Die Emotion in der Stimme
Als an der Wiener Staatsoper im September 2020 die aktuelle Produktion von Puccinis Madama Butterfly ihre Premiere feierte, war der Fokus zunächst vor allem auf die Sängerin der Titelpartie, Asmik Grigorian gerichtet – sie gab damals ihr triumphales Debüt am Haus. Aber auch der Interpret des Pinkerton war für das Wiener Publikum ein neues Gesicht, eine neue Stimme: Freddie De Tommaso, ein damals nahezu noch unbeschriebenes Blatt im internationalen Opernbetrieb, ein 27 Jahre junger britisch-italienischer Tenor, der bis dahin vorwiegend in kleineren Rollen in London, München und Amsterdam aufgetreten war. Freilich, einige erste Preise, unter anderem beim Operalia-Wettbewerb oder seine erfolgreiche Mitwirkung bei der Young Singers Academy der Salzburger Festspiele ließen schon ahnen, dass da eine wichtige zukünftige Persönlichkeit heranreifte. Die Entscheidung, Freddie De Tommaso in Wien gleich bei der besagten Butterfly-Premiere einzusetzen, erwies sich jedenfalls im Nachhinein als goldrichtig. Mit seiner großen, in allen Lagen gut geführten und wunderschön timbrierten »italienischen Stimme« erwies er sich als Glücksgriff. Publikum und Presse waren sich über die herausragenden Qualitäten des »Neuankömmlings« einig und feierten ihn gebührend. Entsprechend ging es dann weiter. Neben weiteren Auftritten an der Wiener Staatsoper mit den Verdi-Partien Ismaele, Macduff und Cassio, als Don José in Carmen und als Luxus-Besetzung des Sängers im Rosenkavalier startete Freddie De Tommaso auch weltweit durch: Sein aufsehenerregendes Einspringen als jüngster Cavaradossi in der Geschichte des Royal Opera House in London sicherten ihm ebenso jede Aufmerksamkeit wie seine Auftritte an der Arena di Verona, der Mailänder Scala, an der Berliner und Bayerischen Staatsoper, in Santa Fe, am Fenice in Venedig, am Bolschoi oder der Semperoper. Allein mit dem Rodolfo in der Bohème, den er nun auch in Wien geben wird, reüssierte er zuletzt in London und an der Scala – somit hat er mittlerweile mit allen drei Tenorpartien der großen Puccini-Trias Butterfly-Bohème-Tosca brilliert.
Aufgewachsen mit der CD-Sammlung seines Vaters, der rund um die Uhr und mit größtem Enthusiasmus italienische Opernmusik hörte, hatte Freddie De Tommaso dieses Repertoire gewissermaßen mit der Muttermilch aufgesogen. Rodolfos Arie »Che gelida manina«, gesungen von Luciano Pavarotti beispielsweise, kannte er schon auswendig, ehe er lesen und schreiben konnte.
Die hohe musikalische Emotionalität, die Freddie De Tommaso wohl von seinem Vater geerbt hat, zeigt sich bei ihm in jeder Phrase, jeder Nuance. Kein Wunder, dass er auch ein großer Verfechter der bei Puccini so wichtigen Rubati und Portamenti ist. »Nicht nur passend zur jeweiligen Gefühlswelt eines Charakters oder der Szene, sondern auch zur Atmosphäre, der speziellen Situation der gerade über die Bühne gehenden Vorstellung sollten diese, flexibel eingesetzt, ihre Verwendung finden«, so der Tenor. Kein starres, von Vornherein einstudiertes Konzept also, sondern ein lebendiges, von Vorstellung zu Vorstellung variierendes musikalisches Mittel. Das wiederum zeigt den Zugang De Tommasos zur Oper an sich: Niemals eine Zugeständnis an die Musikfabrik, sondern eine allabendliche intensive Auseinandersetzung mit dem Werk in Zwiesprache mit dem Publikum. Schon aus diesem Grund schätzt er – im Gegensatz zu so manchem Kollegen – auch eine tiefgehende Probenarbeit als kreative Vorbereitung für die Vorstellungen. Zugleich hat er sich, ebenfalls im Gegensatz zu anderen seiner Branche, das Herz des Zuschauers bewahrt. Will heißen: Obwohl er allein die Bohème sicher an die zwei Dutzend Mal selbst gesungen hat, kann er sich, im Publikum sitzend, nach wie vor von Mimìs »Sono andati« oder ihrer Arie im dritten Akt zu Tränen rühren lassen. Seine Lieblingsstelle als Mitwirkender ist hingegen das Quartett im dritten Akt – für Rodolfo einer der dramatischsten Passagen im Stück, in der die Stimme des Tenors wunderschön zur Entfaltung gelangt.
Die Figur des Rodolfo an sich versteht Freddie De Tommaso als einen selbstbewussten jungen Mann, der beim ersten Zusammentreffen mit seiner späteren Geliebten durchaus beeindrucken möchte. Das erklärt für De Tommaso auch, warum Rodolfo schon nach wenigen Minuten eine Liebeserklärung abgibt oder sich zumindest traut, seiner Hoffnung auf eine große Liebe Ausdruck zu verleihen. Anders als die schüchterne Mimì, die in ihrer Antwort-Arie zwar ein schönes Bild ihrer selbst zeichnet, aber trotz der aufwallenden Gefühle auf jede Andeutung derselben verzichtet.
Die diesjährigen Auftritte De Tommasos an der Wiener Staatsoper beschränken sich übrigens nicht auf die Bohème-Serie im November/Dezember. Schon im April wird es ein Wiedersehen und Wiederhören geben –
mit seinem weltweiten Rollendebüt als Gabriele Adorno in Verdis Simon Boccanegra.
GIACOMO PUCCINI
LA BOHÈME
25. 28. NOVEMBER 2. 5. 8. DEZEMBER 2023
Musikalische Leitung MARCO ARMILIATO
Inszenierung & Bühne FRANCO ZEFFIRELLI
Kostüme MARCEL ESCOFFIER
Rodolfo FREDDIE DE TOMMASO
Mimì ROBERTA MANTEGNA
Marcello LEONARDO NEIVA
Schaunard MICHAEL ARIVONY
Colline GÜNTHER GROISSBÖCK
Musetta MARIA NAZAROVA