Die gefährlichste menschliche Emotion
Aller guten Dinge sind drei: 2010 debütierte Regisseur Adrian Noble an der Wiener Staatsoper höchst erfolgreich mit Händels Alcina, 2015 brachte er gemeinsam mit Christian Thielemann Humperdincks meisterhafte Hänsel und Gretel – in einer Kinder wie Erwachsene gleichermaßen in Bann ziehenden Produktion – zurück auf die Bühne dieses Hauses und nun wird Noble zum Saisonausklang Verdis Otello neu inszenieren. Damit kehrt er inhaltlich wieder einmal indirekt zu seinen Wurzeln zurück, war der britische Theatermann doch jahrelang Mitglied, künstlerischer Leiter und Intendant der Royal Shakespeare Company – oder, anders ausgedrückt: man wird weltweit kaum jemanden finden, der vertrauter mit den Werken des großen englischen Dramatikers wäre. Verständlicherweise ist auch seine jahrelange Beschäftigung mit den Verdi’schen Shakespeare-Opern dementsprechend intensiv – Ergebnisse dieser Auseinandersetzung waren etwa eine hochgelobte Falstaff-Inszenierung in Göteborg 2005 und eine Macbeth-Produktion an der New Yorker Metropolitan Opera 2008 (die übrigens im kommenden September mit Anna Netrebko und Plácido Domingo wiederaufgenommen wird).
Nun also Otello. Zwei Aspekte standen am Beginn von Adrian Nobles Überlegungen: die bekannten aber auch die weniger beachteten Veränderungen, die Giuseppe Verdi und Arrigo Boito für ihre Oper an der Shakespeare’schen Vorlage vornahmen und der Umstand, dass Shakespeare die (sexuelle) Eifersucht als gefährlichste und in ihren grausamen Auswirkungen als zerstörerischste menschliche Emotion einstufte, die weit über Hass und Zorn hinausgeht. Beide Ausgangspunkte sollten für die Regie bestimmend werden. Zusätzliche Inspirationen fanden Noble und sein Ausstatter Dick Bird darüber hinaus in den Werken von Ibsen und Strindberg respektive in deren psychologischer Auslotung der Facetten der Eifersucht sowie in einigen Gemälden Edvard Munchs, die ebenfalls die Eifersucht thematisieren und das Verhältnis Otello-Desdemona-Cassio auf ideale Weise abzubilden scheinen.
Dass sich die mit zahlreichen Symbolen aufgeladene, in sich verschlungene Poesie des Shakespeare’schen Othello-Stückes für Verdis Vertonungsvorhaben nicht eins zu eins verwenden ließ, liegt auf der Hand. Der Stoff musste von Boito und dem Komponisten gestrafft und für Musiktheatererfordernisse komprimiert, die Charaktere durch Musik rekreiert werden. Diesem Gedanken war natürlich auch unter anderem das Weglassen des originalen ersten Schauspiel-Aktes geschuldet, dessen Inhalt aber dennoch „im Bewusstsein der Sängerinnen und Sänger verankert sein muss und in ihre Aktion mitzunehmen ist“, so Adrian Noble.
Größere Fragezeichen stellen sich hingegen in Bezug auf das zentrale Jago’sche Credo, das man bei Shakespeare ebenso vergeblich sucht, wie zum Beispiel den Flüchtlingschor in Macbeth. „Ich glaube“, so der Regisseur lachend, „Verdi und Boito haben sich während vieler gemeinsamer Abendessen nur darüber unterhalten, warum Jago ist wie er eben ist, warum er Otello das alles eigentlich antut?“ Tatsächlich erklärt Shakespeare Jagos Handeln nicht, zeigt vielmehr eine extrem vielschichtige, unnahbare Figur, die er nicht verurteilt. „Durch das Credo wird Jago in der Oper zweifelsohne etwas von seiner Ambiguität genommen, er wird schwärzer, böser, dadurch fassbarer und – operntauglicher.“ Und er wird Teil einer religiösen Struktur, die die Gesamthandlung durchzieht und von Noble aufgenommen und auch in diesem Sinne bebildert wird: Desdemona bekommt zum Beispiel in ihrer Reinheit die ikonographische Position der Madonna, der Sturm am Beginn etwas vom Jüngsten Gericht. Wenn in Nobles Inszenierung die Schatten von herunterstürzenden Schiffsleuten also an die fallenden Verdammten in der Sixtinischen Kapelle erinnern, ist das natürlich nicht von Ungefähr... (Dieses Überblenden ins Religiöse war übrigens für Shakespeare freilich schon aufgrund der Restriktionen seiner Zeit undenkbar.)
