Die Ausdruckskraft des Theaters

In den letzten zehn Jahren entwickelte sich Tomasz Konieczny zu einer unverzichtbaren Größe in der internationalen Opernszene. Ob Wien, Mailand, Dresden, München, Paris, Salzburg – die großen Bühnen wetteifern förmlich miteinander um den aus Polen stammenden Bassbariton, der mit gesanglich wie schauspielerisch facettenreichen, in den Bann schlagenden Interpretationen zu begeistern versteht. Mit Andreas Láng sprach er anlässlich seiner Rückkehr als düster-rachsüchtiger Sheriff Jack Rance unter anderem über die kreative Rollenanalyse, die Möglichkeit von Bühnenfiguren zu lernen und über die Entwicklungsmöglichkeiten von Bühnenfiguren.

Manche nennen es Bühnenverdrängung, andere Charisma, wieder andere Ausdruckskraft – wie auch immer man es nun bezeichnen möchte: Sie besitzen viel davon. Handelt es sich dabei um ein angeborenes Talent oder ist es erwerbbar?

Tomasz Konieczny: Ich glaube, das Schlüsselwort in diesem Zusammenhang heißt: Sehnsucht. Sehnsucht nach jenem Ausdruck, der die empathisch empfundene Atmosphäre einer Bühnensituation, also das Gedachte, das Gefühlte, das zu Erzählende zusammenfasst und mittels der Vereinigung der Einzelaspekte Musik und Schauspiel wiedergibt. Ich war ja schon als Kind vom Theater geprägt und habe immer davon geträumt einst auf der Bühne stehen zu dürfen – nicht umsonst absolvierte ich ja später ein Schauspielstudium. Doch bald merkte ich, dass die rein schauspielerischen Mittel nicht ausreichen, um all das auszudrücken, was ich transportieren möchte. Ein Aha-Erlebnis löste schließlich die Lektüre von Fjodor Schaljapins Biografie bei mir aus, denn ich erkannte – ohne mich mit ihm vergleichen zu wollen – in ihm einen Seelenverwandten. Jemanden, der ebenfalls von der Ausdruckskraft der Bühne begeistert zunächst das Sprechtheater ansteuerte, dann aber in der Dimension der Musik eine zusätzliche Präzisierung und Fokussierung erkannte und daher schlussendlich bei der Operlandete. Ich weiß nicht, ob ich tatsächlich viel davon besitze, was Sie als Charisma bezeichnen, aber sicher ist, dass es mir immer darum geht, diese Sehnsucht nach dem treffenden Ausdruck zu stillen. Und dies geschieht zunächst durch eine ausführliche Analyse: Was soll die Geschichte erzählen? Was wollte der Komponist? Welche musikalischen Mittel hat er gebraucht und weshalb? Warum entscheidet sich eine Bühnenfigur so und nicht anders? Die Erkenntnisse, die ich bei dieser Analyse gewonnen habe sind dann die Basis für die Realisierung auf der Bühne.

Aber ist es nicht so, dass bereits Kinder, die ein Instrument erlernen, ganz automatisch und ohne Analyse das musikalisch Wesentliche einer Stelle erfassen?

Tomasz Konieczny: Das stimmt zwar, doch das Erfassen ist eine Sache, und die Fähigkeit dieses Erfasste sicher auf der Bühne als Ereignis umzusetzen und das Publikum zu erreichen, eine andere. Es geht um einen Prozess, an dessen Anfang dieses Erfassen, oder nennen wir es besser Empfinden, steht, dem aber eine kreative Analyse und schließlich eine musikalisch- dramatische Synthese aus beiden Schritten folgen muss. Bei guten Komponisten sind diese zwei Ebenen als Ursache-Wirkung-Prinzip übrigens immer vorhanden.

Ein böser Charakter ist wohl leichter umzusetzen, oder zumindest interessanter für den Darsteller, als eine lichte, positive Gestalt?

Tomasz Konieczny: Das möchte ich so nicht sagen. Ausschlaggebend ob sich eine Figur leicht oder schwer umzusetzen lässt ist nicht die Charaktereigenschaft, sondern ihre Perspektive, ihre Entwicklungsmöglichkeit. Nur ein Beispiel: Beethovens Don Pizarro stellt, obwohl eindeutig böse, insofern ein Problem dar, als sein Charakter feststeht und im gesamten Stück keinerlei Wandel unterworfen ist, er sich nirgendwohin entwickelt. Pizarro hat Pech, weil der Minister kommt und seinen Machenschaften ein Ende bereitet, aber an seinen Eigenschaften ändert dieser Umstand nichts. Pizarro weist somit eine charakterliche Null-Linie ohne jegliche Schwankung ins Positive oder noch Negativere auf. Ganz anders Wagners Wotan: der Wanderer am Ende von Siegfried und der Wotan vom Beginn des Rheingolds – das sind nahezu zwei unterschiedliche Menschen, hier bietet sich daher ein wunderbares Betätigungsfeld für einen Singschauspieler. Ähnlich die Situation beim Alberich, der sich vom jungen,kräftigen, ambitionierten Mann zu einer verbitterten und sehnsüchtig hassenden Kreatur entwickelt.

Jack Rance in der Fanciulla ist am Anfang böse, während der gesamten Handlung böse und am Ende böse, wo liegt bei ihm die Entwicklung?

