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© Peter Mayr

Die Bekenntnisse der Fiordiligi

Das mit der Verkleidung war total unglaubwürdig. Okay, damals vor zwanzig Jahren waren wir jung, meine Schwester Dorabella 18, ich 17. Aber so leichtgläubig, den eigenen Lover zu verkennen, kann niemand sein. Zugegeben, kurz ließen wir uns von dem orientalischen Aufzug mit den Klebebärten täuschen. Bis mir Dorabella zuzwinkerte. Ich kapierte gleich. Ich verstand auch sofort, wieso wir das Theater, das unsere Verlobten da hinlegten, nicht durch unpassende Enttarnung stören durften. Es war toll, was mein Guglielmo und ihr Ferrando für uns auf die Beine stellten! Sie hatten sich als Aristokraten aus Albanien verkleidet, und bald begriffen wir, wieso – um unsere Treue auf die Probe zu stellen.
Wir waren altersadäquat in unsere Boys verliebt. Dass sie für uns sogar eine Verschickung in den Krieg inszeniert hatten, das war aufregend, herzallerliebst. Wir mussten unbedingt herausfinden, wie weit sie gehen würden. Die beiden begannen sogar zu singen! Ich hatte immer gedacht, Guglielmo hätte keine Stimme, plötzlich sang er Arien. Wir stimmten in ihren Song-Contest ein. »Nur der Balsam der Liebe kann die Wunden heilen« – diese Poesie! Denke ich heute daran, zwanzig Jahre später, wundert mich, welch originelle Metaphern die Jungen aus dem Hut zauberten. Sie verwiesen auf ihre schönen Augen, schönen Füße, ja, sogar auf ihre schönen Schnurrbärte! Unverkleidet hatten sich Ferrando und Guglielmo nie mit schöpferischen Ideen hervorgetan. Es fühlte sich an, als würde man sich ein zweites Mal verlieben. Es war fast wie in der Oper.
Sofort fiel mir auf, wie anziehend Dorabellas Ferrando war. Mich überkam ein geheimes, verbotenes Gefühl: Was, wenn ich nicht an Guglielmo gebunden wäre? In einer anderen Welt, in jener des Karnevals, hätte ich die Möglichkeit, dem Schwager nahe zu kommen. Das müsste nicht heißen, ihn Dorabella wegzunehmen, im Gegenteil, ich liebte ja meinen Guglielmo. Doch den konnte ich ihr in diesem Augenblick leicht überlassen. Von Zeit zu Zeit wäre es so reizvoll, einen hübschen Blonden zu küssen!
Eine intelligente Kammerzofe ist immer von Vorteil, das weiß jeder. Ohne Despinas Überzeugungskraft wären wir nie so weit gegangen. Sie beschrieb uns, wie man Männer verliebt macht. Man könne, ja, müsse geradezu täuschen, lügen, sich verstellen. Wir waren schnell auf halbem Wege. Ich schwöre, wir tranken keinen Alkohol, oder nur äußerst wenig. Unsere Enthemmtheit speiste sich aus dem entzückenden Verhalten der Verlobten. Sie waren viel witziger als sonst! Aus Liebe zu uns schluckten sie sogar Arsen und brachen zusammen! So trieben wir vier das Spiel bis an die Grenzen. Zum Schein zierte ich mich etwas länger als meine Schwester, fiel schließlich doch, bis wir einwilligten, die sogenannten Albaner zu ehelichen. Der Reiz daran war, ich erhielt diesen anderen, sonst unerreichbaren Boy. Nur, wie würden wir rauskommen aus dem Schlamassel? Das Problem lag auf der Hand: Bist du einmal untreu, wirst du die Untreue, frei nach Despina, immer wieder anstreben. Der alte Alfonso, unser ewiger Zaungast, trällerte uns sogar ins Ohr, dass das ohnehin alle Erwachsenen so handhaben.
