DIE ENTSTEHUNG DER REPERTOIRETHEATER IM 19. JAHRHUNDERT

Wie ist das das Repertoire der Opernhäuser bzw. das Opernrepertoire der mehrspartigen Stadttheater entstanden?

Dass Theater einen Repertoirebetrieb haben, ist nicht zwingend, war lange Zeit nicht üblich und ist auch heute nicht der Regelfall, vor allem außerhalb Europas. Das Repertoire-Theater ist zunächst ein deutschsprachiges und französisches Phänomen gewesen. Ich werde mich hier aus Zeitgründen auf den deutschsprachigen Raum beschränken. Die Entwicklung in Frankreich verlief etwas anders, was vor allem Folge verschiedener gesetzlicher und rechtlicher Regelungen für die Theater war, die es im deutschen Sprachraum so nicht gab, aber auch dort fand eine Repertoirebildung statt. Mit „deutscher Sprachraum“ ist der deutschsprachige Theaterraum gemeint, der nicht nur das Deutsche Reich, sondern auch die überwiegend nicht deutschsprachigen Gebiete des Österreichischen Kaiserreich umfasste: Lemberg, Olmütz oder Klausenburg hatten bis zum Ende des ersten Weltkriegs deutschsprachige Theater. Opern wurden in diesem deutschsprachigen Theaterraum in den Stadttheatern von deren Gründung an, in den Hofopern spätestens nach den napoleonischen Kriegen grundsätzlich und unabhängig von der Originalsprache in deutscher Sprache aufgeführt.

Im Prinzip ist die Entstehung der Repertoir-Theater in diesem deutschsprachigen Theaterraum strukturell relativ einfach erklärt. Zunächst ist die in Italien entstandene Oper ein eher ephemeres Unternehmen. In italienischen Opernhäusern kamen im 18. und 19. Jahrhundert in jeder stagione in der Regel neu komponierte Opern auf die Bühne, und nur unter sehr speziellen Bedingungen wurde gelegentlich die eine oder andere in der nächsten Spielzeit wieder aufgenommen. Letzteres wurde auch dadurch behindert, dass – grob gesprochen – in jeder italienischen stagione die Sänger wechselten, sodass jede Oper, auch wenn sie in der vorherigen stagione schon gespielt worden war, mit diesen Sängern hätte neu einstudiert werden müssen. Angesichts der zeitlich extrem engen Spiel- und Probenpläne war das kaum möglich. Der andere Grund für eine fehlende Repertoirebildung in Italien war, dass das Publikum nur an neuen Opern interessiert war. „Neu“ hieß natürlich auch, dass die einmal in einem Theater erfolgreich uraufgeführten Opern dann in anderen Theatern nachge- spielt wurden. Aber auch dies geschah dann üblicherweise nur in einer stagione, in der nächsten stagione wurden andere der neuen erfolgreichen Opern gespielt. So etwas wie ein Interesse am historischen Repertoire gab es in Italien im 18. und 19. Jahrhundert kaum. (Mozarts Don Giovanni etwa wurde, im Gegensatz zu den deutschsprachigen Theatern, so gut wie nicht aufgeführt.)

Im deutschsprachigen Opernbetrieb wurden dagegen im 19. Jahrhundert einmal einstudierte Opern nach Möglichkeit über Jahre hinweg immer wieder aufgeführt. Wenn man von einem Repertoire-Theater spricht, meint man üblicherweise, dass ein Theater über eine bestimmte Anzahl an Stücken verfügt, die über einen längeren (im Idealfall „immer“) jederzeit ohne langwierige Vorbereitungen aufgeführt werden können. Das ist das, was man im 19. Jahrhundert als „stehendes Repertoire“ bezeichnete. Im Aufbau eines „stehenden Repertoires“ gab es – abgesehen von den Möglichkeiten, die sich durch die größere Finanzkraft der Hoftheater ergaben – kaum einen strukturellen Unterschied zwischen dem Opernbetrieb der Stadttheater und den Hofopern. (Man vergisst heute meistens, dass auch die sogenannten Hofopern nur Teil eines meist mehrspartigen Hoftheaterbetriebs waren.)