Tomasz Konieczny: Zunächst ist er ja auch ein Liebender. Er ist verliebt in Minnie und ist bereit alles für sie zu opfern – sogar sein größtes Lebenselixier: das Geld. Doch Minnie lehnt ihn ab, was Rance zunächst ungemein einschüchtert und dann ein Gefühl der Rache in ihm aufkommen lässt, ein Gefühl, das er dann im Gewand der gerechten Strafe dem Tenor gegenüber ausleben kann. Er sieht sich als gerechten Richter, der außerdem eine merkwürdige Karriere durchlebt: im dritten Akt scheint es mit einem Mal, als ob ihn, den gefürchteten Außenseiter, alle mögen und lieben würden. Seiner Euphorie, als er den Gegner gefesselt vor sich sieht folgt das Fall ins absolute Nichts, als Minnie die Meinung der Gesellschaft umdreht und der verhasste Nebenbuhler mit ihr davonziehen darf. In meiner Interpretation bleibt für Jack Rance am Ende daher nur mehr der Selbstmord. Kurzum: Rance ist nicht aus Prinzip bösartig, sondern ein an der Macht interessierter, in seinem Ego gekränkter, zurückgewiesener Liebhaber, der immer weiter in die Dunkelheit stürzt. Ich finde schon, dass hier eine spannende Entwicklung stattfindet.

Und wie sieht es bei komischen Rollen aus? Sie haben bei uns beispielsweise einen fabelhaften Melitone gesungen – wie weit sind in diesem

Fach Charakter-Entwicklungen auszumachen?

Tomasz Konieczny: Doch, ein Osmin, den ich übrigens sehr gerne gesungen habe, macht ebenfalls eine innere Wandlung durch, großen Spaß hatte ich auch mit dem Selim in Turco in Italia, oder denken Sie an einen Falstaff, ja selbst Alberich mit seinen ungeschickten Freiers-Versuchen am Beginn des Rings, hat etwas Komisches an sich. Wichtig ist nur, dass man die Komödie genauso ernsthaft angeht, so ernst nimmt wie die Tragödien.

Sie beeindrucken immer wieder mit einer breiten Palette an Stimmfarben, an Stimmnuancen. Sind auch diese ein Ergebnis Ihrer Stück- und Rollenanalysen?

Tomasz Konieczny: Man entwickelt im Laufe der Karriere immer neue stimmliche Ausdrucksmittel, die man dann immer bewusster einsetzt. Es ist also einerseits eine Frage der Erfahrung und andererseits natürlich ein Teil des kreativ-analytischen Prozesses. Im Übrigen würde ich jungen Menschen raten, das Rollendstudium nicht mit einem Interpretationsansatz zu verbinden, nicht von Vornherein Stimmfarben und Ähnliches festzulegen, weil man sich dadurch selbst sehr eingrenzt. Wenn ich heute eine neue Rolle lerne, dann achte ich darauf, dass die Form stimmt, die Töne, die Melodien – ich lerne quasi das Ganze wie eine Tonleiter und bewusst ohne Inspiration. Wenn aber die Rolle einmal technisch sitzt, habe ich unzählige Möglichkeiten, sie zu interpretieren – gewissermaßen ein flexibles Material, das in viele Richtungen formbar ist.

Deshalb ist es wahrscheinlich auch gefährlich während des Rollenstudiums andere Kollegen in ebendieser Partie anzuhören?

Tomasz Konieczny: So ist es. Jemanden nachzuahmen, ist grundsätzlich äußerst gefährlich. Ich höre mir andere Kollegen in der Regel erst dann an, wenn ich mit dem Rollenstudium fertig bin, bis dahin beschäftige ich mich ausschließlich mit den Noten!

Inwieweit kann man von den Bühnenfiguren die man darstellt etwas lernen?

Tomasz Konieczny: Es gibt einen bekannten Ausspruch, der besagt, dass ein erfahrener Schauspieler keine Sünden mehr begeht, weil er die Konsequenzen schon als Macbeth oder KönigLear oder wie diese dunklen Gestalten sonst immer heißen mögen, durchlebt hat. Wir sprechen gerne von guten und bösen Menschen. Ich denke, dass es diese zwei Kategorien gar nicht gibt, da jeder einzelne beides in sich trägt. Von Bedeutung sind nur die Entscheidungen die man von Moment zu Moment trifft und diesbezüglich kann man sehr viel von den Bühnenfiguren lernen: Was sind die Gründe, dass einer auf die dunkle Seite kommt, oder umgekehrt, dass einer den richtigen Weg einschlägt? Wodurch geschieht dies, was macht einer falsch und weshalb? Viele sagen, Wotan ist sympathisch, aber in Wahrheit ist er ein feiger Lügner und Räuber ohne Gewissen. Im Vergleich zu ihm ist Alberich in Wahrheit viel aufrechter. Aber wir finden Wotan trotzdem sympathischer. Warum? Weil er uns in seiner Ambivalenz gleicht.

Glauben Sie, dass Oper etwas an der Welt verändern, gar verbessern kann?

Tomasz Konieczny: Absolut. Die Oper ist wie das antike griechische Theater, es kann uns durch Katharsis besser machen. Auch ein Popkonzert ist etwas, was viele Menschen brauchen, aber es wird keine Katharsis erzeugen, sondern das dionysische Prinzip befriedigen. Die Oper hingegen trifft die Menschen ins Herz, sodass man eine Vorstellung im Idealfall sauberer und reiner verlässt, als man ein paar Stunden vorher gewesen ist. Und gerade in einer Zeit, in der die Gesellschaft in vielerlei Hinsicht zu bedenklichen Ufern aufgebrochen ist, bedarf es humanistischer Korrekturen.

http://staatsoperblog.at/wp-content/uploads/2016/10/KONIECZNY_feature.jpg

Tomasz Konieczny als Jack Rance (c) Michael Poehn

Giacomo Puccini:

La fanciulla del West

27., 30. November 2016

3., 6., Dezember 2016