© Yulia Oliver Taylor

Die Ganzkörpersängerin

Wer sie einmal erlebt hat, vergisst sie nicht wieder. Und wer sie ein zweites Mal sieht, verfällt vollends dem Bannstrahl ihres charismatischen Ausdrucks: Kate Lindsey, seit Jahren auch in Wien ein stets aufs Neue begeisternder Gast. Ihr vielschichtig brillanter Orlando, der jugendlich-gefährliche Nerone, die entgrenzte Donna Elvira oder die kluge und starke Penelope: stets löst Lindsey ein Intensitätsbeben auf der Bühne aus und widmet sich mit höchstem Körper-, Herz- und Seeleneinsatz ihren Partien. Im Gespräch erzählt sie von ihren Ängsten, dem Einfluss von Schuhen auf ihre Rollengestaltung und von der Spiegelung von Persönlichem in ihren Rollendarstellungen.


Mozarts La clemenza di Tito ist eine Krönungs-, und damit eine Huldigungsoper. Das scheint uns heute ein wenig aus der Zeit gefallen: Kunst als Lobpreis eines Herrschers. Was gewinnen Sie, abgesehen von der Musik, aus dem Werk?

Kate Lindsey: Vielleicht gibt uns die Oper Hoffnung? Viele vertrauen der Politik nicht mehr wirklich, und der Gedanke, dass es Integrität gibt, dass Vergebung möglich ist und Rechtschaffenheit und Lauterkeit uns anleiten, gefällt mir als Blickwinkel. Zumindest können wir uns vorstellen wollen, dass die verantwortlichen Persönlichkeiten so sein könnten und sie ihre Handlungen auch an diesen Idealen ausrichten wollten.


Wobei man sich Titus nicht als unfehlbare Person denken muss.

Kate Lindsey: Als Krönungsoper für Leopold II. war die Ausrichtung »unfehlbar« klar. Aber wir sehen auch, dass ein Ringen, ein Zweifeln Platz findet: der Betrug des Freundes, die Suche nach Vertrauenswürdigkeit, wem man sich nahe fühlen darf? Das ist zeitlos und in vielerlei Hinsicht aktuell. Denn sobald jemand eine Machtposition erreicht, stellt er oder sie sich schnell die Frage, warum andere die Nähe suchen und was sie von einem wollen? Und diese Frage ist etwas sehr Menschliches und Allgemeines. Was mich aber vor allem interessiert, sind die Beziehungen zwischen den Figuren: in diesen kann man universelle Wahrheiten entdecken – und sehr vieles über uns Menschen lernen.


Bleiben wir beim Menschlichen. Sesto, der Freund des Kaisers, der ihn aus Liebe zu einer Frau verrät, ist sehr Mensch, in dem Sinne, dass er Schwächen hat. Ist das eine Figur, die Sie genau aus diesen Gründen interessiert? Weil sie aus dem Leben gegriffen ist?

Kate Lindsey: Ich denke: ja. Wobei es gerade das bisschen Unheimliche an dieser Art von Figuren ist, dass sie den alltäglichen Erfahrungen und Gefühlen so nahekommen. Und das ist es übrigens, was mich antreibt: Die Erforschung dieser gewöhnlichen Charaktere und ihrer Probleme. Auch wenn es sich manchmal beängstigend anfühlt, weil es für mich fast etwas Therapeutisches bekommt. Was nun die Beziehung zwischen Sesto und Vitellia anlangt, so scheint sie mir von besonderem Interesse zu sein: Sesto fehlt etwas, er muss in seinem Leben einen Verlust erlitten haben, denn ich fühle in ihm diese Verzweiflung, diese verzweifelte Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung. Daher denke ich auch nicht, dass er Vitellia, die ihn manipuliert, wirklich liebt. Er sucht vielmehr nach einer Mutterfigur. Und diese Spannung zwischen seiner Loyalität zu Titus und dem tiefen Bedürfnis nach Akzeptanz durch Vitellia ergibt eine ungemeine Dynamik. In diese einzutauchen, reizt mich!


Weil Sie vom Therapeutischen gesprochen haben: Suchen Sie nach persönlichen Verbindungen zu den dargestellten Figuren? Um tiefer in deren Psyche eintauchen zu können?