Für ein „stehendes Repertoire“ brauchte man das notwendige Aufführungs- und Dekorationsmaterial – technisch ausgedrückt also einen Fundus. Nur um ein Beispiel für einen guten Theaterfundus des Jahrs 1877 zu geben: Neben den Textbüchern für 3.000 Lust- und Schauspiele mit den entsprechenden Rollen, d.h. dem Aufführungsmaterial, enthielt er 4.000 Stücke Garderobe- und Requisitengegenstände sowie – auch hier jeweils mit Aufführungsmaterial – 35 große Operetten und 60 Opern mit Partituren. Ein Fundus gehörte in den meisten Fällen einem Theaterdirektor und nicht dem Theater selbst (der Fachausdruck für einen Fundus, der dem Theater bzw. dessen Besitzern gehörte war „Fundus instructus“). Das ist übrigens einer der Unterschiede zwischen Hof- und Stadttheatern. Denn beim Hoftheater gehörte der Fundus immer zum Hofinventar, d.h. faktisch dem Theater. Ein guter Fundus war für jeden Theaterdirektor praktisch, weil er geeignet war, die Ausstattungskosten zu verringern. So war das einzig neue Dekorationsteil bei der Uraufführung von Goldmarks Königin von Saba in der Wiener Hofoper der Tempel, alles andere, auch die Kostüme, wurden aus dem Fundus genommen. In den Stadttheatern konnte ein Felsen ebenso der Hintergrund des dritten Akts in Bizets Carmen sein wie der „Walküren-Felsen“. Außerdem brauchte man für ein Theater-Repertoire natürlich Personal, das die sich kumulativ ansammelnden Stücke ohne Probe aufführen konnte, also vor allem entsprechende Sänger.

Im Prinzip entwickelt sich das Repertoire im deutschsprachigen und französischsprachigen Raum infolge der Gründung von Stadttheatern am Ende des 18. Jahrhunderts. Es kommen im deutschen Sprachraum dann noch in nachnapoleonischer Zeit, also ab ca. 1814 die Hoftheater dazu, deren Repertoire sich – trotz aller gegenteiliger Behauptungen der Intendanten – nicht wirklich von jenem der Stadttheater unterschied. Schon bald dominierten die Hoftheater das Repertoire der Stadttheater als diese zu einem wesentlichen Teil das Repertoire der Hoftheater nachspielten. Das Repertoire der einzelnen deutschsprachigen Theater – das nicht mit einem Kanon herausragender Werke zu verwechseln ist(!) – hat sich seit dem frühen 19. Jahrhundert herausgebildet und hängt mit drei sich gegenseitig beeinflussenden Faktoren zusammen:

1. Das Publikum wollte möglichst schnell die neuesten Opernproduktionen aus Italien und Frankreich auf der Bühne sehen. Welche das waren, wusste man natürlich aus der Presse. Da die deutschen Stadttheater keinen stagione-Betrieb hatten, sondern Spielpläne, die sich auf längere Zeiträume bezogen, blieben diese Werke – einmal erfolgreich aufgeführt – über möglichst viele Spielzeiten hinweg im Spielplan und bildeten so ein Theater-Repertoire. Die Hoftheater verfuhren im wesentlichen ebenso. In beiden Fällen war für die Aufnahme einer Oper ins Repertoire der Kassenerfolg entscheidend.

2. Die Betreiber von Stadttheatern (also meist vermögende Bürger, die sich zu einer Aktiengesellschaft zusammenschlossen) betrachteten ihre Theater als Gegenentwurf zu Hoftheatern. Im Hoftheater kamen – nach Meinung des Bürgertums – der ungebildete Adel – zusammen. Die Stadttheater sollten hingegen Kultur und Bildung des städtischen Bürgertums demonstrieren, also lehrreich sein und erzieherisch wirken. Die Ideologie der Hoftheater war genau umgekehrt, lief aber auf dasselbe Ergebnis heraus. Danach waren Stadttheater reine Geschäftstheater, deren Repertoire darum minderwertig und nur auf Vergnügen ausgerichtet sei. Die Hoftheater hingegen lieferten Bildung und Kultur.

Wie gesagt: das Ergebnis war in beiden Fällen, dass sich die Theater als Kulturträger verstanden. Im Hinblick auf die Oper bedeutete dies, dass bestimmte Opern, die nämlich als Bildungsopern, als historisch bedeutsame Opern oder als „zeitlose“ Werke verstandene Opern, in das Repertoire aufgenommen wurden oder vielmehr aufgenommen werden sollten. Dazu zählten z.B. Beethovens Fidelio und Mozarts Così fan tutte. Dass dieser auf Bildung zielende Repertoireanteil aber eher Fiktion als Realität war, werde ich gleich erläutern.

