes und der Gewalt.

Andreas Láng


Fidelio Urfassung (Leonore) | Ludwig van Beethoven
Dirigent: Tomáš Netopil
Regie: Amélie Niermeyer
Textbearbeitung: Moritz Rinke
Bühnenbild: Alexander Müller-Elmau
Kostüme: Annelies Vanlaere
Licht: Gerrit Jurda
Choreographie: Thomas Wilhelm
Dramaturgie: Yvonne Gebauer
Regieassistenz Veronika Sedelmaier
Bühnenbildassistenz: Anna Schöttl
Kostümassistenz: Stephanie Thun-Hohenstein

Leonore: Jennifer Davis
Leonore - die Schauspielerin: Katrin Röver
Florestan: Benjamin Bruns
Rocco: Falk Struckmann
Pizarro: Thomas Johannes Mayer
Don Fernando: Samuel Hasselhorn
Marzelline: Chen Reiss
Jaquino: Jörg Schneider
1. Gefangener: Oleg Zalytskiy
2. Gefangener: Panajotis Pratsos

Premiere: 1. Februar 2020
Reprisen: 5., 8., 11., 14. Februar 2020

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