Kate Lindsey:  Ich würde sagen, dass es eher schwierig wäre, komplett von einer Figur separiert zu bleiben. Ich jedenfalls identifiziere mich auf jeden Fall mit den von mir Dargestellten und finde auch stets einen Weg, das zu tun. Es gibt ja reichlich persönlichen Erfahrungsschatz, auf den ich zurückgreifen kann. Zum Beispiel bei Sesto: Ich kenne dieses verzweifelte Bedürfnis nach der Liebe eines anderen. Woher kommt es? Aus der echten, tiefen Liebe zu einer Person? Oder geht es eher um eine Selbstbestätigung, die man in sich nicht finden kann? Mir hilft es also, persönlich Erlebtes einzubringen, um Verständnis und Einfühlungsvermögen für einen Charakter zu bekommen. Und die Darstellung wird so ohne Zweifel persönlicher und authentischer.


Im persönlichen Kontakt sind Sie ungemein freundlich, zuvorkommend, manchmal – wenn ich das so sagen darf – fast auch eine Spur schüchtern. Ihr Nerone war das Gegenteil, wir alle erlebten eine offensive, auch aggressive und hemmungslose Figur. Erschreckt Sie eine solche Wandlung manchmal? Im Sinne von: »Was kommt da in mir hoch?« Oder ist es geradezu befreiend, auch einmal ganz anders sein zu dürfen?

Kate Lindsey: Das ist eine sehr gute Frage! Ich versuche eine kurze Antwort… Auf mich wirkt das befreiend, weil ich auf der Bühne in einer gewissen Weise eine Existenz durchlaufen darf, die ich privat im Alltag nie ausleben würde. Niemals! Das ist ein großes Privileg, denn wer von uns darf schon aus den persönlich gesetzten Grenzen ausbrechen und in etwas anderes eintauchen? Natürlich ist es auch beängstigend, zumal ich eine introvertierte Person bin. Deshalb bin ich am ersten Probentag jedes Mal aufs Neue so nervös! Und frage mich, ob ich es schaffen werde? Doch dann mache ich einen Schritt nach dem anderen... Die oberste Regel lautet dabei, mich einfach nicht zurückzuhalten. Dann kann ein künstlerischer Weg gefunden werden. Und wenn die Umstände stimmen, man mit den richtigen Personen zusammenarbeitet, dann entsteht dieser kreative Raum, ein Planet der Freiheit, den wir erforschen dürfen. Einen solchen Raum, eine solche Gelegenheit hat man sonst nirgends im Leben. Daher bin ich unendlich dankbar.


Gab es nun eine Rolle, die Ihr Leben in einer Art und Weise verändert hat, dass Sie erkannten: Jetzt ist alles anders! Ab jetzt gehe ich die Dinge anders an?

Kate Lindsey: Es ist eher ein fließender Prozess mit mehreren Schlüsselmomenten. Ein wichtiger Punkt war sicherlich der Salzburger Nerone in L’incoronazione di Poppea, jene Produktion, die auch an der Staatsoper als Koproduktions-Premiere herauskam. Das war ein großer Schritt Richtung Freiheit. Ganz allgemein habe ich durch mein Reiferwerden Ängste abgelegt. Wenn man jung ist, will man alles perfekt machen, weil man denkt, sonst nicht mehr engagiert zu werden. Man hat kein Vertrauen. Und natürlich fürchten wir alle immer wieder, dass unsere Karrieren scheitern könnten. Mit zunehmenden Erfahrungen wächst aber das Selbstbewusstsein – und plötzlich kam mir einmal die Erkenntnis, dass ich gar nicht mehr die jüngste und unerfahrenste Person im Probensaal bin. Da schoss es mir durch den Kopf: »Wahnsinn! Die anderen kennen – und respektieren mich!« Diese Einsicht war tatsächlich einschneidend und ich habe beschlossen, mich nicht mehr von Ängsten leiten zu lassen. Sondern durch sie hindurchzugehen, auf die Herausforderungen zuzugehen und das Beste zu hoffen – was immer herauskommt. Und es gibt einen zweiten, einschneidenden Aspekt, nämlich dass ich Privatleben und ein Kind habe. Meine Philosophie lautet: Wenn ich schon von meiner Familie getrennt sein muss, will ich die Zeit so wertvoll wie nur möglich ausgestalten. Also noch fokussierter, noch konzentrierter arbeiten. Ich möchte so viel wie möglich aus einer Produktion herausholen, damit es sich überhaupt lohnt, die Trennung zu ertragen. Denn was würde das Opfer sonst bringen, wenn ich nicht mein ganzes Herzblut, meine ganze Seele in die Sache steckte?