3. Der dritte Punkt scheint mir von entscheidender Bedeutung. Ich muss dabei einen im Detail komplizierten Sachverhalt allerdings holzschnittartig beschreiben. Die deutschsprachigen Theater setzten nämlich viel mehr als italienische Theater auf mehrjährige kontinu- ierliche Verträge für die Theaterdirektoren. Auch italienische Impresari hatten häufig Mehrjahresverträge, jedoch nicht unbedingt für jeweils aneinander anschließende stagioni. Die Planungseinheit waren immer die vergleichsweise kurzen einzelnen stagioni und nicht die Abfolge mehrerer stagioni hintereinander. In Deutschland und übrigens auch in Frankreich waren die Planungseinheiten dagegen jeweils mehrere aneinander anschließende Jahre mit ihren Spielzeiten.

Das führte dazu, dass die deutschen Theaterdirektoren versuchten, ein Ensemble über mehrere Jahre an sich und ihr Theater zu binden. Wenn sich ein italienischer Impresario um einen Pachtvertrag für ein Theater bewarb, dann war einer der ausschlaggebenden Punkte, welche Sänger er schon vertraglich verpflichtet hatte oder verpflichten wollte. Der zu verpflichtende Komponist war zweitrangig. Welches Sujet der Komponist vertonen sollte, spielte überhaupt kein Rolle. Der Komponist musste seine Musik den Sängern anpassen.

Im deutschen Sprachraum hingegen legte der sich um das Theater bewerbende Theaterunternehmer neben dem wirtschaftlichen auch ein Spielplan-Konzept vor, in dem es darum ging, welche Opern aufgeführt werden sollten, also letztlich darum, welches Repertoire der Theaterdirektor anbieten wollte (was wiederum auch vom vorhandenen Fundus abhing). Mit aktuellen Komponisten hatten es Stadttheaterdirektoren praktisch nie und Hoftheaterdirektoren höchst selten zu tun, weil im Gegensatz zu Italien Uraufführungen von Opern im deutschsprachigen Opernbetrieb ein sehr seltenes Ereignis waren (wenn überhaupt, kamen sie an Hofopern vor). Darum spielte die Frage des Theater-Repertoires im deutschen Sprachraum immer eine wesentliche Rolle, während sie in Italien bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts völlig unerheblich war.

Wenn ein pachtwilliger Theaterunternehmer den Theaterbesitzern sein geplantes Repertoire präsentierte, musste er noch keine Sänger engagiert haben. Diese wurden später passend zum aufzuführenden Repertoire engagiert. Das heißt also, um das projektierte Repertoire aufzuführen, bildete der Theaterdirektor ein Ensemble. In der Realität waren die Vorgänge natürlich wesentlich komplizierter. So verfügte ein Theaterdirektor, wenn er sich um eine Theaterpacht bewarb im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert wohl in den meisten Fällen schon um eine Kerntruppe an Sänger oder wusste zumindest, wer für ein Engagement in Frage kam. Das und die Tatsache, dass natürlich jeder Einzelfall sehr komplex war, ändert allerdings nichts am Prinzip der Engagements-Mechanismen, die sich schematisch wie folgt darstellen lassen:

Die Position und damit die Bedeutung der Kategorien „Werke“ und „Sänger“ ist im Vergleich zwischen deutschsprachigem Theaterraum und italienischsprachigem Theaterraum also vertauscht. Im Verhandlungsprozess um eine Theaterpacht spielen die „Werke“ im deutschsprachigen Theaterraum darum eine größere Rolle, weil sie ein stärkeres Argument für den Zuschlag für eine Theaterpacht als in Italien sind. In der Realität von Vertragsverhandlungen geht es allerdings in Italien um den zu engagierenden Komponisten (und nicht um dessen Werke). Das gilt auch dann, wenn Opern aufgeführt werden, deren Uraufführung an einem anderen Theater erfolgte. Die Opern als Werke kommen also nur mittelbar in den Blick. Im deutschsprachigen Raum hingegen geht es bei Vertragsverhandlungen um ganz konkrete, bei erfolgreichem Vertragsabschluss aufzuführende Opern, sei es, dass sie sich aus dem Vorschlag des zukünftigen Theaterdirektors ergeben oder sei es, dass sie bereits zum „stehenden Repertoire“ des Theaters gehören.