Für sehr wesentlich hält Noble ferner die Idee Verdis und Boitos, im Gegensatz zu Shakespea- re in den zweiten Akt einen Kinderchor einzufü- gen. „Verdi war ein großer Menschenkenner und Psychologe. Durch diese Kinder, die in der Oper rund um Desdemona stehen und singen, wird das Persönlichkeitsprofil Otellos stärker konturiert. Otello sieht seine Frau inmitten der Kinderschar und hat mit einem Mal ein Idealbild einer Familie vor sich, das sich, seiner Meinung nach, gerade als Möglichkeit aufzulösen beginnt, was natürlich sei- ne Verzweiflung noch mehr steigert.“ Diesen Zug verstärkend hat Noble schon im ersten Akt Kinder in die Szenerie gemischt. Damit wird nichts Stück- fremdes in die Inszenierung gemengt, sondern ein bereits vorhandenes Elemente noch deutlicher he- rausgestellt – ein Verfahren, das die gesamte Insze- nierung durchzieht. So wird zum Beispiel auch die Atmosphäre des Schauplatzes – die geprägt ist von dem Gegensatz hier die venezianischen Besatzer, dort die lokale (zum Teil muslimische) Bevölke- rung – noch verstärkt: Erstens indem die Handlung ins 19. Jahrhundert verlegt wird, um die Spannun- gen zwischen den fremden Machthabern und den ansässigen Beherrschten deutlicher herauszuar- beiten und zweitens, indem der Chor mit den mus- limischen Unterdrückten gleichgesetzt wird: Wenn dann am Beginn zum Beispiel davon die Rede ist, dass das Schiff der Gegner in den Grund gerammt wurde, so stehen diesem Ausspruch des sich selbst theatralisch feiernden Otello die Ehefrau jenes muslimischen Soldaten gegenüber, der bei dieser Schlacht den Tod fand oder das kleine Kind, des- sen Vater nicht mehr heimkehrt.
Wie schon bei seiner Alcina- sowie Hänsel und Gretel-Produktion, legt Adrian Noble außerdem seiner Otello-Inszenierung einen wesentlichen Gedanken der Shakespeare’schen Dramaturgie zugrunde, nach dem das Drama in einen gewissen Sinne eine Reise darstellt, die die Beteiligten zu absolvieren haben und in der äußere Elemente mit den menschlichen Emotionen interagieren: Der Sturm am Beginn, die friedliche sternenklare Nacht im Otello-Desdemona-Duett im 1. Akt, der unruhige Wind im vierten Akt: sie alle sind nur Abbilder des eigentlichen Gesche- hens, die sichtbar machen, was die Charaktere der Handlung auf ihren Weg zu durchleben haben.
Andreas Láng
Otello | Giuseppe Verdi
Dramma lirico in vier Akten
Musik: Giuseppe Verdi
Text: Arrigo Boito
Dirigent: Myung-Whun Chung
Regie: Adrian Noble
Ausstattung: Dick Bird
Licht: Jean Kalman
Chorleitung: Thomas Lang
Otello: Aleksandrs Antonenko
Desdemona: Olga Bezsmertna
Emilia: Margarita Gritskova
Jago: Vladislav Sulimsky
Cassio: Jinxu Xiahou
Roderigo: Leonardo Navarro
Lodovico: Ryan Speedo Green
Montano: Manuel Walser
Premiere: 20. Juni 2019
Reprisen: 24., 27., 30. Juni 2019
Einführungsmatinee: 16. Juni 2019