Nun etwas ganz anderes. Sie singen auch die Rosina in Barbiere di Siviglia. Was ist diese Oper für Sie? Eine Komödie ohne Wenn und Aber?

Kate Lindsey: Vor vielen Jahren meinte ein Regisseur – und daran erinnere ich mich seither – dass Komödie nur dann wirklich lustig ist, wenn ein Quäntchen Ernsthaftigkeit, ein bisschen Gefahr in ihr steckt. Darüber denke ich oft nach. Und besonders beim Barbiere stimmt es. Denn Rosina ist in einer wirklich schlimmen Situation. Sie hat keine Macht, ist gefangen, kann keine Entscheidungen treffen. Sie lebt im Haus ihres Vormunds wie in einem Vogelkäfig. Dann plötzlich ergibt sich die Perspektive des Ausbruchs, einer Flucht... Wir wissen, dass es sich um eine Komödie handelt – und die Musik erzählt das auch. Ich will aber jede Situation dieses Stücks so gestalten, als stünde wirklich alles auf dem Spiel. Vor einigen Jahren sah ich Noises Off am Broadway, und das Unglaubliche war die Geschwindigkeit der Aktionen, dieses allgemeine Verwirrspiel. Man spielte nicht Komödie. Man zeigte den Irrsinn der Situation. Und das möchte ich beim Barbiere auch so machen.


Wenn ich Sie in einer Rolle erlebe, bin ich stets gebannt von Ihrer geradezu choreografischen Prägnanz und Präzision. Hilft Ihnen diese auch, auf der Bühne wie auch musikalisch eine Form und Struktur zu finden?

Kate Lindsey: Da ist etwas Wahres dran! Ich würde mich wahrscheinlich am ehesten als Ganzkörpersängerin bezeichnen. Das bedeutet, dass ich das, was in und mit meinem Körper passiert, nicht einfach vom Stimmlichen trennen kann. Beides muss koordiniert ablaufen, sonst gerät alles durcheinander. Tanzen und Yoga habe ich immer schon gerne gemacht, ich mag dieses Gefühl, dass der Atem und der Körper eine Einheit bilden. Und ein Bewegungskonzept hilft mir, die jeweils dargestellte Figur besser zu verstehen. Manches wird ja schon durch ein Detail klar, etwa durch die Kenntnis, welche Schuhe ich auf der Bühne trage. Denn so weiß ich, wie sich die betreffende Figur bewegt – und das erzählt sehr viel über sie. In diesem Sinne sind Gesang und Bewegung, Kostüm und Darstellung stets sehr eng ineinander verschränkt.

MOZART
LA CLEMENZA DI TITO

4. 7. 10. SEPTEMBER 2023

Musikalische Leitung PABLO HERAS-CASADO
Inszenierung JÜRGEN FLIMM

Tito MATTHEW POLENZANI
Vitellia FEDERICA LOMBARDI
Servilia SLÁVKA ZÁMEČNÍKOVÁ
Sesto KATE LINDSEY
Annio PATRICIA NOLZ
Publio PETER KELLNER

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ROSSINI
IL BARBIERE DI SIVIGLIA

19. 23. 26. 30. SEPTEMBER 2023

Musikalische Leitung GIANLUCA CAPUANO
Inszenierung & Bühne HERBERT FRITSCH

Graf Almaviva LAWRENCE BROWNLEE
Bartolo MARCO FILIPPO ROMANO
Rosina KATE LINDSEY
Don Basilio PETER KELLNER
Figaro DAVIDE LUCIANO
Marzellina JENNI HIETALA

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