Ein Repertoire hing und hängt auch heute noch immer mit einem Ensemble von Sängern zusammen, das über einen längeren Zeitraum am jeweiligen Theater engagiert ist. Denn es machte einerseits geschäftlichen Sinn, ein Ensemble möglichst lange zu engagieren, weil das preisgünstiger sein konnte als jedes Jahr neue Sänger zu engagieren. Wie wichtig dieses Zusammenhalten des Ensembles war, erkennt man daraus, dass im 19. Jahrhundert Theaterdirektoren in der spielfreien Zeit häufig Sommertourneen oder Sommerspielzeiten in Kurstäd- ten oder anderen Destinationen organisierten, damit sie ihr Ensemble weiter bezahlen und damit zusammenhalten konnten. Auch unter aufführungspraktischen bzw. ästhetischen Gesichtspunkten war ein Ensemble von erheblichem Vorteil, weil ein aufeinander eingespieltes Ensemble Probenzeiten verringern und Aufführungen verbessern konnten. Im Repertoire-Theater wurden Wiederaufnahmen von Opern nämlich bis ins 20. Jahr- hundert hinein grundsätzlich nicht geprobt. Insofern war auch die Ensemblebildung für die Hofopern für die alltägliche Theaterpraxis aus pragmatischen Gründen wichtig. Hier entfiel allerdings die Notwendigkeit das Ensemble im Sommer zusammenzuhalten, weil die Hofopernsänger finanziell natürlich ganz anders abge- sichert waren als Sänger von Stadttheatern.

Welche Auswirkungen die Ensemblebildung an deutschsprachigen Theatern hatte, kann man kurioserweise sehr schön an einem mittelbaren Beispiel sehen, nämlich an der New Yorker Metropolitan Opera in der Zeit von 1884 bis 1892. In diesen Jahren fanden die sogenannten „german seasons“ statt. Gespielt wurde aus- schließlich in deutscher Sprache, vor allem deutsche und französische Opern. Warum war das so? Die MET wurde damals noch als Pachttheater geführt und der Zuschlag für den Pachtvertrag ging 1884 an Leopold Damrosch (der allerdings schon 1885 starb – nicht jedoch seine Geschäftsidee, die von seinem Assistenten Edward C. Stanton und seinem Sohn Walter Damrosch weitergeführt wurde). Damroschs Geschäftsidee war es, Sänger deutscher Hoftheater zu engagieren, weil diese deutlich preisgünstiger waren als italienische Sänger (sein Vorgänger Henry E. Abbey hatte mit der Auf- führung italienischer Opern und teuren italienischen Sängern finanziell einen vollkommenen Schiffbruch erlitten). Da für die Theatertruppen in den USA, also auch jene der MET grundsätzlich galt, dass die Sänger keine neuen Partien einstudierten, war das Resultat die Übernahme des Repertoires der Hofopern, vor allem der Berliner Hofoper. Wer das Ensemble der Hoftheater einkaufte, kaufte auch das Repertoire der Theater ein. (Da das grundsätzlich auf deutsch gesungen wurde, wurden auch an der MET die französischen Opern auf deutsch gesungen.)

Die eine – und sehr pragmatische – Säule der Reper- toirebildung war also das Ensemble. Die andere – und zunächst sehr theoretische – Säule der Repertoirebildung war der Bildungsgedanke. Analog zum Sprechtheater sollte die Oper nicht nur Medium des Vergnügens sein, sondern auch der Bildung und in zweiter Instanz der Erziehung. Um es vorwegzunehmen: das funktionierte nicht, übrigens auch nicht in Frankreich. (Als Fussnote sei hinzugefügt: die Idee des Theaters als Bildungsstätte funktionierte auch beim Schauspiel überwiegend nicht, weil das bildungstragende sogenannte klassische Re- pertoire auf ein eher unterdurchschnittliches Interesse beim Publikum stieß.)

Im 18. und 19. Jahrhundert wurde immer wieder die Frage diskutiert, worin das Bildungspotential der Oper liege, aber sie wurde nie beantwortet. Beim Schauspiel konnte man immerhin noch auf die aufklärerischen Worte in Schillers Dramen oder ähnliches verweisen. Hingegen interessierte sich in der Oper niemand so recht für die Worte oder den Text. Beides spielte gegen- über dem Vergnügungspotential der Musik nur eine untergeordnete Rolle.