Als die Boys ihre Verkleidung auffliegen ließen, mussten Dorabella und ich uns zerknirscht zeigen. Tatsächlich waren wir das auch, nur aus anderen Gründen. Hatten wir am Ende den falschen Partner gewählt? Könnten wir beide künftig nicht beide haben? Doch wer hatte je von einer Ehe zu viert gehört? Der Ausgang war bitter, wir mussten Abbitte leisten und so tun, als würden wir ausschließlich unseren Ursprungspartner lieben. Wir taten so, als hätten sie uns eindrucksvoll hereingelegt – ab jetzt war das unsere Verkleidung. Ferrando und Guglielmo verziehen uns, dafür hatte der alte Alfonso gesorgt, sichtlich der Regisseur dieser Männerwette. Von da an lag die faulige Saat in der Erde.
Dass Ehen nach Vertrauensbrüchen erschüttert sind, versteht sich von selbst. Du solltest dich mit 17 oder 18 überhaupt nicht binden, denke ich inzwischen. Jedoch wie Kälber heirateten wir und bezogen zwei nebeneinander liegende Palazzi. Ich verfiel in depressive Verstimmung. Ferrando war so nahe und trotzdem unerreichbar. Als ich herausfand, dass sich Dorabella im Geheimen regelmäßig mit Guglielmo traf, war ich ehrlich gesagt weniger schockiert als erleichtert. Als ältere Schwester hatte sie wohl vorangehen müssen. Ich sprach es direkt an. Sie leugnete keine Sekunde. Ich stellte ihr die Bedingung für die Fortsetzung ihrer Affäre – dass auch ich mit Ferrando verkehren durfte. Im Moment unserer Abmachung kamen wir uns grandios vor. In den kurzen Jahren danach, unserer besten Zeit, liebten wir neben dem eigenen den jeweils fremden Ehemann. Trotz der Erfahrungen mit uns und den »Albanern« gingen die Boys ja davon aus, dass nur sie ihrer Jeweiligen untreu waren – mit männertypischer Selbstbezogenheit und Naivität –, ihre Ehefrauen hingegen zwei Ausbünde an Treue. Irgendwann beschlossen wir, sie einzuweihen, ihnen mitzuteilen, dass wir alle die Seitensprünge praktizierten (Dorabella schlug sogar vor, von unseren Palazzi in eine WG in ein gentrifiziertes Szeneviertel zu ziehen!), dass wir sie guthießen und weiter betreiben wollten. Das löste die erste große Krise aus. Sie fanden es unromantisch! Unerwartet stark reagierte Ferrando. Er zog sich nicht nur von Dorabella, sondern auch von mir zurück. Das war schmerzhaft. Er begann eine Affäre mit Despina, von der ich persönlich fand, dass sie deutlich zu alt für ihn war. Er hielt es geheim, doch in Neapel erfährst du früher oder später alles. Mein Guglielmo war ebenfalls strikt gegen die Öffnung der Beziehung. Mich ließ er links liegen, mit Dorabella hatte er noch gelegentlich etwas. So war ich die Leidtragende der Offenlegung. In diesen Jahren verschliss ich mehrere Psychotherapeuten (»anaklitische Depression«). Unsere Männer, sagte ich meiner Schwester, sind zu konservativ für uns, und Neapels Therapeuten erst recht.
Es wird niemanden erstaunen, dass ich eines Tages im Bett des alten Alfonso landete, von dem ich persönlich fand, dass er deutlich zu alt für mich war. Manchmal betrachtete ich seine grauen, teilweise sogar weißen Schamhaare. Dass die ihm nicht peinlich waren! Nicht im Geringsten. Je älter Männer, desto schamloser. Er tat so, als wäre die Affäre mit einer jungen, schönen Frau normal für ihn, ja, irgendwie sogar sein Recht. Ein solches Selbstbewusstsein hätte ich gerne gehabt. Seine Erektionsfähigkeit ließ ein wenig zu wünschen übrig. Das hätte mich nicht gestört, hätte er nicht ununterbrochen von seinen früheren Qualitäten als Liebhaber erzählt. Die Aufzählung seiner prähistorischen Heldentaten in Neapel (und sogar in Rom!, immer erwähnte er Rom!) war unerträglich. Viel zu spät wandte ich mich von ihm ab, und zu meiner Befriedigung starb er bald darauf, ich schätze, an gebrochenem Herzen, falls er denn eines hatte.