Oder in den Worten eines Kommentators von 1869: die Macht der Wahrheit erziehe das Publikum des Schauspiels. Die Erreichung des gleichen Resultats beim Opernpublikum würde aber „mehr guten Willen von Seiten des Publikums“ voraussetzen „als dasselbe bis jetzt entgegenbringt“. Das Opernpublikum wollte nicht belehrt werden. Aber ein entscheidendes Resultat hatte die Ideologie der Oper als Bildungsmedium. Bildung manifestiert sich nämlich auch und vor allem in

der Bezugnahme auf die Vergangenheit. Geschichtsbewusstsein war (ganz im Gegensatz zu heute) ein Symptom für Bildung und Kultur. Aus diesem Grunde kamen dann auchältere Opern auf den Spielplan, sogar Werke Glucks oder auch Beethovens Fidelio (der z.B. auch in den „german seasons“ an der MET aufgeführt wurde). Freilich waren diese Werke meistens nicht repertoirefähig. Zwischen der ästhetischen Theorie der Repertoirebildung und der ökonomischen Realität klaffte meistens eine erhebliche Lücke (auch im Hinblick auf Hofopern, die trotz Subventionierung genauso auf Einnhamen angewiesen waren wie Stadttheater und mehr als Geschäftsbetrieb denn als Kulturbetrieb geführt wurden.)

Wie Repertoirebildung und Bildungsidee in der Rea- lität des 19. Jahrhundert funktionierten, will ich abschließend an einem Beispiel zeigen, nämlich dem des Leipziger Stadttheaters. Zwischen 1817 und 1828 war der dortige Theaterdirektor der später als Münchener und Berliner Hoftheaterintendant berühmt gewordene Theodor Küstner. Küstner war durchaus ein Anhänger der Idee des Theaters als Bildungsinstitution. Gerade im Schauspiel war er darauf bedacht, möglichst viele klassische Stücke im „stehenden Repertoire“ zu haben. In der Oper war das schwieriger, schon weil es nicht sehr viele klassische Stücke gab (und noch weniger in deut- scher Sprache).

Der Bildungsgedanke dürfte aber dazu geführt haben, Beethovens Fidelio ins Repertoire aufnehmen zu wollen. Vielleicht war beim ersten Versuch 1818 noch der Gedanke ausschlaggebend, eine vergleichsweise neue deutschsprachige Oper ins Repertoire zu nehmen. Dieser Versuch scheiterte nach 5 Vorstellungen kläglich. Von scheitern kann man deswegen sprechen, weil man am Beispiel der zehnjährigen Küstnerschen Intendanz in Leipzig sehr schön den Mechanismus der Repertoirebildung beobachten kann. Im Prinzip war die Absicht, alle Opern nach ihrer erstmaligen Aufführungen in das Repertoire des Theaters zu übernehmen. Auf diese Wei- se entstand kumulativ ein immer größeres Repertoire, weil in jeder Spielzeit auch bisher nicht gespielte Opern neu inszeniert wurden und (bei Erfolg) dann im Theater-Repertoire verblieben.

In seiner ersten Spielzeit 1817/18 führte Küstner außer Fidelio zum Beispiel auch Winters Das unterbrochene Opferfest, Mozarts Die Hochzeit des Figaro, Spontinis Vestalin und Boieldieus Johann von Paris auf. Alle diese Opern kamen beim Publikum gut an, was daran zu sehen ist, dass sie bis 1827/28 in 13 Spielzeiten wiederaufgenommen wurden und darum zum eisernen Bestand des Repertoires gehörten. Die Wiederaufnahme ist das Indiz dafür, dass diese Opern eine große Anzahl Zuschauer anlockten und darum finanziell erfolgreich waren. Beethovens Fidelio und Paërs Camilla wurden aber nur in dieser ersten Spielzeit gespielt. Camilla verschwand dann vollständig vom Spielplan. Beethovens Fidelio aber wurde 1823 in einem erneuten Versuch wieder aufgeführt und zwar – daran zeigt sich Küstners Engagement in dieser Sache – vollständig neu inszeniert, d.h. mit neuen Dekorationen und Kostümen. Solche Neuinszenierungen waren im Repertoirebetrieb extrem selten. 1823 war Beethoven bereits so berühmt, dass seine Hauptwerke zum Bildungskanon zählten. Dennoch kamen nur drei Vorstellungen des Fidelio zustande. Das heißt, die Oper blieb wieder völlig erfolglos.