Noch unerträglicher war Guglielmo. Ein oder zwei Mal jährlich, meist unter Alkohol, bequemte er sich denkbar interesselos zum Vollzug der Ehe. Was war nur aus meinem Boy geworden? Anders als Alfonso verweigerte er jedes intime Gespräch. Mir schien, er lehnte alles Körperliche ab, betrachtete Sexualität sozusagen als Fehlfunktion der Jugend. Ich wäre davon ausgegangen, dass er mit diesem Lebensbereich abgeschlossen hatte, hätte ich nicht eines Tages auf seinem Mobilgerät eine App namens Tinder aufblinken sehen. Ich zog Dorabella ins Vertrauen. Die bestätigte mir, dass Ferrando längst auf der gleichen Website unterwegs war. Verbitterte Boys mittleren Alters!
Die Jahre unserer zerrütteten Ehen schlichen dahin. Allerdings hatten wir beide halbwüchsige Kinder, und auch wenn diese von Bediensteten professionell betreut wurden und wir uns kaum an der Erziehung zu beteiligen brauchten, machte die Existenz eines Nachwuchses eine Trennung undenkbar. Wir wollten keinen Skandal. Solange wir lediglich Affären hatten, war das in Neapel in Ordnung, bei einer Auflösung der Ehen hätte uns die halbe Gesellschaft geächtet. Das fürchtete mein Analytiker auch, der sich im Übrigen standhaft weigerte, auf meine Avancen einzugehen. Er meinte, ich »agiere destruktiv«. Auch so einer im mittleren Alter. Alle die gleichen Biester! Der Elende empfahl mir sogar, in den Stürmen der Welt meine Ruhe zu finden und die Vernunft als Führerin zu nehmen!
Schließlich zog Guglielmo, ganz wie Ferrando, tatsächlich in den Krieg, sogar mehrfach für Monate. Keiner der beiden starb darin, obwohl Ferrando einen Arm verlor. Während einer ihrer Abwesenheiten wurde mir zugetragen, Dorabella sei einen Schritt weitergegangen. Sie traf sich heimlich mit Despina. Das löste die zweite große Krise aus. Ich persönlich fand, dass Despina zu alt für sie war. Ich spielte die moralisch Entrüstete, gestand mir meine Eifersucht die längste Zeit nicht ein. Meine Versuche, die Schwester auffliegen zu lassen, scheiterten. Alle sagten mir, »Fiordiligi, sei nicht paranoid, Dorabella und Despina sind nur gute Freundinnen!« Hast du eine Affäre mit einem Mann, weiß es morgen die halbe Stadt, triffst du hingegen regelmäßig eine Frau, tun im reaktionären Neapel alle so, als würde dieses Phänomen gar nicht existieren.
Bist du verknallt? Wie damals in Ferrando oder Guglielmo?, fragte ich Dorabella. »Ferrando, Guglielmo, Alfonso«, brauste sie auf, »lass mich in Ruhe mit diesen Namen!« Und deshalb nimmst du Despina?, bohrte ich weiter. »Zumindest hat die noch zwei Arme«, antwortete meine Schwester leise, »kannst du dich an diese letzte, bescheuerte Arie mit Alfonso erinnern? Umarmt euch, seid vernünftig – lachen werdet ihr dann künftig. Findest du, wir hatten in diesen zwanzig Jahren viel zum Lachen?« Ihre ungeschickte Ausflucht zeigte mir, wie sehr sie in Despina verliebt war. Werdet ihr heiraten?, fragte ich. Dorabella sah mich seufzend an: »Sobald in Neapel die gleichgeschlechtliche Ehe eingeführt wird!« Ich erinnerte sie an einen weiteren Satz des Alten: »Was andere weinen macht«, das solle »Grund zum Lachen« sein. Ursprünglich hatten wir dermaßen gelacht. Wann war es uns nur vergangen?