1827 dann der dritte Versuch, nachdem Beethoven am 26. März dieses Jahres gestorben war. Am 11. Juli gab es in Leipzig eine Gedächtnisfeier zu Ehren Beethovens, die im Oktober wiederholt wurde. Diese Aufführungen dienten wie ähnliche Gedächtnisfeiern der Verewigung Beethovens im bildungskulturellen Kanon. Darum also auch die Fidelio-Aufführungen. Und wieder blieb es bei vier Aufführungen. Und diese vier kamen nur zustande, weil die populäre Gastsängerin Schechner Fidelio als Benefizvorstellung wählte.

Am Beispiel des Fidelio lässt sich sehr gut das Dilemma zwischen Bildungsgedanken, dem damit zu- sammenhängendem Repertoire und den kommerziellen Notwendigkeiten zeigen. Fidelio war von Anfang an eine gescheiterte und nicht erfolgreiche Oper. Er wurde im 19. Jahrhundert nie zur Repertoireoper und schon gar nicht populär. Dadurch kosteten die Aufführungen mehr als sie einbrachten bzw. einbringen mussten. Bildung hin oder her – jeder Theaterdirektor des 19. Jahrhunderts war aus finanziellen Gründen gezwungen, Fidelio aus dem stehenden Repertoire zu nehmen. Küstner musste wie jeder Theaterdirektor genau kalkulieren und konnte sich eine erfolglose Oper nicht leisten. (Auch Mozarts Weibertreue [= Così fan tutte] war im 19. Jahrhundert notorisch erfolglos.)

Einer der Nachfolger Küstners in Leipzig war Adolf Förster. Auch dieser war nicht irgendein Theaterdirektor, sondern einer mit Bedeutung. Im Oktober 1888 wurde er zum Direktor des Wiener Burgtheaters berufen, starb allerdings schon ein knappes Jahr später in Semmering. 1876 bis 1882 war er Direktor des Leipziger Stadttheaters gewesen.

Es waren skandalträchtige Jahre, weil ein „Verein der Theaterfreunde“ Förster vorwarf, seine Versprechungen bei der Bewerbung als Theaterdirektor gebrochen zu ha- ben, wodurch insbesondere der kulturelle Wert des Re- pertoires leide. Die Opernabteilung des Leipziger Stadt- theaters wurde de facto von Angelo Neumann geleitet, der später durch sein reisendes Richard-Wagner-Theater bekannt wurde. Tatsächlich hat Neumann dafür gesorgt, dass in Leipzig schon im April und September 1878, also zwei Jahre nach der Bayreuther Uraufführung, Wagners kompletter Ring des Nibelungen in Leipzig gespielt wur- de, was selbst in Leipzig als bemerkenswertes opern- kulturelles Ereignis verzeichnet wurde. (In der Wiener Hofoper begannen die Ring-Aufführungen zwar schon im März 1877 mit der Walküre, der im Januar 1878 Rheingold folgte, aber die beiden letzten Werk der Tetralogie wurden erst im November 1878 und im Februar 1879 aufgeführt, sodass der Leipziger Ring tatsächlich der erste vollständige Ring außerhalb Bayreuths war.)

Warum also wurden Förster und Neumann angegriffen (ich beschränke mich hier auf die Kritikpunkte in Bezug auf die Oper)? Einer der Hauptkritikpunkte war, dass aus Kostengründen das alte Leipziger Ensemble gegen ein preisgünstigeres, überwiegend aus jungen Newcomern bestehendes Ensemble ausgetauscht worden war. Und aus diesem Grunde konnte nach Meinung der Kritiker das vorhandene Opernrepertoire des Theaters nicht in einer qualitativ ausreichenden Form aufgeführt werden. Einerseits seien die neu engagierten Sänger nämlich stimmlich überfordert, so wurde argumentiert, und andererseits fehle nämlich jenes Zusammenspiel, wie es das alte, seit Jahren zusammenarbeitende Ensem- ble gezeigt habe. Insbesondere Neumann wurde vorge- worfen, dass er offenbar kein Interesse an einer Ensemble-Bildung habe, weil das Gesangspersonal des Ring dauernd ausgetauscht werde und das Opernrepertoire nur mithilfe von Gästen aufrechtzuerhalten sei. Ein an- derer Kritikpunkt war, dass Förster, um den Zuschlag für die Theaterpacht zu bekommen, im Hinblick auf das Repertoire falsche Versprechungen gemacht hätte. Aus- drücklich hatte er nämlich die Aufführungen von „Frivolitäten“ (gemeint waren vor allem die Operetten Of- fenbachs), „Immoralitäten“ und Possen abgelehnt und ein ethisch und ästhetisch hochstehendes Repertoire versprochen. Stattdessen habe er aber dann doch Ope- retten Offenbachs und andere Fragwürdigkeiten in das Repertoire genommen. Im Hinblick auf die Oper (was übrigens zeigt, dass der angebliche Bildungsauftrag noch nicht einmal zum Zwecke der Kritik genauer beschrieben werden konnte) war die moralische Kritik allerdings kaum vorhanden und beschränkte sich darauf, dass die Opern generell zu prunkvoll aufgeführt wür- den, womit das nur Äußerliche zu starkt betont würde, damit der Schein eines florierenden Opernbetriebs gewahrt bliebe. Das war die im Bildungsbürgertum gern geäußerte moralische Kritik gegen „Veräußerlichung“, die auf die „rohesten Triebe der Massen“ zielte.

Ob diese Vorwürfe tatsächlich in diesem Ausmaß zutrafen, ist aus historischer Perspektive gar nicht entscheidend (es scheint nicht der Fall gewesen zu sein, dass die Mehrheit der Leipziger Theaterbesucher diese Kritik teilten). Wesentlich ist, dass der Bildungsauftrag der Oper (auch wenn man diesen nicht genau benen- nen konnte), das Opernrepertoire sowie die Ensemble- bildung als ein Zusammenhang begriffen wurde, der die Qualität eines Theaters ausmachte.

Genau hierin lag aber auch die Gefahr. 1860 hieß es über ein Opernhaus, dass die Leitung ganz offensichtlich weder einen Plan noch ein System habe.

Diese Systemlosigkeit sei Schuld an der Verschlechterung des Repertoires, sie ruiniere den Geschmack der Sänger und des Publikums, weil die wertvollen Repertoirestücke nicht aus der Theaterbibliothek hervorgeholt würden.

Für das Ensemble würden Virtuosen engagiert, die aber für das Ensemble unbrauchbar seien. Zudem seien die ersten Sänger und Sängerinnen der Oper entweder fett oder alt und jedenfalls auch nicht mehr fürs Ensemble zu gebrauchen. Im Repertoire der Oper gebe es die klassischen Werke nicht mehr.

Stattdessen folge die Operndirektion den Interessen der schreienden Enthusiasten. Ein Operndirektor habe aber sein Publikum zu erziehen. Dazu gehöre ein auf Jahre hinaus festgelegtes Repertoire, das auf einem ästhetischen Standpunkt beruhe. Der Autor meint: Das Repertoire „lebt mit den Vergangenen, befördert die Gegenwärtigen, und bahnt der Zukunft die rechten Wege an.“ Genau dies geschehe aber in jenem Opernhaus, von dem in diesem Artikel von 1860 die Rede ist, nicht. Und das war die Wiener Hofoper.

→ UNIV.-PROF. DR. MICHAEL WALTER studierte Musikwissenschaft und Geschichte an den Universitäten Marburg und Giessen. 1985 promovierte er mit einer Arbeit über Meyerbeers Hugenotten. Nach der Habilita- tion an der Universität Stuttgart (1993) lehrte er an den Universitäten Bochum und Bayreuth. Seit 2001 ist er Uni- versitätsprofessor für Musikwissenschaft an der Univer- sität Graz, wo er auch das Institut für Musikwissenschaft leitet. Seit 2017 ist er auch Dekan der Geisteswissen- schaftlichen Fakultät der Universität Graz. Walter hat zahlreiche Aufsätze und Bücher über die Musikgeschichte des Mittelalters, die klassische Instrumentalmusik, Richard Strauss, das Musikleben im „Dritten Reich“ und vor allem zur Operngeschichte veröffentlicht. Seine Monographie Hitler in der Oper ist mittlerweile ein ebenso vielzitiertes Standardwerk wie seine Richard- Strauss-Biographie. 2016 ist von Walter die Monographie Oper. Geschichte einer Institution erschienen. Das Buch wurde nicht nur in den führenden deutschsprachigen Tageszeitungen hoch gelobt, sondern auch von der Zeit- schrift Opernwelt als “Buch des Jahres” ausgezeichnet.